Table Of ContentI. Vorüberlegungen
– „Hegel seems to me to be always wanting to say that things which look
different are really the same. Whereas my interest is in showing that things
which look the same are really different.“ –
(Wittgenstein 1948, im Phoenix-Park)
I.
Diese Untersuchung nimmt ihren Ausgang von Überlegungen Wittgensteins,
welche dieser gleich einem philosophischen Resümee an das Ende seiner
akademischen Kariere stellt. Wittgenstein hat gerade seinen Lehrstuhl in
Cambridge niedergelegt, beginnt in einem Testament seinen Nachlass zu
organisieren und denkt gemeinsam mit seinem Freund und philosophischen
Weggefährten Maurice O’Connor Drury nach über die Stellung des eigenen
Denkens zu den großen Autoren der Philosophie.
In diese Situation des Abschusses und der Rückbesinnung fällt der berühmte
und in gewisser Weise dunkle Phoenix-Park-Satz Wittgensteins, in dem er die
Stellung seines eigenen Denkens zu demjenigen Hegels skizziert. Dunkel
deshalb, weil bisher in der Wittgenstein-Forschung nicht hinreichend klar
geworden ist, auf welchem Wissen über die Philosophie Hegels diese
Einschätzung Wittgensteins beruht und damit auch nicht greifbar wurde, was
genau sie überhaupt bedeuten kann. Eine Untersuchung, die sich diese
beiden Fragen stellt, muss nun also zuerst die konkreten Kontexte
rekonstruieren, in denen Wittgensteins eigenes Denken mit demjenigen
Hegels in Kontakt gekommen ist, und weiter ein Angebot machen, wie vor
diesem Hintergrund Wittgensteins Kommentar zu Hegel und damit zugleich
Wittgensteins Denken insgesamt zu verstehen ist. Das erste ist die Aufgabe
einer historischen Erforschung der Genese von Wittgensteins Denken und
das zweite mündet in eine philosophische Hermeneutik dieses Denkens, wie
es sich in den verschiedensten Medien zum Ausdruck bringen konnte.
Zusätzlich markiert Wittgensteins Phoenix-Park-Satz aber auch einen
besonderen Moment in dessen persönlicher und philosophischer Entwicklung
– und zwar den des Abschlusses einer akademischen Praxis, in der
Wittgenstein als Philosophieprofessor an der cambridger Universität mit
Studenten und Kollegen in besonderer disputatorischer Form philosophische
Probleme diskutiert mit dem Wunsch, diese philosophisch-disputatorische
Praxis in einem zweiten Hauptwerk zu verewigen. Die Niederlegung des
Lehrstuhls zusammen mit der Aufgabe des Wunsches nach einem zweiten
Hauptwerk markiert damit einen letzen Wendepunkt in Wittgensteins
philosophischer Entwicklung. Bis zum bald folgenden Ende wird Wittgenstein
in einer Art praktisch-philosophischer Lebensform grundloser Gewissheit nur
noch philosophische Überlegungen notieren, welche nicht mehr versuchen
zu sagen, was Philosophie ist, sondern Beispiele ihrer praktischen
Durchführung geben.
Im Philosophischen allgemein wie auch in Wittgensteins besonderem Fall sind
diese Wendepunkte von besonderem Interesse, weil in ihnen der Abschluss
jeweils auch der Anfang von etwas Neuem markiert. Aus diesem Grund
konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auch auf die Wendepunkte
bzw. Neu-Anfänge in Wittgensteins Denken. Sie beginnt mit Wittgensteins
letzter Wende und der nun drängenden Frage im Phoenix-Park, wie sich sein
Denken und seine philosophischen Anstrengungen zu den großen
philosophischen Autoren stellt – und damit verbunden, welchen Platz
Wittgensteins Denken in der Geschichte der Philosophie einnehmen könnte.
Vom Moment dieses dritten und letzten Wendepunktes als Besinnung auf die
Geschichte des eigenen Denkens und die Einbettung dieses Denkens am
Beispiel Hegels in die Geschichte des philosophischen Denkens überhaupt
springt die Untersuchung viele Jahre zurück auf den Beginn seiner
philosophischen Entwicklung als einer Zeit, in der Wittgenstein in
nächtelangen philosophischen Disputationen in den Privaträumen Russells
erstmals mit der Philosophie Hegels vertraut wird. Dieser Beginn schafft die
wesentlichen Motive von Wittgensteins Früh-Philosophie, die sich im Traktat
manifestieren.
Erst von hier aus geht die Untersuchung weiter zu Wittgensteins zweitem
philosophischen Wendepunkt, welcher aus Wittgensteins eigener Sicht eine
gewisse Transformation seines Denkens bewirkte, die in der
Forschungsliteratur üblicherweise als dessen Wende zur Spät-Philosophie
!2
bezeichnet wird. Markiert wird diese Wende wesentlich durch Wittgensteins
Rückkehr nach Cambridge und die Etablierung einer eigenen philosophisch-
disputatorischen Methode in den Seminaren an der cambridger Universität.
So wie sich die drei Wendepunkte in Wittgensteins philosophischer
Entwicklung zeitlich bestimmen lassen, ist auch das vielfältige historische
Material für diese Untersuchung wesentlich aus den Zeiten dieser
Transformationen im Denken Wittgensteins genommen.
II.
Die Untersuchung beginnt im ersten Kapitel mit Wittgensteins eigener
versuchsweisen Einordnung seines Denkens im Verhältnis zu demjenigen
Hegels und der Frage, wie diese Einordnung zu verstehen ist vor dem
Hintergrund von Wittgensteins philosophiegeschichtlichen Kenntnissen.
Im zweiten Kapitel werden nun die besonderen Voraussetzungen
rekonstruiert, die Wittgenstein in seiner ersten cambridger Zeit einerseits
nach Cambridge mitbringt und andererseits dort vorfindet. Dies erfolgt vor
allem mit dem Interesse, ein Verständnis für die wesentlichen Besonderheiten
dieser beiden Seiten vorzubereiten – vor allem dort, wo diese in der
bisherigen Forschungsliteratur übersehen oder unterschätzt wurden.
Das dritte Kapitel zur philosophischen Eso- und Exoterik widmet sich am
Beispiel zweier prominenter Institutionen, in die sich Wittgenstein
ursprünglich philosophisch einsozialisiert, wesentlichen Kontinuitäten von der
Akademie Platons zur cambridger Universität in Bezug auf die besondere
institutionelle Form.
Diese Kontinuitäten werden im vierten Kapitel rekonstruiert und auf
wesentliche Merkmale von Wittgensteins konkret-philosophischer Praxis in
den eigenen Seminaren in Cambridge bezogen. Weiter kann diese Praxis als
eine eigenständige disputatorische Methode identifiziert werden, die auf
Strukturen philosophisch-dialektischer Vergegenwärtigungen beruht. Dieses
Zwischenergebnis wird ermöglicht durch eine detaillierte Analyse vielfältiger
historischer Quellen, die vor allem die besondere Form von Wittgensteins
philosophischer Praxis beschreiben, und schafft eine erste Basis, von der aus
die ansonsten bisweilen oft als unüberwindlicher Graben empfundene
Differenz zwischen Hegels Dialektik und Wittgensteins Analytik entschieden
!3
abgemildert ist.
Weiter kann im fünften Kapitel dieses Ergebnis abgesichert werden mit einer
detaillierten Untersuchung der soeben (Nov. 2016) erstmals veröffentlichten
Notizen G. E. Moores aus Wittgensteins Seminaren in den frühen dreißiger
Jahren, also aus der besagten Wendezeit von der sogenannten Früh- zur
Spät-Philosophie. Diese Quelle ist besonders interessant, weil sie erstmals
einen nahezu unverfälschten Einblick in die konkrete Seminarsituation und
das lebendige disputatorische Denken Wittgensteins ermöglicht und zeigt,
wie in diesem Denken Wittgensteins thematische Untersuchungen der
philosphischen Einzelgegenstände immer konsequent mit der Frage nach
dem Status des Philosophischen selbst verbunden sind, also auf die
Rückfrage „Was ist Philosophie?“.
Darauf aufbauend wird im sechsten Kapitel gezeigt, wie das Denken
Wittgensteins aus dieser explizit philosophischen Rückfrage auf die eigene
Methode die entscheidenden metatheoretischen Strukturbegriffe für seine
Spät-Philosophie gewinnt – wie Familienähnlichkeit, Sprachspiel und
übersichtliche Darstellung. Mit einer hermeneutisch aufmerksamen Analyse
lässt sich von hier aus zeigen, wie sich diese explizit philosophischen Begriffe
aus den konkreten intellektuellen und biografischen Erfahrungen
Wittgensteins in seinem Denken und damit in der neuesten Geschichte der
Philosophie manifestieren konnten – und zugleich umgekehrt, wie
Familienähnlichkeit, Sprachspiel und übersichtliche Darstellung auf einer
Vorgeschichte beruhen, die sie über die verschlungenen Pfade
philosophischer Realgeschichte auch mit den dialektischen Überlegungen
Hegels verbindet. Als eine erste wesentliche Vermittlungsinstanz der
Hegel’schen Philosophie zu Wittgenstein wird dabei (§ 23) dessen Lehrer, der
ehemalige Hegelianer Bertrand Russell, identifiziert.
Aus der Bewegung von Wittgensteins philosophischer Praxis, wie er sie mit
seinen Schülern und Kollegen in den Seminaren erleben konnte, zu dem
Ausdruck dieser Praxis in den genannten Strukturbegriffen entsteht der
Wunsch, eine philosophisch-exoterische Lehre in Form eines zweiten
Hauptwerkes zu erarbeiten. Im siebten Kapitel wird Wittgensteins Kampf mit
den Versuchungen der philosophischen Exoterik gezeigt, zugleich mit einem
paradigmatischen Beispiel dieser Exoterik in der Person von Wittgensteins
!4
cambridger Kollegen C. D. Broad. Besonders aufschlussreich und bisher
kaum berücksichtigt sind hier die Bekanntschaft und die erstaunlichen
institutionellen Interdependenzen zwischen den beiden.
Im achten Kapitel wird dieser Kontakt Wittgensteins zu Broad als zweite
wichtige Instanz zur Vermittlung der Philosophie Hegels an Wittgenstein
rekonstruiert und es wird untersucht, worin der Inhalt dieser Vermittlung
besteht. Dafür konnte bisher unveröffentlichtes Vorlesungsmaterial Broads zu
Hegel im Archiv der Wren Library in Cambridge eingesehen und untersucht
werden – Vorlesungsmaterial, welches Wittgenstein kannte und mit seinen
Studenten gerade zu Beginn seiner zweiten cambridger Zeit diskutiert und
kommentiert hat. Hier wird es als zweite wichtige Quelle für Wittgensteins
Hegel-Verständnis untersucht.
Gerade dieser zweite Kontakt zu Hegels Philosophie verbindet sich mit
Wittgensteins tiefer Einsicht in die Bedeutung der übersichtlichen
Darstellung, die er von nun an auch als wesentliches Interesse des eigenen
Denkens versteht. Vor diesem Hintergrund untersucht das neunte Kapitel
zuerst Wittgensteins verschiedene Versuche, das philosophische Interesse
an der übersichtlichen Darstellung, wie es die konkreten Disputationen in den
Seminaren bestimmt, auch in die Form eines zweiten Hauptwerkes zu
übersetzen. Auch hier ergeben sich erstaunliche Nähen zu ähnlichen
Anstrengungen Hegels. Und weiter wird Wittgensteins philosophische
Reflexion dieses Unterfangens untersucht, so wie es der § 89 als das
Philosophie-Kapitel im Big Typescript vorstellt, und es wird gezeigt, dass
Wittgenstein die philosophische Erfahrung aus den Seminaren, wo die
disputatorische Form dem philosophischen Inhalt entspricht, dem Anspruch
nach auch in seinem philosophischen Werk eingelöst wissen will. Diesem
Anspruch konnte Wittgenstein, zumindest in seiner Selbstwahrnehmung, bis
zuletzt nie ganz gerecht werden.
Zum Abschluss versucht nun das zehnte Kaptitel, vor dem Hintergrund dieser
vielfältigen Überlegungen die tiefere Bedeutung von Wittgensteins spätem
Phoenix-Park-Satz zu heben. Dafür wird zuerst noch einmal auf die
besondere Vorgeschichte des britischen Hegelianismus in Cambridge
verwiesen, direkt bevor Wittgenstein im Jahre 1911 hier eintrifft. Weiter wird,
Wittgensteins eigener Überlegung folgend, die Ebene der Gemeinsamkeiten
!5
in den philosophischen Grundinteressen von Wittgenstein und Hegel gezeigt
– und dass diese Gemeinsamkeiten deutlich weiter reichen, als es in der
Forschungsliteratur bisher berücksichtigt wird. Und zuletzt wird von der
Ebene dieser Gemeinsamkeiten aus auch die wesentliche
Akzentverschiebung in der Ausrichtung dieser Grundinteressen zwischen
Wittgenstein und Hegel untersucht, so sie Wittgenstein selbst in seiner
Bemerkung im Phoenix-Park skizziert und wie sie sich in der besonderen
Haltung und dem jeweiligen Umgang beider Denker mit der Eigensphäre des
Philosophischen zeigt. Vollendet wird diese Erörterung der tieferen
Bedeutung von Wittgensteins Phoenix-Park-Satz mit einem Blick von der
Seite Hegels auf Wittgensteins Rekonstruktion des Verhältnisses seines
eigenen Denkens zu demjenigen Hegels, und sie schließt mit einem
hypotetischen Phoenix-Park-Satz Hegels, den dieser als Antwort auf die
umgekehrte Frage Drurys nach dem Verhältnis seiner Philosophie zu
derjenigen Wittgensteins gegeben haben könnte.
III.
Der Wert dieser Untersuchung soll zum einen darin bestehen, anhand des
vielfältigen z. T. erst neu zugänglichen Materials Wittgensteins Phoenix-Park-
Satz besser zu verstehen und damit insgesamt eine tiefere Einsicht in den
Zusammenhang des Wittgenstein’schen Denkens zur Philosophie Hegels zu
ermöglichen. Weiter stehen Wittgensteins Überlegungen zu Hegel aber auch
im Kontext der Frage nach der Stellung seiner eigenen lebenslangen
philosophischen Anstrengungen zu denjenigen der großen Denker der
Philosophiegeschichte überhaupt. Die verschiedenen konkret historischen
und ideengeschichtlichen Verbindungen, so wie sie von Wittgenstein’s
Denken über die philosophische Scholastik im Mittelalter bis zum antiken
Ursprung der philosophischen Tradition nachgezeichnet werden konnten,
sollen nun auch dabei helfen, einer Antwort auf diese Frage Wittgensteins
etwas näher zu kommen.
Je mehr dies gelingt, umso mehr wird es möglich, auch Wittgenstein selbst
vor dem Hintergrund der Tradition des philosophischen Denkens neu zu
verstehen und zu lesen, als das was er – im inzwischen 100-sten Jahre der
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Fertigstellung des Traktats – geworden ist, nämlich ein Klassiker der
Geschichte der Philosophie.
§ 1 Wittgenstein über Hegel
– „Mir scheint, Hegel will immer sagen, daß Dinge, die verschieden aussehen,
in Wirklichkeit gleich sind, während es mir um den Nachweis geht, daß Dinge,
die gleich aussehen, in Wirklichkeit verschieden sind.“ – (Wittgenstein 1948)1
Dublin 1948, es ist Herbst im Phoenix Park. Während eines
Nachmittagsspaziergangs mit Maurice O’Connor Drury resümiert Ludwig
Wittgenstein sein Verhältnis zu den großen Namen der Philosophie. Zum
Ersten des Jahres hat er bereits seine Professur in Cambridge niedergelegt,
soeben schreibt er an seinem ersten Testament – zweieinhalb Jahre vor
seinem Tod.
Beim Spazieren grenzt Wittgenstein sein eigenes Denken von demjenigen
Hegels ab. Er bezieht sich auf dessen Philosophie als auf einen Gegensatz zu
seiner eigenen – einen Gegensatz, der allerdings auch verbindet. Hegels
Philosophie denkt nach Wittgenstein unterschiedlich erscheinende Dinge als
in Wirklichkeit gleich, wohingegen sein eigenes Denken nachzuweisen sucht,
dass Dinge, die als gleich erscheinen, in Wirklichkeit unterschiedlich sind.
Das heißt, er charakterisiert Hegels Denken als Einheits- oder
Identitätsphilosophie und stellt diesem sein eigenes Denken als
Unterschieds- bzw. Differenzphilosophie gegenüber.
Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, was Wittgenstein selbst
unter dem solchermaßen eröffneten Gegensatz verstanden haben könnte.
Dafür werden wir den Kontext und die Genese dieser Einschätzung
Wittgensteins rekonstruieren, um damit deren Bedeutung zuerst erschließen
und zuletzt bestimmen zu können.
In Bezug auf Wittgensteins Bemerkung zu Hegel führt die ansonsten
verdienstvolle Übersetzung von Joachim Schulte den deutschen Leser hier
1 Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, Schulte, J. (Übers.), Frankfurt a. M.
1992: 217.
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allerdings lehrreich in die Irre, da Schulte Wittgensteins different mit
verschieden übersetzt. Für verschieden gibt es im Englischen eigentlich
schon ein anderes Wort, nämlich diverse. An dieser Stelle sollte daher
unterschiedlich die bessere deutsche Entsprechung für different sein, was
für die untersuchte Frage durchaus von philosophischer Bedeutung ist. Hegel
selbst beschreibt die (wesenslogische) Kategorie Verschiedenheit als
„zunächst gleichgültig gegen die Gleichheit und Ungleichheit“ (WLII: 53)2.
Demnach wird durch äußere Reflexion „das Verschiedene auf die Gleichheit
und Ungleichheit“ (WLII: 50) bezogen, so dass die Verschiedenheit
überhaupt als „äußerlicher, gleichgültiger Unterschied“ (WLII: 54) zu
bestimmen ist. Hätte Wittgenstein also verschieden gesagt, wäre damit das
Verhältnis seiner Philosophie zu derjenigen Hegels auch als gleichgültig
bestimmt, d. h. als indifferent, und jeder Zusammenhang als äußerlicher an
sein Denken herangetragen. Es wird noch dargelegt werden, warum
Wittgensteins Differenzphilosophie inhaltlich nicht auf die Kategorie der
Verschiedenheit abhebt.3 Vorerst genügt es, darauf hinzuweisen, dass
Wittgenstein den Gegensatz zu Hegel wörtlich und sehr bewusst als
Unterschied („different“) bestimmt. Weitergehend im Phoenix Park erfährt
Drury sogar, dass Wittgenstein den Unterschied als Motto für die
2 George di Giovanni hat kürzlich die Wissenschaft der Logik ins Englische übersetzt und
beschreib die Schwierigkeiten, die er mit dem Unterschied und der Verschiedenheit hatte,
folgendermaßen: „Unterschied and Verschiedenheit. The problem with this pair of terms is
that the area of meaning that they cover is the same as is covered in English by the three
terms ‚difference‘, ‚distinction‘, and ‚diversity‘. It is difficult to correlate the two German terms
with the three English ones. I agree with Suchting (versus Harris/Geraets, p. xlv) that the
natural way of translating Unterschied is ‚difference‘. We say ‚specific difference‘ where the
Germans say spezifischer Unterschied. Verschiedenheit, for its part, is naturally translated
as ‚diversity‘. However, although this distinction is easy to pin down in principle, it does not
always hold in fact. In different contexts, Unterschied also calls for ‚distinction‘, and
Verschiedenheit for ‚difference‘. In English, ‚distinction‘ tends to be a difference in dictu;
‚difference‘, one in re. I have used this rough rule as a guide when translating Unterschied as
‚distinction‘, though I must admit that on occasions I had to rely simply on my intuitive sense
of the text. It was more difficult to come up with even a rough rule for Verschiedenheit.
‚Diversity‘ tends to stress the plurality and variety of the things (or the moments of one
single object) that are different, their ‚being versed in different directions‘, so to speak, and
therefore standing apart, each reflected into itself (cf. GW 11, 267.5–6); ‚difference‘ tends to
stress what makes them different. This is the image that I have kept in mind when translating
Verschiedenheit with ‚difference‘ rather than with the more canonical ‚diversity‘. But here,
more so than in the case of Unterschied, I often had to rely on intuition.“ (Hegel, G. W. F.,
Science of Logic, Di Giovanni, George (Übers.), Cambridge 2010: xxiii).
3 Siehe § 30 Die Methode von Hegels spekulativer Philosophie nach Broad.
!8
Philosophischen Untersuchungen in Betracht gezogen hatte, gesprochen
vom Grafen von Kent in König Lear: „Ich werd Euch Unterschiede lehren“.4
Das Unterscheiden beschreibt Hegel wiederum als „das Setzen des
Nichtseins, als des Nichtseins des Andern […]“ (WLII: 40). Seinslogisch wird
die Tätigkeit des Unterscheidens als die des Setzens der bestimmten
Negation in Bezug auf etwas und sein anderes verstanden.5 Das ist derjenige
Teil des Vergleiches, den Wittgenstein für sich reklamiert: Das Unterscheiden
des auf den ersten Blick gleich aussehenden. Die Rolle des
Zusammendenkens des unterschiedlich aussehenden hatte Wittgenstein
Hegel zugedacht. Hegelisch gesprochen wäre das aber nur die seinslogische
Seite, also der Unterschied des Anderen von seinem Anderen (vgl. WLI: 125).
Aber was ist der Unterschied selbst?
In der Tradition ist lange diskutiert worden, wie der Unterschied als
analytische Kategorie beschrieben werden kann. Duns Scotus schlägt vor,
den Unterschied als „Eigenschaft, die macht, dass etwas sich
unterscheidet“6 zu denken. Genau diese Vorstellung des Unterschiedes als
Eigenschaft ist aber vor ihm schon von Boethius7 als widersprüchlich
kritisiert worden. Aus diesem Grund hat Hegel für die Reflexionsbegriffe der
Wesenslogik die dialektische Kategorie des absoluten Unterschieds
entwickelt, d. h. des die beiden Momente Identität und Unterschied
übergreifenden Unterschieds, der „die Reflexion in sich hat“. (WLII: 46) Aus
diesem Gedanken soll im Anschluss der tiefere Sinn der Wittgenstein’schen
Bemerkung beim Spaziergang im Phoenixpark gehoben werden.
Der Begriff des absoluten Unterschiedes weist zunächst einmal auf nichts
weiter hin als auf den irreduziblen Zusammenhang von Unterschied und
4 Schulte 1992: 217. „I’ll teach you differences.“ King Lear, 1. Akt, 4. Szene, in: Recollections
of Wittgenstein, Rhees, Rush (Hrsg.), Oxford 1984: 157; Monk, Ray, Ludwig Wittgenstein: The
Duty of Genius, London 1991: 547.
5 Vgl.: „Etwas und Anderes; sie sind zunächst gleichgültig gegeneinander; ein Anderes ist
auch ein unmittelbar Daseiendes, ein Etwas; die Negation fällt so außer beiden. Etwas ist an
sich gegen sein Sein-für-Anderes.…“ (WLI: 125).
6 „Differentia in communi sumpta nihil aliud esse videtur quam forma faciens
differre“ (Scotus, Johannes Duns, Super Universalia Porphyrii, q. 28. Op. omn., Lyon 1639/
ND, 1968: 1, 113 a; 435 b).
7 Boethius, Anicius Manlius Severinus, Porphyrii Isagoge translatio, Minio-Paluello, Lorenzo
(Hrsg.), Brügge 1966: 128 D/129 A.
!9
Identität (Einsheit). Wenn Wittgenstein sein Denken unter das Motto der
Differenz stellt und diese Differenzphilosophie als Gegensatz zu Hegels
Identitätsphilosophie denkt, dann enthält die Differenz bzw. der Unterschied
der beiden Philosophien zueinander selbst jeweils die Momente Differenz und
Identität. Weiter bedeutet das aber auch, dass das von Wittgenstein in Bezug
auf Identität und Differenz unterschiedene Denken von Hegel und ihm selbst
jeweils das unterschiedene Moment von Differenz bzw. Identität als negatives
Moment enthalten müssen. Diese zugegebenermaßen etwas Hegel’sche
Reformulierung des Wittgenstein’schen Phoenix-Park-Satzes bestätigt nun
Wittgensteins Unterscheidung seines eigenen Denkens von demjenigen
Hegels auf einer tieferen Ebene als es möglicherweise zunächst den
Anschein hatte, da sie sowohl die Differenz zu Hegel vorstellt als auch die
Gemeinsamkeit, die ein Vergleich impliziert. Prägnant zusammengefasst
steht „Hegel für die Einheit in der Differenz gegen Wittgensteins Differenz in
der Einheit“.
Die These dieser Untersuchung ist, dass die Relation zwischen Unterschied
und Einheit, bezogen auf ihre beiden Momente Differenz und Identität, ganz
im Sinne von Wittgensteins Phoenix-Park-Satz auch der Relation von
Wittgensteins Differenz- und Hegels Identitäts-Philosophie entspricht. Bevor
wir aber weiterfragen, was Wittgenstein überhaupt von Hegel wusste und auf
welchem Wege er sein Denken rezipieren konnte, soll noch der Versuch
gewagt werden, Wittgenstein im Phoenix Park noch etwas klarer zu Wort
kommen zu lassen. Die Bemerkung Wittgensteins lautete im englischen
Original nämlich folgendermaßen:
„Hegel seems to me to be always wanting to say that things which look
different are really the same. Whereas my interest is in showing that things
which look the same are really different.“8
Hatte Joachim Schulte Wittgenstein in Bezug auf die Differenz etwas
unscharf übersetzt, da wie oben erläutert Verschiedenheit zwar auch einen
Unterschied impliziert, aber eben einen äußerlichen, gleichgültigen, für den
8 Rhees 1984: 157, Monk 1991: 547.
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Description:Anzengruber das Lysistrata-Motiv des Aristophanes bearbeitet und in einen er sich mit Kompositfotografie von Sir Francis Galton beschäftigt.