»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch [...]«: Philologie als Rettung

60 Pages·2016·24.951 MB·German

by  Reuß, Roland

Der Essay v o n Roland Reuß folgt - a u f d en
Spuren Lessings u n d Jacob G r im m s u n d
ausgehend v o n z w e i Versen aus Hölderlins
» P a tm o s « - H y m n e - der Frage, w i e p h i l o ­
logische A k tio n e n als R ettu n gen gedacht
w erd en kön n en . Er u n tersch eid et dabei
zw ei verschiedene W eisen der rettenden
Intervention: eine, die als m essianische
Reintegration u n d le tz tlic h als Erlösung
gedacht w ird ; u n d eine zw eite, die d e n zu
rettenden U b e rlie fe ru n g szu sa m m e n h a n g
als ein en b egreift, der aus d e m fatalen
G eschichtsverlauf >herausgerissen< u n d
für die K o m m u n ik a tio n geö ffn et w e r ­
den m u ß , o h n e die G esich erth eit eines
G anzen voraussetzen z u können . In d ie se m
spezifischen Sinn des Herausreißens w ir d
das Buch als e in M e d iu m des rettenden,
dissentierenden Eingriffs verstanden. Es
w id ersteh t, sich der Verrechnung in d en
Z w an gszu sam m en h an g v o n >biß data< v e r­
w e ig ern d , d en m o d is c h e n Vorstellungen der
Integration v o n Schrift in Datenbanken u n d
antw ortet so d e m Im puls a u f Verwandlung,
d en die g ro ß e n d ichterisch en Texte der
Tradition a m Leben erhalten. Das Buch
vielleich t, keinesfalls aber die clou d , d e c k t
» d e n H im m e l der G esänge« ( H ö ld e r lin ) .
Roland Reuß · »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch [ ...] «

Roland Reuß
»Wo aber Gefahr i s t , w ä c h s t
Das R etten d e a u ch [ . · · ] «
P h ilo lo g ie als R ettung
Essay

Eins
H ölderlin s Verse aus d e m späten, in m e h rere n
h a n d sch riftlich e n E n tw ü rfen u n d e in e r R ein sch rift
ü b e rlie fe rte n G ed ich t »Patm os« sind n ic h t ein fach
e in m u tsp en d en d er Spruch, der gerade so - von
w o h e r auch? - b eh au p tete, U ntergang kön n e es
n ic h t geb en , w e il z u le tz t im m e r n o c h etw as e in -
griffe. Eine solche h a rm o n istisch e Lektüre ist b lin d
gegen ü b er d er V erlaufsform der p o e tisc h e n Rede -
e in e r Rede, die zu n äch st im Vers selbst sich k o r r i ­
g ie rt, >verbessert<, u n d dann im D urchgang d u rch
den A b gru n d d er Versgrenze sogar d en Bezug des
z w e ite n Verbums w e c h se lt.
M an m u ß h ie r sehr genau h in seh en . Innerhalb
des Verses w ir d in e in e m ersten Schritt n ur von d er
Existenz der G efahr gesp ro ch en (»W o aber G efahr
6 Eins
i s t « ) , sodann - als reagiere das B ew u ß tsein des
p o e tisch e n Ich a u f ein e genauere W ah rn eh m u n g -
k o rrig ie re n d , bzw. p rä zisieren d von d eren G rö ß e r­
w e rd e n (»W o aber G efahr [ . . . ] w ä c h s t« ) . Die n a c h ­
trägliche Steigerung d u rch das zw e ite Verbum ist
e in d irek t in terven ieren d es Verhalten des R ed en ­
d en z u r e ig en en Ä ußerung. Rettung ist h ie r ü b e r ­
h au p t n o c h n ic h t in Sicht, die Rede verlä u ft v i e l ­
m e h r m it d e m G ew ahren der anw achsenden
G efahr in die Ä u ß eru n gslo sigk eit jenseits des Vers-
endes. Das ist d er U n o rt, an d e m Sprache fürs
erste u n d , v ie lle ic h t, auch ein m a l d e fin itiv aufhört.
U nd, w e n n der Redende G lü ck hat, e in e U m w e n ­
dung - dies die u rsp rü n g lich e , an d er Vorstellung
v o m W en den des Pflugs abgelesene B edeutung des
W ortes >versus< - e rfa h rt, die dann e in e n eu e Ä u ­
ß e ru n g e rm ö g lic h t. In d em im D urchgang d u rch
die Versgrenze die Rede tatsächlich u n besch ad et
w ie d e rk e h rt - diese W ie d e rk e h r verdan kt sich
n ic h t n u r e in e m T u n des p o e tisc h e n Ich, sondern
m in d esten s ebenso e in e r u n ab leitb aren Gabe, ü b e r
die es keine M acht hat, n ic h t v e rfü g t - hat es die
A bb. i: Friedrich Hölderlin, Beginn von
»Patmos« (Widmungshandschrift)
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Abb. Q : Ausschnittsvergrößerung d e r früheren
Version im »Hom burger Folioheft«. In den
Anfangsversen: » N a h ist / Und schwer zu fassen
der G ott. / W o a b e r die G e fa h r ist, wächst /
Das Rettende auch.« vor »G efahr« noch der
bestimmte Artikel.
Kraft, die syntaktischen Bezüge u m z u g ru p p ie re n
u n d n eue Bezüge zu setzen: Erst je tz t w ir d das
W ort »w ächst«, du rch das Redehandeln des Ich,
z u m Prädikat des Subjekts »das R ettende«. In
e in e m p räzisen Sinn ist das e in sem antisches
Ereignis. Ich kön n te auch sagen, die k o n k rete
Gestalt der b e id e n Verse z ie lt d a ra u f ab, n ich t
nur über die w ach sen d e G efahr u n d die M ö g lic h ­
keit, ih r zu e n trin n e n , z u sprechen son d ern diesen
,
Zusam m enhang eigens sprachlich darzustellen.
Das Rettende w äch st in d er Rede selbst aus der
U m w en d u n g in d er Versgrenze. W en n m an genau
liest, kann m an ih m dabei zuseh en .