Table Of ContentZwischen Rechten und Pflichten – Kants Metaphysik der Sitten
Zwischen Rechten
und Pflichten – Kants
Metaphysik der Sitten
Herausgegeben von
Jean-Christophe Merle und Carola Freiin von Villiez
ISBN 978-3-11-053582-2
e-ISBN (PDF) 978-3-11-053721-5
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053591-4
Library of Congress Control Number: 2021938001
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Inhalt
Siglen VII
Jean-Christophe Merle / Carola Freiin von Villiez
Zur Gliederung der Metaphysik der Sitten 1
Carola Freiin von Villiez / Jean-Christophe Merle
Zum Konzept des Bandes 17
Kenneth R. Westphal
Aufklärung, Vernunft und Universalismus 31
Dietmar von der Pfordten
Zum Rechtsbegriff in Kants Rechts- und Tugendlehre 57
Alessandro Pinzani
Wie kann äußere Freiheit ein angeborenes Recht sein? 79
Jean-Christophe Merle
Das „zweideutige Recht“ („Anhang zur Einleitung in der Rechtslehre“) 95
David James
Unabhängigkeit und Eigentum in Kants Rechtslehre 105
Matthias Kaufmann
Muss Besitz erlaubt werden? Kant und die Naturrechtstradition 129
Ulli F. H. Rühl
Kants Privatrecht. Drittes Hauptstück §§36–40 155
Robert Louden
Wasist das Besondere an legalisiertem Sex? (Oder, wie kann doppeltes
Unrecht Recht ergeben?) 167
Carola Freiin von Villiez
Staatliche Souveränität und Selbstbestimmung der Völker bei Kant und im
Völkerrecht 183
VI Inhalt
Günter Zöller
„Wahre Republik“: Kants legalistischer Republikanismus im historischen und
systematischen Kontext 201
Jean-Christophe Merle
Von den Tugendpflichten gegen Andere: Liebe, Achtung und
Freundschaft 223
Alessandro Pinzani
Innere und äußere Pflichten, innere und äußere Handlungen: Das schwierige
Verhältnis von Rechts- und Tugendpflichten in der Metaphysikder
Sitten 247
Christel Fricke
Kants moralische Begründung der Rechtspflichten und
das Immanuel-Kant-Problem 263
Ulli F. H. Rühl
Methodenlehre und kasuistische Fragen in Kants Rechts- und
Tugendlehre 285
Andrea Marlen Esser
Kants Verbot der Lüge in der Metaphysikder Sitten: Irrweg eines
„Moralpathologen“ oder konsequentes moralphilosophisches
Denken? 299
Patrick Kain
Pflichten in Ansehung der Tiere 319
Susan Meld Shell
Kants moralische Amphibolie und die Beziehung zwischen Ethik und
Religion 331
Thomas Mertens
Kant und die Zwecke des Lebens 349
Literaturverzeichnis 369
Hinweise zu den Autoren 385
Personenregister 387
Siglen
Anth AnthropologieinpragmatischerHinsicht(AA07)
BBM BestimmungdesBegriffseinerMenschenrace(AA08)
BGSE BemerkungenzudenBeobachtungenüberdasGefühldesSchönenundEr-
habenen(AA20)
Br Briefe(AA10–13)
DfS DiefalscheSpitzfindigkeitderviersyllogistischenFigurenerwiesen
(AA02)
GMS GrundlegungzurMetaphysikderSitten(AA04)
GSE BemerkungenzudenBeobachtungenüberdasGefühldesSchönenundEr-
habenen(AA20)
HN HandschriftlicherNachlass(AA14–23)
KpV KritikderpraktischenVernunft(AA05)
KrV KritikderreinenVernunft(nachPaginierungderA-bzw.derB-Ausgabe)
KU KritikderUrteilskraft(AA05)
Log Logik(AA09)
MAM MuthmaßlicherAnfangderMenschengeschichte(AA08)
MAN MetaphysischeAnfangsgründederNaturwissenschaften(AA04)
Refl Reflexionen(AA14–19)
RGV DieReligioninnerhalbderGrenzenderbloßenVernunft(AA06)
RL DieMetaphysikderSitten.ErsterTheil:MetaphysischeAnfangsgründeder
Rechtslehre(AA06)
TL DieMetaphysikderSitten.ZweiterTheil:MetaphysischeAnfangsgründe
derTugendlehre(AA06)
TP ÜberdenGemeinspruch:DasmaginderTheorierichtigsein,taugtaber
nichtfürdiePraxis(AA08)
UD UntersuchungüberdieDeutlichkeitderGrundsätzedernatürlichenTheolo-
gieundderMoral(AA02)
ÜGTP ÜberdenGebrauchteleologischerPrincipieninderPhilosophie(AA08)
VARL VorarbeitzurRechtslehre(AA23)
VATL VorarbeitzurTugendlehre(AA23)
V-Eth/Baumgarten BaumgartenEthicaPhilosophica(AA27)
V-Met/Arnoldt MetaphysikArnoldt(K3)(AA29)
V-Met/Dohna KantMetaphysikDohna(AA28)
V-Mo/Collins MoralphilosophieCollins(AA27)
V-Mo/Mron MoralMrongoviusII(AA29)
V-Met/Herder MetaphysikHerder(AA28)
V-Met/Heinze KantMetaphysikL1(Heinze)(AA28)
V-Met/Volckmann MetaphysikVolckmann(AA28)
V-Met-L1/Pölitz MetaphysikL1(Pölitz)(AA28)
V-Met-L2/Pölitz KantMetaphysikL2(Pölitz,Original)(AA28)
V-Met-N/Herder NachträgeMetaphysikHerder(AA28)
V-MP/Vigil DieMetaphysikderSittenVigilantius(AA27)
https://doi.org/10.1515/9783110537215001
VIII Siglen
V-NR/Feyerabend NaturrechtFeyerabend(AA27)
VPG-Hesse VorlesungenüberPhysischeGeographie(AA26)
VRML ÜbereinvermeintesRechtausMenschenliebezulügen(AA08)
VvRM VondenverschiedenenRacenderMenschen(AA02)
WA BeantwortungderFrage:WasistAufklärung?(AA08)
WDO WasheißtsichimDenkenorientiren?(AA08)
ZeF ZumewigenFrieden(AA08)
Jean-Christophe Merle / Carola Freiin von Villiez
Zur Gliederung der Metaphysik der Sitten
InseinerMetaphysikderSittenfasstKantdie„Metaphysische[n]Anfangsgründe
der Rechtslehre“ (hiernach RL) und die „Metaphysische[n] Anfangsgründe der
Tugendlehre“(hiernachTL)untereinemgemeinsamenTitelzusammen.Derda-
mit suggerierte systematische Zusammenhang zwischen beiden Teilen der Me-
taphysikderSittenwirdvonihmallerdingsweitwenigerdeutlichhervorgehoben,
als dieswünschenswert wäre.So verdecken die Einteilungen,die Kant in deren
Einleitungen liefert, diese Einheit tatsächlich mehr, als sie zu betonen oder zu
erläutern.DieBeiträgezumvorliegendenAufsatzbandsindjenseitsdervielfälti-
gen Einzelbestimmungen der Metaphysik der Sitten, die sie jeweils vornehmen,
daher durch das Anliegenvereint, anhand der einzelnen Teile und Aspekte der
MetaphysikderSittendieentscheidendeEinheitdiesesWerkesalsGanzessowie
den inneren Zusammenhang zwischen ihren beiden Textteilen im Einzelnen zu
beleuchten.ImFolgendenmöchtenwirsieimAllgemeinenskizzieren.
1 Die Gliederung der Metaphysik der Sitten
Den Begriff „Sitten“ verwendet Kant zur Kennzeichnung von Handlungsver-
bindlichkeit(en).DieSittenbezeichnenalso,wiegehandeltwerdensoll,d.h.die
Pflichtbzw.diePflichten.DieAllgemeingültigkeit,diedenKerndesBegriffsdes
Sollensausmacht,kannnurausderVernunftundderenFreiheitstammen,d.h.
ausdemApriorialsdemGegenstandderMetaphysik.DieMetaphysikderSittenist
dermetaphysischeTeilderSittenlehre.
InderVorredederMetaphysikderSittenbeginntKantmitderenGliederung,
ohnedenZusammenhangzwischenihreneinzelnenTeilenanzusprechen:
AufdieKritikderpraktischenVernunftsolltedasSystem,dieMetaphysikderSitten,folgen,
welchesinmetaphysischeAnfangsgründederRechtslehreundinebensolchefürdieTu
gendlehrezerfällt(alseinGegenstückderschongeliefertenmetaphysischenAnfangsgründe
derNaturwissenschaft),wozudiehierfolgendeEinleitungdieFormdesSystemsinbeiden
vorstelligundzumTeilanschaulichmacht(RL,AA6:205).
GleichnachdiesenZeilenfolgteineDarstellungalleinderRL:
DieRechtslehrealsderersteTeilderSittenlehreistnundas,wovoneinausderVernunft
hervorgehendes System verlangt wird, welches man die Metaphysik des Rechts nennen
könnte(RL,AA6:205).
https://doi.org/10.1515/9783110537215002
2 Jean-ChristopheMerle/CarolaFreiinvonVilliez
Erst am Ende der Vorrede wird die TL lapidar wieder erwähnt: „Die metaphysi-
schenAnfangsgründederTugendlehrehoffeichinKurzemliefernzukönnen“(RL,
AA6:209).
Wasistdenndannaber„dieFormdesSystemsinbeiden“,d.h.inderRLund
inderTL?
MitderEinteilungkannnichtdiebereitsausanderenWerkenKants–seitder
Kritik der reinen Vernunft – bekannte Einteilung in Elementarlehre und Metho-
denlehregemeintsein,diesichzwarinderTL,jedochnichtinderRLfindenlässt.
Die „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ und die „Einleitung in die
Rechtslehre“ enthalten zudem Elemente, die eher verwirren als dass sie dabei
helfenwürden,dieEinheitderMetaphysikderSittenzuerfassen.
Beispielsweise enthält die „Einleitung in die Rechtslehre“ – wohlgemerkt
nichtdie„EinleitungindieMetaphysikderSitten“–eine graphische„Einteilung
nach demobjektivenVerhältnis desGesetzeszur Pflicht“(RL,AA6:240) (siehe
Abbildung1).
VollkommenePflicht
1.
P 2.
flichtgegen iDnausnRseecrhetrdeiegreMneennsPcehrhseoint ((TRPuefgcliehcnhtsdt--)) DasRechtderMenschen Pflichtgege
sichse DerZweckde3r.Menschheit DerZweckd4e.rMenschen nande
lb inunsererPerson re
s
t
UnvollkommenePflicht
Abbildung1: „EinteilungnachdemobjektivenVerhältnisdesGesetzeszurPflicht“(RL,AA6:
240)
NachdieserEinteilungistdie„vollkommenePflicht“,dieeine„Pflichtgegen
sich selbst“ ist, „das Recht der Menschheit in unserereigenen Person“,und sie
gehört zur Rechtspflicht. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person
wurdevonKantkurzvorherimZusammenhangmiteinerderUlpianischenFor-
meln,d.h.miteinerPflichtinzweiPassagenerwähnt: