Table Of ContentStefan Hradil (Hrsg.)
Zwischen Bewußtsein und Sein
Schriftenreihe "Sozialstrukturanalyse"
Band!
Stefan Hradil (Hrsg.)
Zwischen Bewußtsein
und Sein
Die Vermittlung
"objektiver" Lebensbedingungen
und "subjektiver" Lebensweisen
+
Leske Budrich, Opladen 1992
ISBN 978-3-322-99583-4 ISBN 978-3-322-99582-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-99582-7
© 1992 by Leske+Budrich, Opladen
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Stefan Hradil
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9
Theoretische und begrimiche Analysen
Stefan Hradil
Alte Begriffe und neue Strukturen
Die Milieu-, Subkultur-und Lebensstilforschung der 80er Jahre. . .. 15
Hans-Peter Müller
Sozialstruktur und Lebensstile
Zur Neuorientierung der Sozialstrukturforschung . . . . . . . . . . . .. 57
Gerhard Schulze
Situationsmodi und Handlungsmodi
Konzepte zur Analyse des Wandels sozialer Ungleichheit. . . . . . .. 67
Hermann Schwengel
Aufrichtigkeit, Authentizität und Stil
Die Grenzen der feinen Unterschiede .• . . . . . . . . . . . . . . . . .. 81
Anton Sterbling
Strukturbildende Vergesellschaftungsvorgänge und der Wandel
sozialer Anerkennungsbedürfnisse ...................... 103
Lebensräwne
Hans Bertram
Regionale Disparitäten, soziale Lage und Lebensführungen ....... 123
Helmuth Berking und Sighard Neckel
Die gestörte Gemeinschaft
Machtprozesse und Konfliktpotentiale in einer ostdeutschen
Gemeinde ..................................... 151
Wolfg ang zum Felde und Monika Alisch
Zur Bedeutung des Raumes für Lebensbedingungen und
Lebensstile von Bewohnern innenstadtnaher Nachbarschaften
in Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Lebensbedingungen und Lebensweisen in der empirischen Forschung
Mathias Bös und Wolfg ang Glatzer
Trends subjektiven Wohlbefmdens ...................... 197
Michael Vester
Die Modemisierung der Sozialstruktur und der Wandel
von Mentalitäten
Zwischenergebnisse einer empirischen Untersuchung
in der westlichen Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Maria S. Rerrich und G. Günter Voß
Vexierbild soziale Ungleichheit
Die Bedeutung alltäglicher Lebensführung für die
Sozialstrukturanalyse .............................. 251
Claudia Ritter
Auf der Flucht vor Aids
Sozialstruktur und Bewältigungsstrategien ................. 267
Autorenverzeichnis ............................... 291
EINLEITUNG
Einleitung
Stefan Hradil
"Das Sein bestimmt das Bewußtsein", auf dieser Prämisse beruhte nahezu
die gesammte herkömmliche Sozialstruktur-und Ungleichheitsanalyse. Von
der marxistischen Klassentheorie bis hin zur funktionalistischen Schichtungs
theorie wurde unterstellt, daß "objektive" Lebensbedingungen "subjektive"
Lebensweisen prägen. Diese Erwartung der Abhängigkeit des "Subjektiven"
vom "Objektiven" ging in weitaus die meisten Theorien, Konzepte und Ope
rationalisierungen ein. So wurden, sieht man einmal von der Interaktions
Prestige-Schicht-Forschung der Nachkriegszeit und späteren Stigmatisie
rungs-und Vorurteilsuntersuchungen ab, bis in die 70er Jahre hinein andere
als psychologisch-deterministische Fragestellungen kaum untersucht. Deter
ministisch waren die Ansätze nicht nur, indem sie auf die "objektive" Öff
nung und Schließung "subjektiver" Möglichkeitsräume ausgerichtet waren.
Auch die inhaltliche Bestimmung des Denkens und Verhaltens erschien de
terminiert: "Arbeiterbewußtsein" , "Angestelltenmentalität" , "schichtspezifi
sche Sozialisation", "Proletariat", "Kleinbürgertum", "Bourgeoisie" - all
diese vertrauten Kategorien beruhen weitgehend auf "objektivierenden" So
zialstrukturkonzepten.
Schon in den 70er Jahren wuchs das Unbehagen hieran. Die Kritik kam
zuerst aus den Reihen der Praktiker. Lehrer, Wahlkämpfer, Marketing-Leu
te entdeckten in solchen Klassen-, Schicht-und Berufsrastern immer größere
Unzulänglichkeiten.
Gleichzeitig mehrten sich die Hinweise auf eine zunehmende Pluralisie
rung von Lebensweisen. Neue Milieus, neue Lebensstile und neue soziale
Bewegungen machten von sich reden. Alte Lebensweisen (z.B. regional und
religiös gebundene) reaktivierten sich. Bei allen Unterschieden war ihnen
gemeinsam, daß sie nicht ohne weiteres als Abbild der "Gußform" (H. Es
ser) moderner Industriegesellschaften gelten konnten. Gewachsener Wohl
stand, verlängerte Freizeit, kleinere Familien, abgeschwächte Alltagsnor
men, das dichtere Netz sozialer Sicherheit, mehr Mobilität, Kommunikation
und größere Freiheitsgrade wurden als Gründe der "subjektiven" Pluralisie
rung genannt. Grundsätzlicher hat man die Anzeichen sozio-kultureller und
alltagsweltlicher Ausdifferenzierung auch auf die nachlassende Prägekraft
der Industriegesellschaft, auf Zweifel am Modernisierungskonzept und auf
lebensweltliche Widerstände gegen das vordringende "System" zurückge
führt.
Ein wahrer Boom von Milieu- und Lebensstilstudien nahm sich in den
80er Jahren dieser Tendenzen an. Diese Untersuchungen waren überwiegend
10 Ste/an Hradil
beschreibend. Die Sozial forschung hatte zunächst alle Hände voll mit dem
Sortieren der Phänomene zu tun. Man versuchte, Gruppierungen mit ähnli
chen Werten, Einstellungen, Meinungen, Verhaltensweisen zu isolieren, ty
pologisch einzuordnen und/oder in ihren Besonderheiten exemplarisch zu er
forschen.
Bis weit in die 80er Jahre hinein blieben die zugrundeliegenden Theorien
meist im dunkeln, die Verwendung von Begriffen und Methoden geschah
weitgehend beliebig. Dies war die Zeit der "babylonischen Sprachverwir
rung" der Milieu- und Lebensstilforschung (K. M. Bolte). Trotzdem war
von Anfang an folgendes Konzept klar: Der sozio-kulturellen und "subjekti
ven" Seite der Sozialstruktur wurde wesentlich mehr Eigenständigkeit und
Eigenwert als in der konventionellen Sozialstrukturanalyse zugemessen. Die
Vermutung einer mindestens teilweisen Entkoppelung der "subjektiven" Le
bensweise von "objektiven" Lebensbedingungen ging in Hypothesen, Begrif
fe und Operationalisierungen ein. Daruberhinaus erwarben die beschriebenen
Lebensweisen oft den methodischen Status einer "intervenierenden" oder gar
"unabhängigen" (insofern "erklärenden", aber selten erklärten) Variablen
mit eigener Prägekraft für die Alltagspraxis: Konsumverhalten, Wahlverhal
ten, Jugendprotest und viele Verhaltensbereiche mehr wurden als "abhängig"
von der Milieu-und Lebensstilzugehörigkeit begriffen. Damit war eine Ge
genposition zur geltiufigen Sozialstrukturanalyse erreicht. In dieser Position
hat sich die Milieu-und Lebensstilforschung zunehmend etabliert. Dies zeigt
sich unter anderem in der wachsenden Einigkeit bei der Verwendung be
stimmter Grundbegriffe. So versteht man heute ganz überwiegend unter
- Lebensbedingungen: die äußeren Voraussetzungen alltäglichen Handelns
(Wohnbedingungen, Arbeitsbedingungen, Freizeitbedingungen, fmanziel
le Ressourcen, Bildungsressourcen, Prestige etc.).
- Lebensfonnen: die Struktur des unmittelbaren Zusammenlebens mit ande
ren Menschen (in einer Kernfamilie, als Single, in einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft usw.).
- Milieus: die gruppentypische und individuell prägende Art der Wahrneh
mung, Interpretation und Nutzung der jeweiligen äußeren Umwelt und
menschlichen Mitwelt (liberales Milieu, Gewerkschaftsmilieu, Stadtvier
telmilieu, etc.).
- Lebensstil: ein mehr oder minder freigewähltes, gesellschaftlich typi
sches Muster des Alltagsverhaltens, oft in äußerlich kenntlicher Abset
zung von anderen Stilen.
- Lebensjahrung: die typische Gestaltung des Alltags nach bestimmten
Werten und Normen, besonders im Hinblick auf den künftigen Lebens
weg (planend, situativ o.a.).
Einleitung 11
- Subkultur: ein gruppentypischeS' Syndrom von Werten und Normen, das
sich von dominierenden Kulturen deutlich, oft konflikthaft unterscheidet.
Als Sammelbegriff für Milieu, Lebensstil, Lebensführung und Subkultur
wird oft der Begriff Lebensweise verwendet.
Handlungstheoretisch lassen sich diese Begriffe als
Handlungsvoraussetzungen Lebensbedingungen
Lebensformen
Handlungssituationen Milieus
Handlungsziele Lebensführung
Subkultur
Handlungsausführung Lebensstile
einordnen. Auch theoretisch wurde so mit der Handlungstheorie eine Gegen
position zur gängigen strukturtheoretischen Basis der Sozial strukturanalyse
eingenommen. Freilich blieb diese Basis oft implizit.
Trotz oder gerade wegen der Etablierung der Milieu-und Lebensstilfor
schung in einer "subjektiven" und latent handlungstheoretischen Gegenposi
tion zur gängigerweise "objektiven" und strukturtheoretischen Sozialstruktur
analyse blieben viele Fragen offen. Im dunkeln blieb vor allem, ob, und
wennja, wie und in welcher Wirkungsrichtung "objektive" Lebensbedingun
gen und "subjektive" Lebensweisen heute in soziologisch verallgemeinerba
rer Weise in Verbindung stehen. Wo, mit welchen Mechanismen, wie kurz
oder langfristig prägen "objektive" Lebensbedingungen (Geld, Wohnung,
Arbeitsbedingungen, etc.) nach wie vor die Interessen, das Denken, das
Handeln der Menschen? Wo, wie, mit welcher Stetigkeit entscheiden "sub
jektive" Interpretationen, Wahlen oder Werte umgekehrt über eigene und
fremde Lebensbedingungen? Inwiefern entstehen hieraus Ungleichheiten,
wann bleibt es bei bloßen Unterschieden? Inwieweit ergibt sich neben oder
statt der materiellen und institutionellen eine "kulturelle Strukturierung der
Sozialstruktur" (A. Giddens)?
Bezeichnend für die neue Bedeutung dieser im Grunde alten Fragen ist
die Hochkonjunktur der wenigen hierzu vorliegenden aktuellen Theorien.
Besondere Prominenz erlangten dabei zwei einander nahezu entgegengesetz
te: die Habitustheorie Pierre Bourdieus und die Individualisierungsthese UI
rieh Becks. Beide haben die neuen Fragen nach der Vermittlung zwischen
dem "Objektiven" und dem "Subjektiven" in der Sozialstruktur aber allen
falls in Ansätzen beantwortet. Sehr viel mehr regten sie theoretische Refle
xion und weitere Fragen an.