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Wissenschaftstheorie zur Einführung
JUNIUS
Inhalt
Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
t
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. 1. Einleitung ......................................... 9
1.1 Methodenlehre als Wissenschaftsreflexion ............ 9
1.2 Wissenschaftstheorie im Spektrum der
Wissenschaftsforschung .......................... 10
1.3 Die Thematik dieser Einführung ................... 13
2. Empirische Prüfung und Bestätigung in der
methodologischen Tradition ......................... 15
2.1 Bacons Projekt einer authentischen Wissenschaft .... 16
2.2 Der Schluss auf Ursachen: Die Mill'schen Regeln .... 27
2.3 Hypothetisch-deduktive Prüfung .................. 35
Junius Verlag GmbH 2.4 Grenzen hypothetisch-deduktiver Prüfung:
Stresemannstraße 375
22761 Harnburg Duhems Argument .............................. 43
Im Internet: www.junius-verlag.de
3. Die Theoriebeladenheit der Beobachtung ............. 55
© 2006 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten 3.1 Hypothesen und die Strukturierung von Daten ...... 55
Titelbild: Homme regardant al a lunette 3.2 Beobachtung, operationale Verfahren und
astronomique; Rene Descartes: La Dioptrique
Satz: Junius Verlag GmbH theoretische Begriffe ............................. 58
Printed in the EU 2017 3.3 Semantische Theoriebeladenheit der Beobachtung ... 64
ISBN 978-3-88506-653-8
3.4 Mensurelle Theoriebeladenheit der Beobachtung .... 69
4., überarb. Aufl. 2017
3.5 Die Prüfung von Theorien durch theoriebeladene
Beobachtungen ................................. 77
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek 4. Hypothesenbestätigung in der Wissenschaft .......... 98
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
4.1 Hypothetisch-deduktive Prüfung, Unterbestimmtheit
Deutschen :t:'Jationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. und nicht-empirische Exzellenzmaßstäbe ........... 98
4.2 Listenmodelle der Bestätigungstheorie und Zur Einführung ...
Kuhn-Unterbestimmtheit ........................ 102
4.3 Systematische Bestätigungstheorie: Der Bayesianismus . 107
5. Wissenschaftlicher Wandel-Wissenschaft im Wandel . 133
5.1 Methodologische Prägungen in der Wissenschaftlichen
Revolution .................................... 133
5.2 Der Theorienwandel in der Wissenschaftsgeschichte . 141 ... hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient.
5.3 Wissenschaft im Anwendungszusammenhang ...... 152 Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophi
sches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch
6. Wissenschaft im gesellschaftlichen Kontext: Erkenntnis, durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die
Werte und Interessen .............................. 161 Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden
6.1 Wissenschaft und Werte ......................... 161 durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der
6.2 Epistemische, ethische und soziale Werte im Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse
Erkenntnisprozess .............................. 165 haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.
6.3 Wissenschaft zwischen Erkenntnisstreben und sozialer Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissen
Verantwortung ................................. 172 schaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geistes
wissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert
Anhang und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaf
Literatur ........................................... 186 ten, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorge
Über den Autor ..................................... 192 bracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die
traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften
neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind
nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen
Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformatio
nen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens
Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der
Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich
Inventur zu halten.
Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gele
gen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte
Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische
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Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger 1. Einleitung
Form dargestellt sehen.
Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur
einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Stand
punkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Reprä
sentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren
der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand,
und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich er- 1.1 Methodenlehre als Wissenschaftsreflexion
kennbar.
Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, Wissenschaftstheorie richtet sich auf die systematische Refle
die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz xion der wissenschaftlichen Methode, der begrifflichen Struk
haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits turen wissenschaftlicher Theorien oder der breiteren Konse
der Naturwissenschaften zu leisten vermag. quenzen wissenschaftlicher Lehrinhalte. Sie tritt nicht in Kon
Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, kurrenz zur Wissenschaft, sondern klärt wissenschaftliche Be
indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen griffe und Aussagen, wissenschaftliche Methoden und Theorien.
befördert. In dieser Einführung steht die wissenschaftliche Methode im
Vordergrund. Sie umfasst die Verfahren und Kriterien, die für
Michael Hagner die Überprüfung und Bestätigung von Geltungsansprüchen in
Dieter Thomä der Wissenschaft herangezogen werden. Wissenschaftlich gesi
Cornelia Vismann chertes Wissen hat strenge Prüfungen bestanden und hebt sich
dadurch von landläufigen Meinungen ab. Historisch zählen
auch Leitlinien zur Hypothesenbildung zur Methode, aber seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts sieht man das methodische Ele
ment in der Wissenschaft auf die Beurteilung von Hypothesen
und Theorien beschränkt.
Zu den wissenschaftsreflexiven Teildisziplinen zählen neben
der Wissenschaftstheorie oder -philosophie auch die Wissen
schaftssoziologie und die Wissenschaftsgeschichte. Die Wissen
schaftssoziologiefasst Wissenschaft als eine gesellschaftliche Ein
richtung auf, die sich durch besondere Regeln und spezifische
Ansprüche bestimmt, vergleichbar dem Recht oder dem Medi
zinbetrieb. Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung betrachtet den
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Wandel der wissenschaftlichen Lehrinhalte, der wissenschaft Politik und Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Die Gewinnung prak
lichen Praxis und des wissenschaftlichen Institutionensystems. tischen, technisch verwendbaren Wissens steht im Vordergrund;
Alle drei Teildisziplinen haben den deskriptiven Anspruch es geht um die Kontrolle der Naturphänomene, nicht primär
gemeinsam; sie wollen aufklären, wie Wissenschaft eigentlich um deren Erkenntnis. In der Folge treten institutionelle Ver
funktioniert oder wie wissenschaftliches Wissen erzeugt wird. schiebungen im Wissenschaftssystem auf. Die Forschung wan
Wissenschaftsphilosophie zeichnet sich unter diesen Diszipli dert tendenziell aus der Universität in die Industrielabore es
nen dadurch aus, dass sie den epistemischen Anspruch der Wis entstehen Forschungsverbünde zwischen Universitätsinstit~ten
senschaft besonders ernst nimmt. »Epistemisch« bedeutet »auf und den Forschungsabteilungen von Unternehmen, und die
Erkenntnis bezogen«; Gegenbegriffe sind »pragmatisch« (auf Forschungsagenda naturwissenschaftlicher Universitätsforschung
den Menschen und sein Handeln bezogen), »sozial« (auf gesell setzt Prioritäten bei wirtschaftlicher Nutzung oder Patentie
schaftliche Interessen bezogen) oder »ästhetisch« (auf Schönheit rung. Dies wirft die Frage auf, ob der Verwertungsdruck auf die
oder Eleganz bezogen). Wissenschaftsphilosophie versteht Wis Wissenschaft möglicherweise den Erkenntnisanspruch der Wis
senschaft entsprechend als Beitrag zur Erkenntnis der Erfah senschaft untergräbt (vgl. Kap. 5.3).
rungswelt. Es geht etwa um die Erklärungsleistungen von Theo Dabei tritt die Komplementarität der wissenschaftsreflexiven
rien oder um die Gründe für ihre Geltung. So konzentriert sich Teildisziplinen vor Augen. Zunächst handelt es sich bei dem
die philosophische Analyse des Theorienwandels nicht auf As Anwendungsdruck um ein wissenschaftssoziologisch diagnosti
pekte wie das Karrierestreben der beteiligten Wissenschaftler ziertes Phänomen an der Grenzlinie von Wissenschaft und Ge
oder die Brauchbarkeit von Theorien für bestimmte politische sellschaft. Es geht um Verschiebungen in der Organisation und
Zwecke, sondern sie betrachtet die Erkenntniskraft dieser Theo der thematischen Ausrichtung von Forschung. Diese Diagnose
nen. wirft im zweiten Schritt wissenschaftsphilosophische Fragen nach
begleitenden methodologischen Verwerfungen etwa bei den
Theorienstrukturen oder den Beurteilungskriterien für wissen
1.2 Wissenschaftstheorie im Spektrum der Wissenschafts schaftliche Leistungen auf. In wissenschaftshistorischer Sicht ist
forschung von Interesse, in welchem Ausmaß und in welcher Hinsicht sich
Wissenschaft durch die Anwendungsorientierung seit der Frü
Die Wissenschaftstheorie operiert im Spektrum von Wissen hen Neuzeit verändert hat. Wenn unter dem geringeren An
schaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte. Diese drei An wendungsdruck der Vergangenheit andere methodologische
sätze ergänzen sich und tragen gemeinsam zum besseren Ver Muster aufweisbar sind, spricht dies für einen kausalen Einfluss
ständnis der Wissenschaft bei. Ein Beispiel für ihr fruchtbares dieses Drucks. Bei solchen. Untersuchungen zeigen sich die drei
Zusammenwirken ist die Analyse angewandter Forschung. So Teildisziplinen eng miteinander verflochten.
lässt sich beobachten, dass die Wissenschaft in den vergangenen In einer Hinsicht allerdings kommt der Wissenschaftsphilo
Jahrzehnten verstärkt einem Anwendungsdruck aus Wirtschaft, sophie eine Sonderstellung zu. Allein sie gibt normative Urteile
10 11
über die Berechtigung von Erkenntnisansprüchen ab. So ist tiver Urteile. Wissenschaftsphilosophie gibt sich nicht mit Selbst
etwa augewandte Forschung methodologisch u.a. durch die einschätzungen der Wissenschaftler zufrieden, sondern bean
Neigung gekennzeichnet, »willkommenen Anomalien« wenig sprucht ein eigenes Urteil über die Berechtigung der von ihnen
Beachtung zu schenken. Dabei handelt es sich um solche Ab aufgestellten Behauptungen. In der Wissenschaftsphilosophie
weichungen von den theoretischen Erwartungen, die die prakti werden Urteile über Wahrheitsansprüche als berechtigt akzep
sche Nutzbarkeit eines Effekts nicht beeinträchtigen, sondern tiert-oder unter Umständen als unberechtigt zurückgewiesen.
eher zu verbessern versprechen. Unter Anwendungsdruck herr In der Wissenschaftsphilosophie geht es also nicht einfach ge
schen pragmatische Beurteilungskriterien vor; allein der tech nerell darum, wie Wissenschaft funktioniert; es geht darum, wie
nologische Erfolg zählt. Entsprechend lassen sich Fälle beob Wissenschaft in epistemischer Hinsicht funktioniert.
achten, in denen einer unerwarteten Diskrepanz zwischen theo
retischem Anspruch und Erfahrungswirklichkeit, die die tech
nologische Umsetzbarkeit erhöht, nur geringe Aufmerksamkeit 1.3 Die Thematik dieser Einführung
zuteil wird. Nur Philosophen nehmen sich heraus, solche Züge
als methodologische Defizite angewandter Forschung zu be Die Wissenschaftsphilosophie und die Wissenschaftsforschung
zeichnen statt neutral als deren methodologische Besonderhei sind ein reiches und blühendes Feld. In einer knappen Einfüh
ten. Die Wissenschaftsphilosophie stellt entsprechend Urteile rung können nur enge Ausschnitte vorgestellt werden. Der hier
darüber auf, was eine gute, der Annahme durch die wissen gewählte Ausschnitt betrifft die Gültigkeitsprüfung von Be
schaftliche Gemeinschaft würdige Hypothese oder Erklärung hauptungen in der Wissenschaft. Es geht um die Gründe für die
leisten soll. Sie appelliert an normative Intuitionen, die die Phi wissenschaftlichen Geltungsansprüche oder um die Natur der
losophie im interdisziplinären Dialog auszeichnen. Diese nor wissenschaftlichen Erkenntnis.
mativen Intuitionen leiten sich ihrerseits aus Vorstellungen über Im folgenden Kapitel wird zunächst ein historischer Über
die Beschaffenheit des wissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs blick über die induktive und die hypothetisch-deduktive Me
her; sie stützen sich auf Argumente des Inhalts, denen zufolge thode gegeben, deren Charakteristika dann anhand ausgewähl
bestimmte Erkenntnisstrategien den Erkenntniszielen der Wis ter Klassiker erläutert werden: Francis Bacon, Jo hn Stuart Mill,
senschaft förderlich, andere diesen abträglich sind. Pierre Duhem, Karl Popper. Anschließend kommen die kom
Insgesamt versteht sich auch für die Wissenschaftsphiloso plexen Beziehungen zwischen Theorie und Empirie zur Sprache,
phie, dass in der Wissenschaft nicht allein gute Gründe und die sich insbesondere darin ausdrücken, dass Theorien in die Ge
Wahrheitsstreben eine Rolle spielen; vielmehr ist sie Einwir winnung von Erfahrungsbefunden eingehen. Beobachtungen
kungen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft unterworfen. sind in mehrerlei Hinsicht »theorienbeladen«, und dieser Um
Diese Vielfalt der Einflussfaktoren begründet die Komplemen stand könnte die Aussagekraft von empirischen Prüfungen be
tarität der wissenschaftsreflexiven Teildisziplinen. Das Allein einträchtigen. Das nachfolgende Kapitel widmet sich aus einem
stellungsmerkmalder Philosophie besteht im Einbezug norma- systematischen Blickwinkel erneut dem Problem der Prüfung
13
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und Bestätigung von Theorien. Im Vordergrund stehen die »Ex 2. Empirische Prüfung und Bestätigung in der
zellenzmerkmale« von Theorien, die in ihrer Gesamtheit das Leit methodologischen Tradition
bild wissenschaftlicher Erkenntnis ausmachen. Im Anschluss
kommt der Wandel in der Wissenschaft und im Selbstverständ
nis der Wissenschaft zur Sprache, und im Schlusskapitel geht es
um den Zusammenhang von Wissenschaft und Werten. Dabei
rückt das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft in den
Vordergrund. Die Frage ist, wie die Berücksichtigung gesell
schaftlicher Ansprüche und Werthaltungen mit der Erhaltung der Nach verbreitetem Verständnis versorgt uns die Wissenschaft
Glaubwürdigkeit von Wissenschaft zu verbinden ist. Insgesamt mit Wissen erhöhter Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit. Die
soll ein thematischer Bogen über die Entwicklung der Wissen se Erkenntnisleistung wird häufig darauf zurückgeführt, dass
schaftstheorie geschlagen werden, der von ihren Anfängen im sich die Wissenschaft auf Erfahrung stützt, was aber die weitere
17. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Frage aufwirft, wie sich denn Hypothesen und Theorien auf Er
fahrung stützen lassen. Das Problem ist also die Beschaffenheit
von empirischer Prüfung und Bestätigung in der Wissenschaft.
Erläutern lässt sich dieses Problem mit einer historischen
Skizze, die um die Begriffe »induktive« und »hypothetisch-de
duktive« Prüfung kreist. Es handelt sich dabei um Zentralbe
griffe aus der Geschichte der Methodenlehre zwischen dem 17.
und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Induktive Methoden ver
langen, dass Hypothesen von den Daten nahegelegt werden;
hypothetisch-deduktive Methoden gewähren der Bildung von
Hypothesen volle Freizügigkeit und orientieren deren Beurtei
lung ausschließlich an ihren beobachtbaren Folgen. Induktive
Methoden wollen wissenschaftliche Hypothesen an den Kreis
der Beobachtungen und des Beobachtbaren gebunden sehen;
hypothetisch-deduktive Methoden lassen Vermutungen über
Unbeobachtbares ohne weiteres zu und stellen Anforderungen
an strenge, aussagekräftige empirische Prüfungen solcher Ver
mutungen.
Die Darstellung der Induktion orientiert sich an Francis
Bacon und J ohn S. Mill. Bacon hat das Bild der induktiven Me-
14 15
r
I
thode in wichtiger Hinsicht geprägt, bei Mill stehen die von men nicht allein in methodischer, sondern auch in organisatori
ihm entworfenen Methoden zur empirischen Ermittlung von scher Hinsicht auf. Er verfolgt das Ziel, die isolierte Arbeit ein
Kausalverhältnissen im Vordergrund. Pierre Duhem erklärte zelner Denker durch intensive Kooperation einer Vielzahl von
die hypothetisch-deduktive Methode zu Beginn des 20. Jahr Wissenschaftlern zu ersetzen. Die Dynamik der Erkenntnisge
hunderts zur einzigen Methode wissenschaftlicher Prüfung und winnung soll durch Arbeitsteilung und zentrale Steuerung ge
Bestätigung und erkundete ihre Grenzen. Karl Popper schließ steigert werden. Bacon wird damit zum ersten Anwalt organi
lich verpflichtete die Methodenlehre auf das genaue Gegenbild sierter Großforschung, zum Erfinder von »Big Science«.
zu Bacon. Zweitens ist für Bacon ein neues Bewusstsein des Fort
schritts charakteristisch, das die Menschheit seitdem nicht wie
der verloren hat. Bei Bacon herrscht das Selbstverständnis des
2.1 Bacons Projekt einer authentischen Wissenschaft Pioniers vor: Die Wissenschaft wagt einen Neuanfang, sie führt
nicht einfach eine Tradition fort. Natürlich hatte man bereits
Francis Bacon (1561-1626) war der erste Philosoph der neuzeit im Mittelalter Neues gefunden, aber die literarische Form der
lichen Naturwissenschaften. Sein Novum organon scientiarum Gelehrsamkeit war stets der Kommentar gewesen. Dem ent
von 1620 stellt eine Art Gründungsdokument der Wissen spricht ein Verständnis von Wissenschaft als Erläuterung und
schaftstheorie dar, in dem Bacon der aufkeimenden Naturwis Klärung des intellektuellen Erbes der Antike. Das ist bei Bacon
senschaft die systematische Berücksichtigung der Erfahrung anders. Mit ihm wird die Neuzeit gewahr, dass sie die Antike
auferlegt. Die Wissenschaft muss von den Tatsachen ausgehend überflügelt hat. Dadurch gewinnt der Gedanke des wissen
wie auf einer Leiter bedächtig von Stufe zu Stufe erst zu den schaftlichen und technischen Fortschritts erstmals klare Ge
mittleren und schließlich zu den höchsten Grundsätzen aufstei stalt. In der Wissenschaft geht es vor allem darum, Neues auf
gen und sich dabei stets vergewissern, dass sie nichts über zufinden und zu erfinden, nicht allein darum, das im Grund
springt, dass sie nicht dem Flug einer Fantasie anheim fällt, die satz Bekannte weiter zu erläutern (Bacon 1620, I. §§ 81, 84,
den Gipfel in einem Sprung nimmt (Bacon 1620, I. § 104). 129).
Nicht der Mensch darf der Natur seine Begriffe auferlegen, Bacons Methodenlehre konzentriert sich auf drei Schritte.
diese müssen vielmehr aus der umsichtigen und vorurteilslosen Erstens fußt alles Wissen auf vorurteilsfreien Beobachtungen.
Beobachtung entspringen und von der Natur gleichsam autori Bacons Theorie der »Idole« oder Trugbilder soll die Umset
siert sein. zung des Ideals der Unvoreingenommenheit anleiten. Zweitens
Zwei Beiträge Bacons zur Philosophie der Wissenschaften beruhen alle legitimen Hypothesen auf sorgfältigen Verallge
waren von erheblichem Einfluss auf die geistesgeschichtliche meinerungen solcher Beobachtungen. Bei diesem induktiven
Entwicklung, betreffen aber nicht die Methodenlehre im enge Schritt zu umfassenderen Grundsätzen kommt es vor allem auf
ren Sinn und sollen daher nur kurz angerissen werden. Erstens die Vermeidung voreiliger Schlüsse an. Übersichten des gemein
fasst Bacon die Wissenschaft als ein systematisches Unterneh- samen und getrennten Auftretens von Erscheinungen, die Me-
16 17
thode der Tabulae, sollen verlässliche Urteile über die jeweili gewahr, wenn sich seine Erwartungen bewahrheiten, nicht aber,
gen Erfahrungsbereiche begründen. Drittens tritt die Prüfung wenn sie fehlgehen. Die »Vorurteile der Höhle« (idolae specus)
von Verallgemeinerungen durch Ableitung und Untersuchung betreffen individuelle Verzerrungen. Der Mensch lebt gleich
weiterer Sachverhalte hinzu. Hierzu zählen insbesondere die so sam in seiner eigenen Höhle, und dieser private Standpunkt be
genannten Experimenta crucis, die von prägendem Einfluss auf einträchtigt die Deutlichkeit des Blicks. So neigen die einen
die Methodenlehre der nachfolgenden Jahrhunderte waren. dazu, überall Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen zu suchen
Kennzeichen von Bacons Methodenlehre und deren Erbschaft und zu finden, die anderen beachten Unterschiede stärker und
an die Nachwelt ist, dass bereits die Bildung von Hypothesen decken subtile Abweichungen auf. Einige bewundern das Tradi
der Bindung an die Erfahrung unterliegt. Das induktivistische tionelle, andere sind Liebhaber alles Neuen (Bacon 1620, I. §§
Selbstverständnis wird durch diese Bindung geprägt. Danach 39-68).
sind ausgreifende Spekulationen verpönt und gelten der Tendenz Bacon zieht aus seiner Idola-Lehre den Schluss, dass Wissen
nach als unwissenschaftlich. Voreiligkeit ist der Feind aller Er schaft die Absage an diese Vorurteile verlangt: »Ihnen allen [den
kenntnis. Seriöse Wissenschaft bleibt möglichst nahe an dem, was Idolen] hat man mit festem und feierlichem Entschluß zu entsa
aus dem Bereich der Beobachtungen bekannt ist. Auf diese drei gen und sie zu verwerfen. Der Geist muß von ihnen gänzlich
Aspekte, also die Ermittlung der Tatsachenbasis, die Angabe in befreit und gereinigt werden, so daß kein anderer Zugang zum
duktiver Verallgemeinerungen und die deduktive Prüfung von Reich des Menschen besteht, welches auf den Wissenschaften
Wissensansprüchen, soll im Folgenden kurz eingegangen werden. gegründet ist, als zum Himmelreich, in welches man nur eintre
ten kann, wie ein von Voraussetzungen unbelastetes Kind.«
2.1.1 Die Ermittlung der Tatsachenbasis: Vorurteilsfreiheit (Bacon 1620, I. § 68) In das Reich der Wissenschaft geht man
nur ein wie in das Reich Gottes - indem man wird wie ein Kind.
Bacons Anliegen besteht in der Sicherung der Autorität der Die Tatsachengrundlage der Wissenschaft soll sich weiter ge
Sinneswahrnehmung. Dazu sollen Erkenntnishindernisse, stö hend auf das Experimentieren stützen, das zu den methodolo
rende Einflüsse, die dem Geist des Beobachters entspringen, gischen Innovationen Bacons zählt. Zwar wurde auch im
benannt und beseitigt werden. Ein wichtiger Schritt auf diesem Mittelalter schon experimentiert, insbesondere in den alchemis
Weg ist die Vermeidung von Vorurteilen. Die Idola-Lehre rückt tischen Laboratorien, und Galilei ist für seine geschickten Ex
Typen von Vorurteilen ins Rampenlicht, die zur Unvollkom perimente berühmt. Aber erst Bacon hebt explizit die Bedeu
menheit des menschlichen Wissens beitragen und daher zu ver tung des Experiments als Erkenntnismittel für die Naturwis
meiden sind. Bei den »Vorurteilen der Gattung« (idolae tribus) senschaften hervor. Für Bacon ermöglicht das Experiment ei
handelt es sich z.B. um Störungen durch allgemeine Eigenschaf nen gegenüber der Beobachtung vertieften Zugriff auf Natur
ten des menschlichen Geistes. Der Mensch neigt etwa dazu, Be prozesse. Das Verborgene in der Natur offenbart sich nämlich
stätigungen vorgefasster Meinungen weit mehr Aufmerksam mehr durch die Peinigungen, die der experimentelle Eingriff für
keit zu schenken als deren Erschütterungen. Zwar wird er den Naturlauf mit sich bringt, als durch dessen gewöhnlichen
18 19
Gang (Bacon 1620, I. § 98). Bacon stützt sich hier auf einen Ver dar. Die einschlägigen Kenngrößen werden also aktiv verändert
gleich mit den menschlichen Verhältnissen. Es sind die außer und die resultierenden Folgen registriert. Der epistemische Vor
gewöhnlichen Umstände, unter denen Menschen ihren wahren zug des Experiments besteht dabei in der Kontrolle der Situa
Charakter offenbaren. Analog tritt auch das Wesen der Natur tionsumstände, die bei Beobachtungen in freier Natur in der
unter solchen Bedingungen besonders deutlich zu Tage, die im Regel nicht zu erreichen ist. Diese Kontrolle drückt sich auf
gewöhnlichen Naturlauf fehlen. Eine weitere Metapher, die Ba zweierlei Weise aus:
con zur Stützung der experimentellen Methode heranzieht, ist
der Gerichtsprozess. In der strengen Prüfung durch Verhör und (1) Vollständigkeit: Das Experiment ermöglicht eine umfassende
Kreuzverhör bringen die Anwälte die Wahrheit zuverlässiger ans und systematische Variation von Parametern. In der Natur kom
Licht, als wenn sie die Zeugen frei sprechen lassen. Ebenso wie men nicht alle Werte der relevanten Größen vor; die spontan
solche Verhörtechniken den Zeugen Aussagen entlocken, die sie realisierten Bedingungen schöpfen den Spielraum nicht aus.
aus freien Stücken nicht machen würden, wird die Natur durch Durch künstliche Anordnung lässt sich das ganze Spektrum der
den Eingriff des Experiments veranlasst, ihre verborgenen Kunst Kenngrößen und ihrer Kombinationen ausloten. Diese Bedin
griffe zu offenbaren. gung verallgemeinert Bacons Betonung des Extremalen.
Bacons Begründung für die Sonderstellung des Experiments (2) Isolation: Im Experiment lässt sich ein einzelner Einflussfak
rückt also Extrembedingungen ins Zentrum. Vom anthropo tor gezielt verändern und das Resultat dieser Veränderung regis
morphen Beiwerk befreit, verlangen die Erkenntnis der Natur trieren. Die Invarianz der übrigen Kenngrößen ist durch die
prozesse und die Aufdeckung ihrer Ursachen die Erschließung Versuchsbedingungen garantiert.
vergleichsweise entlegener, vom gewöhnlichen Gang entfernter
Sachumstände. Nur diese Identifikation neuartiger, nicht schon 2.1.2 Die Verallgemeinerung von Beobachtungen: Inductio vera
geläufiger Eigenschaften von Phänomenen kann zum Fort
schritt des Wissens beitragen. Jedoch stellen sich solche extre Für die zweite Stufe der Angabe verlässlicher Verallgemeine
malen Erscheinungen nur selten von selbst ein und lassen sich rungen rückt Bacon das schrittweise Vorgehen in den Mittel
am ehesten durch Realisierung von bislang nicht in Betracht ge punkt. Ein verbreiteter Fehler herkömmlicher Forschung be
zogenen Bedingungen herbeiführen. Deshalb leistet die Erzwin steht danach darin, zwar von Beobachtungen auszugehen, dann
gung extremaler Umstände im Experiment einen besonderen aber unvermittelt zu den obersten Grundsätzen zu springen. So
Erk enntnisbei trag. sind weit reichende Gedankengebäude entstanden, deren Be
Die experimentelle Methode ist bis zum heutigen Tag ein me schaffenheit jedoch mehr über die Zügellosigkeit der mensch
thodologisches Markenzeichen der Naturwissenschaften, wenn lichen Fantasie verrät als über die Gesetze der Natur. Gegen
auch ihre Vorzugsstellung heute anders begründet wird. Zu diese hergebrachte Vergehensweise der Antizipation des Geis
nächst stellt sich ein Experiment als gezielter Eingriff in ein Sys tes (Anticipatio mentis) setzt Bacon die Auslegung der Natur
tem zum Zweck der Erkenntnisgewinnung über dieses System (Interpretatio naturae). Beide Verfahren gehen von Beobachtun-
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