Table Of ContentGISELHER WIRSING
Der maßlose Kontinent
Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft
EUGEN DIEDERICHS VERLAG JENA
76. bis 85. Tausend
Copyright 1942
Eugen Diederichs Verlag Jena und Dr. Giselher Wirsing.
Schutzumschlag: Olaf Gulbransson
Druck: Elbemühl A. G. Wien. 1943
Inhalt
Vorwort 5
Teil I.
Am Ende des britischen Zeitalters 11
Britannien Mittelpunkt der Weltkrise 13
Ende der Weltgeschichte? 15
Das revolutionäre Zeitalter 18
Weltherrschaftsanspruch geht auf Washington über 27
Teil II.
Die Erstarrung des amerikanischen Mythos 30
Zeitalter der Grenzenlosigkeit 33
Das amerikanische "Wirtschaftswunder" 36
Theodore Roosevelt und Morgan 39
Negative Regierungstradition 42
Puritanismus und jüdische Überlieferung 44
Ursprünge der Plutokratie 47
Töchterexport nach Europa 50
Konzentration der wirtschaftlichen Macht 52
Geringes Ansehen der Politiker 55
Übergewicht der Einzelstaaten 57
Einwanderungsstop als erster Wendepunkt 61
Aushöhlung der Präsidentschaft 64
Der Zusammenbruch 1929 69
Amerikanische Tradition gegen neue Ideen 72
Merkmale des ersten Nachkriegsjahrzehnts 76
Standardisierung 78
Plutokratie Nutznießer der Normierung 83
Lebensstil der Finanzoligarchie 85
District of Columbia 86
Die Erstarrung des Mythos 90
Teil III.
Aufstieg und Verfall des New Deal 94
Die Eingeweide der Metropolis 94
F. D. Roosevelts "Hundert Tage" 97
Politische Herkunft Roosevelts 99
Geldgeber der Roosevelt-Wahlen 105
Gehirntrust tritt neben die Finanziers 109
Grundgedanken des New Deal 112
Die Gewerkschaften 117
Notlösung der WPA 123
Farm Business in der Katastrophe 126
The Man Made Desert 131
Experiment im Tennessee-Tal 134
Die Wüste wächst weiter 141
Oberster Gerichtshof verwirft New Deal 142
Felix Frankfurter 146
Roosevelts mißglückter Staatsstreich 151
Das Ende des New Deal 157
Statistik des Grauens 160
Die Krise des Amerikanismus 163
Roosevelt als psychologisches Problem 169
Flucht in Notstand und Krieg 172
Teil IV.
Auf der Suche nach dem Feind 175
Triebkräfte der Außenpolitik der USA. 176
Ursprünglicher Sinn der Monroe-Doktrin 178
Der Grundsatz der Erdteilpolitik 180
Verfälschung zum Offensivinstrument 184
Der Weltgläubiger 187
Beginn des Angriffs auf Fernost 191
Die Stimson-Doktrin 195
Cordell Hull 196
Anfänge der Außenpolitik Roosevelts 199
Neutralitätsgesetzgebung 202
Roosevelts Wendung zum Krieg 207
"England expects …" 213
Amerika ohne natürlichen Feind 217
Der dritte Gehirntrust 221
2
Enttäuschung über München 227
Kanada und Südamerika als Beuteziele USA. 233
"Grenze am Rhein" 237
Das Ultimatum, das den Krieg erzwang 238
Der Hauptschuldige am Krieg 241
Die Theorie Mahans 247
Teil V.
Erziehung zum Krieg 249
Aussöhnung Roosevelts mit der Hochfinanz 251
Henry Stimson 252
Das Komitee William Allen White 253
Geldgeber der Kriegsagitation 256
Universitäten von Hochfinanz abhängig 263
Roosevelts Geographierede 268
Wahrheit über die "Bedrohung Amerikas" 270
Das Ende der Freundschaft mit Frankreich 273
Roosevelts dritte Wahl 274
Die Rolle Willkies 276
Falsche Friedensversprechungen 278
Etappen des amerikanischen Angriffs Sommer
1940 bis Dezember 1941 280
Teil VI.
Amerika versinkt im Rüstungswirrwarr 291
Die Wehrmacht der USA. 293
Stärke und Verteilung der Flotte 295
Flugzeugbauprogramm 297
Rüstungsorganisationen 298
Das Rüstungsracket 304
Engpässe der Kriegsindustrie 307
Bilanz der Aufrüstung 311
Teil VII.
Die Proklamation des "Amerikanischen Jahrhunderts" 317
Union now 319
Amerikanisierung oder Anglisierung der Welt? 323
USA. als Seniorpartner 330
Die Unterwerfung Englands 335
Die amerikanische Weltgefahr 341
Teil VIII.
Das Programm der Weltherrschaft 348
3
Die Unterjochung Südamerikas 350
Stützpunkte in Südamerika 351
Innere Kräfte Südamerikas 355
Verdrängung Englands aus Südamerika 365
Politische Anleihen 367
Kanada zwischen USA. und England 370
Die Drohung gegen Ostasien 372
New Deal für Ostasien 374
Pazifische Spannungen 375
Roosevelts Fehleinschätzung der Japaner 376
China kämpft für USA. 377
Singapur 381
Amerika greift nach Indien 383
Umformung der japanischen Gesellschaft 385
Einkreisung Japans 390
Kriegsausbruch im Pazifik 394
Erschüttertes Stützpunktsystem der USA. 395
Von Alaska nach Sibirien? 397
Der Sprung über den Atlantik 400
Nemesis in Belgrad 401
Europäische Monroe-Doktrin 404
Ende der Lafayette-Legende 407
Drohungen im Atlantik 410
Griff nach Afrika 413
Das Programm der Weltherrschaft 415
Teil IX.
Der Schicksalskampf der Kontinente 418
Europa und Amerika 419
Unbehagen der Amerikaner in ihrer Kulturform 420
Verborgener Antisemitismus 426
Entartung des Puritanismus 428
Heilsarmeeinstinkte 431
Herzraum der Furcht 435
Strategische Aussichten 437
Drei Machtzentren auf der Welt 438
Der Irrtum Mahans 439
Victorianische Strategie 444
Zukunft des Amerikanismus 447
Das neue Weltbild 448
Anhang. Die Angriffskriege der Vereinigten Staaten 452
Literatur 458
Amerikanische Abkürzungen 463
4
Personen- und Schlagwortverzeichnis 464
5
5
Vorwort
Im Sommer 1938 hat der Verfasser am Ende einer ausgedehnten Reise durch Nordamerika seine in den "Münchner
Neuesten Nachrichten" erschienenen Berichte mit dem folgenden Satze abgeschlossen: "Die Vereinigten Staaten sind im
Begriff, ein gefährlicher Herd für einen neuen Weltkrieg zu werden." Und es hieß dort weiter: "Durch Wochen hindurch
haben wir es uns auf dieser Reise Tag und Nacht überlegt, ob es richtig ist, diesen Satz niederzuschreiben, ob er nicht
übertrieben ist, ob er mit der ganzen Verantwortung ausgesprochen werden kann, die einem deutschen Beobachter in ei-
nem fremden Kontinent obliegt. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß dieser Satz richtig ist und daß er infolgedessen
auch nicht unterdrückt werden darf …"
Dies war vor "München", vor der Herausforderung Adolf Hitlers durch Roosevelt im April 1939 und längst bevor es ei-
ne akute Polenfrage gab. Damals war also das weltpolitische Problem Nordamerika in seiner ganzen Schärfe schon zu
sehen. Tatsächlich sind die Vereinigten Staaten der Herd eines neuen Weltkrieges geworden.
Ein Jahr später, im Juni 1939, schrieb dann der Verfasser im "XX. Jahrhundert": "An England ist die Frage gestellt, ob
es bereit ist, zugunsten der Schimäre eines Commonwealth of English Speaking Nations von seiner heutigen Position
abzudanken und die Führung des Empire an Washington abzutreten. Diese Formulierung mag überraschen und vielleicht
denjenigen noch überspitzt erscheinen, die die Entschlossenheit der ausschlaggebenden Faktoren in Amerika, eine sol-
che Entwicklung herbeizuführen, noch nicht kennengelernt haben. Tatsächlich könnte aber England ein Bündnis mit den
USA. nur mit einer Unterwerfung unter das Sternenbanner bezahlen. Die in England führende Schicht könnte sie nicht
auf die Dauer überleben … Die Abtretung der Führung an die Kapitalinteressen der USA. ist wahrhaft die Bedrohung
Europas und der europäischen Kultur von Grund aus. Gegen diese Gefahr sich zu wenden, heißt alles das verteidigen,
was uns nicht nur in unserem eigenen Lande, sondern in unserem ganzen Erdteil teuer und wertvoll ist."
Heute entsprechen diese Sätze einer verbreiteten Erkenntnis über die Rolle, die die Vereinigten Staaten in diesem Kriege
übernommen haben. Sie ist nicht plötzlich entstanden, sondern auf Grund eines wohldurchdachten Planes Schritt für
Schritt in Szene gesetzt worden. Nachdem durch den Feldzug im Osten der Hydra des sowjetischen Kommunismus in
furchtbaren Schlägen ein Kopf nach dem anderen abgeschlagen worden ist, bis sie wankt und zu Boden zu sinken be-
ginnt, stehen Europa und Ostasien dem Amerikanismus als dem Gegenpol der bolschewistischen Weltgefahr gegenüber.
Auch hier handelt es sich um eine Erscheinung mit universalistischer Tendenz. Sie tritt in völlig anderer Form und mit
völlig anderen Zielen auf als der sowjetische Internationalismus. Aber auch hier ist der letzte geheime Wunsch die Er-
richtung einer Weltherrschaft.
Ich hatte die Absicht, mich mit dieser Entwicklung des Amerikanismus bereits nach der Rückkehr aus den Vereinigten
Staaten im Jahre 1938 in breiterer Form auseinanderzusetzen. Die alsbald in Europa einsetzende Spannung schlug indes
alle Kräfte in ihren Bann und vereitelte zunächst das Vorhaben einer umfassender Darstellung. Der wesentliche Grund-
gedanke dieses Buches, die Rolle nämlich, die der verhärtete amerikanische Mythos im Verein mit einem entarteten Pu-
ritanismus für die Entwicklung der Vereinigten Staaten nach innen und außen spielt, ist jedoch schon damals gefaßt
worden. Die Niederschrift konnte erst im Sommer und Herbst 1941 erfolgen. Dies hatte den Vorteil, daß sich inzwischen
bestimmte Entwicklungen in den Vereinigten Staaten noch klarer herausgebildet hatten. Die Drucklegung des Buches
war Ende Oktober abgeschlossen. Verfasser und Verlag entschlossen sich, infolge der zu diesem Zeitpunkt einsetzenden
verschärften japanisch-amerikanischen Spannung mit der Fertigstellung noch einige Zeit zu warten. Die Ereignisse
konnten daher noch bis zum Kriegsausbruch im Fernen Osten und der Feststellung des Kriegszustandes durch das Deut-
sche Reich und Italien berücksichtigt werden. Das Buch enthält nun eine vollständige Dokumentation der amerikani-
schen Politik bis zu dem entscheidenden Datum des 11. Dezember 1941. Das Gesamtbild der Vereinigten Staaten, mit
dem sich die übrige Welt auseinanderzusetzen hat, war zu diesem Zeitpunkt soweit geschlossen, wie dies bei einem Ge-
genstand, der dem täglich fließenden Leben unterliegt, überhaupt möglich sein kann. Der Geschichtsschreiber der unmit-
telbaren Gegenwart hat nicht wie der Historiker zurückliegender Epochen die Geheimarchive zur Verfügung, durch die
der eine oder andere Zug der Entwicklung erst vollends geklärt wird. Er hat dagegen den Vorteil für sich, daß er die un-
mittelbar seine Epoche bewegenden Kräfte lebendig in sich selbst spürt. Er muß sie also nicht mühsam aus entlegenen
Anhaltspunkten reproduzieren.
Dieses Buch handelt von Problemen, die für die zukünftige Weltordnung von höchster Bedeutung sind. Gewiß ist es
dem einzelnen schwer möglich, hierbei Schlüsse zu ziehen, die frei von Irrtümern nach der einen oder anderen Seite
sind. Soweit sie das Material betreffen, das in überreichlicher Fülle verarbeitet und den größeren Zusammenhängen un-
tergeordnet werden mußte, bin ich erfahrenen und hilfsbereiten Beratern, die an dieser Stelle nicht genannt werden wol-
len, zu größtem Dank verpflichtet. Ich habe mich bemüht, mich von Vorurteilen, die einer wirklichen Erkenntnis und
den sich aus ihr ergebenden Schlüssen und Folgen nur entgegenstehen könnten, freizuhalten. Worauf es in diesem Buch
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vor allem ankam, war die richtige Einordnung des Amerikanismus als Welterscheinung. Sie zwingt alle Erdteile zur Stel-
lungnahme.
Schließlich noch eine Schwierigkeit der Ausdrucksweise, die nicht unerwähnt bleiben darf: Wir gebrauchen bekanntlich
in Europa das Wort "Amerika", wenn wir die Vereinigten Staaten meinen. Dies ist ohne Zweifel eine nordamerikanische
Suggestion, da geographisch unter "Amerika" sowohl Nord- wie Mittel- und Südamerika verstanden werden. Wo es an-
ging, habe ich das umständlichere Wort "Vereinigte Staaten" gewählt. Dies war jedoch nicht immer möglich. Ersatzwor-
te, wie sie gelegentlich versucht worden sind, wie "US.-Amerika" und "us.-amerikanisch" schienen mir zu künstlich und
dem Sprachgebrauch zu widersprechend, als daß ich sie verwenden wollte. Es sei daher vermerkt, daß dort, wo von "A-
merika", den "Amerikanern" und "amerikanisch" die Rede ist, stets die Vereinigten Staaten, ihr Gebiet und ihre Bewoh-
ner gemeint sind, nicht aber auch Südamerika. Dieser Kontinent wird aller Voraussicht nach trotz aller heute zu beo-
bachtenden Überfremdungstendenzen durch Nordamerika sein eigenes und nicht ein abgeleitetes Schwergewicht entfal-
ten.
Die in den Vereinigten Staaten üblichen Abkürzungen der Namen zahlreicher Einrichtungen und Organisationen sind in
einer Übersicht am Schluß des Buches zusammengestellt.
München, 11. Dezember 1941
Zur zweiten Auflage
Die Entwicklung des ostasiatischen Krieges hat die in diesem Buche skizzierte Auffassung über die inneren und äußeren
Kräfte der Vereinigten Staaten bestätigt. Das Unvermögen der Amerikaner, dem Vordringen Japans entgegenzutreten,
hat überall in der Welt Erstaunen hervorgerufen. "Vielleicht sind hier einige der wesentlichen Gründe dafür aufgezeich-
net. Für die zweite Auflage sind in dem die amerikanische Fernostpolitik behandelnden Teile Ergänzungen vorgenom-
men worden. Das große Drama, das sich mit der Vernichtung der bisherigen amerikanischen Vormachtstellung in Ost-
asien vollzieht, hat erst begonnen. Für die amerikanische Tragödie ist es nur das Vorspiel.
München, Anfang März 1942 G.Wirsing.
Zur vierten Auflage
Der amerikanische Imperialismus und die Weltherrschaftspläne des Präsidenten Roosevelt haben sich seit dem Erschei-
nen der ersten Auflage dieses Buches folgerichtig weiterentwickelt. Amerikanische Soldaten stehen mittlerweile an über
50 verschiedenen Stellen außerhalb der Vereinigten Staaten. Neben Grönland, Island und Nordirland, Brasilien und
Westafrika ist der nordafrikanische Kriegsschauplatz getreten. Basra am Persischen Golf, Kalkutta, Colombo, Madras,
der Iran und das Sultanat von Oman auf der arabischen Halbinsel, Kapstadt, Australien, Neuguinea und die Salomon-
Inseln – an allen diesen Orten hat Amerika Divisionen und Brigaden seiner allmählich stärker werdenden Armee auftre-
ten lassen. Der Leser dieses Buches braucht in den verschiedenen Weltteilen nur die Linien weiterzuziehen, die schon
vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg so deutlich zu sehen waren. Dies gilt ebenso in militärischer wie in
politischer Hinsicht. Die zentrale Front der Vereinigten Staaten ist und bleibt das britische Empire, dessen einzelne Teile
sie sich überall dort, wo machtpolitische Leerräume entstanden sind, bemühen auf kaltem Wege zu übernehmen. Die
Bedeutung des Einsatzes amerikanischer Truppen an den eigentlichen Fronten gegen Japan und den Achsenmächten tritt
hinter diesem zentralen Vorgang zurück.
Dem Verfasser ist daran gelegen, den Leser daran zu erinnern, daß insbesondere der Abschnitt über die amerikanische
Aufrüstung im Herbst 1941 auf Grund des damaligen Standes geschrieben worden ist. Es wurde schon damals betont,
daß es sich infolgedessen nur um ein "Momentphoto" handeln konnte. Zum Teil sind die Schwierigkeiten für eine
sprunghafte Entwicklung der amerikanischen Rüstungsindustrie dieselben geblieben. Zum Teil sind sie überwunden
worden. Neue Engpässe haben sich dafür aufgetan. Immerhin ist natürlich der amerikanische Rüstungszustand am Be-
ginn des Jahres 1943 absolut erheblich gewachsen, wenn er auch relativ hinter den ursprünglichen Plänen zurückblieb.
Dies muß bei unseren Darlegungen in Betracht gezogen werden. Dasselbe gilt für die amerikanische Armee, obgleich
hier der Zwang zur Zersplitterung auf so weit auseinanderliegenden Gebieten einen konzentrierten und wirklich bedeu-
tenden Einsatz noch auf längere Zeit verhindern dürfte. Der Zweifrontenkrieg schafft jedenfalls grundsätzlich andere
Bedingungen für die Vereinigten Staaten, als dies im ersten Weltkrieg der Fall war. Die amerikanische Kriegsflotte hin-
gegen ist nicht nur relativ, sondern auch absolut schwächer geworden als sie im Dezember 1941 gewesen ist. Die Verei-
nigten Staaten haben etwa die Hälfte ihrer Schlachtflotte verloren. Auch wenn man die auf Stapel liegenden Neubauten
in Betracht zieht, wird daher das Ziel, eine übermächtige Zweiozeanflotte im Atlantik und Pazifik einsetzen zu können,
auf längere Jahre hinausgeschoben. Am ersten Jahrestag des Krieges mit den Vereinigten Staaten gab die japanische
Marine bekannt, daß sie 262 angelsächsische Kriegsschiffe, zum überwiegenden Teil amerikanische, versenkt habe.
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Die Periode, in der der amerikanische Imperialismus sich immer noch weiter ausbreitet, ist noch nicht abgeschlossen.
Die Grenzen, an die er stoßen wird, sind in diesem Buche, soweit dies anging, gezeigt worden. Alles spricht dafür, daß
noch die jetzt lebende Generation Zeuge nicht nur dieser ungeahnten Ausbreitung der amerikanischen Macht, sondern
ebenso ihrer Krise, Verwandlung und wahrscheinlich sogar Rückbildung sein wird, da sie auf Voraussetzungen aufbaut,
die unserem Zeitalter nicht entsprechen. Niemand vermag vorauszusehen, wann und wie dieser Wendepunkt eintritt. Er
wird kommen.
Die ernst zu nehmenden Kritiker dieses Buches haben hervorgehoben, daß es dem Verfasser keineswegs nur darum ging,
einen riesigen Stoff zu ordnen und übersehbar zu machen. Sie haben vielmehr darauf hingewiesen, daß die Sinndeutung
der jüngsten amerikanischen Geschichte – des "Mythos" und seiner Erstarrung, sowie die Auswirkung des Puritanismus
auf die Außenpolitik das eigentlich Wesentliche dessen ist, was hier dargelegt wurde. Dies entspricht völlig den Absich-
ten des Verfassers.
Berlin, im Januar 1943 G.W.
Der maßlose Kontinent
11
TEIL I
Am Ende des britischen Zeitalters
Feierlich, gestützt auf den Arm ihres Sohnes, war die alte Dame die Stufen der St.-Pauls-Kathedrale wieder hinabgestie-
gen. Tränen des Glücks rollten ihr über das zerfurchte Antlitz, als sich der königliche Wagen zurück nach dem Bucking-
ham Palace begab. Die Londoner waren toll vor Begeisterung. Die ganze Stadt, in ein Meer von Union Jacks getaucht,
hallte von den vielfältigen Idiomen eines Gewirrs von Sprachen wider. Das Spalier bildeten die englische Garde in roten
Röcken mit Bärenfellmützen, schottische und irische Regimenter, Australier, Kanadier und indische Sikhs, Haussas vom
Niger, Chinesen aus Hongkong und griechische Zyprioten, Dyaken aus Borneo und Eskimos vom kanadischen Baffin-
land. An der Galatafel saßen später die Generale aus Singapur und aus Ostafrika, aus Birma und den Westindischen In-
seln und die Gouverneure Ihrer Majestät aus allen Teilen der Welt. Man feierte das Diamantene Regierungsjubiläum der
Queen. Es war Juni 1897.
Die europäischen Fürsten waren nicht geladen. Selbst dem Enkel in Berlin hatte Lord Salisbury bedeutet, dieses sei ein
britisches Fest, und man wolle völlig unter sich sein. Die anderen Mächte sollten den Glanz und die Macht Britanniens
nur von ferne als
12 Dämmerung der Splendid Isolation
staunende Zuschauer erleben. Die Splendid Isolation des größten Weltreiches, das die Erde bis dahin gesehen hatte, fei-
erte ihren höchsten Triumph. Gewiß, als Victoria den Thron sechzig Jahre vordem bestiegen hatte, war England schon
eine über die Kontinente greifende Großmacht. Aber erst in ihrer Regierungszeit waren die bis dahin uneinheitlichen
Teile in ein großes Ganzes verwoben worden. Ihr Name hatte dem 19. Jahrhundert den unauslöschlichen Stempel aufge-
drückt. Und sie, die Königin, stand nur als Symbol für die britische Weltmacht.
Weder der ehrwürdigen Greisin im grauen Seidenkleid und dem breiten Panier um Brust und Schultern, noch einem der
zahllosen Minister, Gouverneure und Generale am Hofe von St. James hat es in diesen Tagen in den Sinn kommen kön-
nen, daß das britische Zeitalter nun seinen Höhepunkt erreicht hatte. In Windsor häuften sich die Telegramme fremder
Staatsoberhäupter zu Bergen. Die Geschenke allein füllten eine Flucht von Zimmern. Als Salisbury sie mit wägenden
Augen betrachtete, hatte er keinen Anlaß zu zweifeln, daß auch nur eines dieser Geschenke der Kaiser, Könige und der
republikanischen Staatsoberhäupter mit heimlichem Groll oder gar mit verborgenem Haß im Herzen auf den Weg nach
London gebracht worden wäre. Was die Kolonien selbst anging, gewiß, dort gab es auch andere Gefühle. Man wußte
dies, aber man konnte darüber hinweggehen.
Das Nahen des Wendepunktes zeichnete sich jedoch in den dreieinhalb Jahren ab, die der alten Königin noch zum Le-
ben verblieben. Der Burenkrieg mit all seinen schamlosen Begleiterscheinungen hatte plötzlich die Bewunderung fast
der gesamten Welt in Haß, Verachtung und Feindschaft umschlagen lassen. Er war gewiß nur eine Episode, wie es vor-
dem und nachdem zahllose in der Geschichte des Empire gegeben hat. Aber die Niederlagen der britischen Regimenter
in Südafrika und der Ausrottungskampf gegen das Burenvolk, der ihnen folgte, traf das Prestige des Weltreiches tiefer,
als es der Anlaß hätte vermuten lassen. Dem alten Ohm Krüger konnte und wollte niemand helfen. In Whitehall aber er-
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kannte man, daß es Zeit war, die Epoche der Splendid Isolation nun ihrem Ende zuneigen zu lassen. Die Stunde schien
gekommen,
13 Britannien Mittelpunkt der Weltkrise
zu der sich auch das mächtige England nach neuen Freundschaften umsehen mußte. Drei Jahre nach dem Tode der Kö-
nigin wird die Allianz mit Frankreich geschlossen, die uns heute bereits als der Auftakt zum Weltkrieg erscheint. Auch
in der Zukunft sollte das britische Empire noch weiter wachsen. Niemals mehr konnte es sich indes zu der einsamen Hö-
he erheben, auf der es sich beim Diamantenen Jubiläum der Queen befunden hatte. Damit brach eine neue weltgeschicht-
liche Epoche an: die Ablösung vom britischen Zeitalter.
Der Krieg, der im Jahre 1939 begann, ist die Fortsetzung eines ungeheuren revolutionären Prozesses, der seit etwa drei
Jahrzehnten die Welt beinahe in ihrer Gesamtheit erfaßt hat. Die überlieferten Maßstäbe, mit denen Kriege, Revolutio-
nen und weltgeschichtliche Umwälzungen gemessen werden, sind uns daher nur noch wenig nütze; denn zum erstenmal
handelt es sich bei diesem grandiosen Schauspiel, das sich vor unseren Augen vollzieht, um eine Weltkrise im eigentli-
chen Sinne. Noch niemals vor unserem Zeitalter sind ganze Kontinente im Spiele gewesen, wenn es um die Auseinan-
dersetzung zwischen Ideen und Mächtegruppen ging. Alle Kriege des 19. Jahrhunderts – selbst die napoleonischen – wa-
ren, gemessen an den Erscheinungen unserer Zeit, lokal begrenzt. Einzig der Machtzusammenprall zwischen Frankreich
und England zur Zeit des Älteren Pitt hat schon einmal einen solchen überkontinentalen Charakter besessen, da er sich
gleichzeitig in Europa, in Indien und in Kanada abspielte. Doch kann man ihn schwerlich zum Vergleich heranziehen, da
sich bekanntlich die Franzosen der umwälzenden Folgen dieser Feldzüge kaum bewußt waren und sie im wesentlichen
doch als europäische Fehden ansahen.
Der alle Erdteile umfassende Charakter der großen Auseinandersetzung der letzten drei Jahrzehnte rührt davon her, daß
in ihrem Mittelpunkt die einzige überkontinentale Macht von weltumspannender Ausdehnung steht, die es bisher gege-
ben hat: Britannien. Die Frage, die damit aufgeworfen ist, lautet: Wird das Ergebnis dieses Kampfes abermals eine welt-
umspannende Reichsbildung sein, die die britische ablöst, oder werden eine
14 Weltstaat oder Völkergemeinschaften
Reihe von großen, in sich geschlossenen Völkergemeinschaften und Raumeinheiten entstehen, die gerade das Gegenteil
eines weltbeherrschenden Reiches darstellen werden? Um diese Frage kreisen alle Probleme, die den Ausgang des jetzi-
gen Krieges betreffen.
Manche politischen Denker haben die Bildung eines Weltstaates, der dann zwangsläufig von einem einzigen Weltherr-
schaftszentrum aus gelenkt würde, als die unvermeidliche Fortbildung jenes Stadiums angesehen, das bereits mit dem
überkontinentalen britischen Weltreich erreicht worden ist. In England selbst ist diese Idee von dem einflußreichen Ox-
forder Professor Lionel Curtis entwickelt worden. In Deutschland sprach Alfred Weber schon vor einem Jahrzehnt von
einer "Weltintegration". Die Vereinigten Staaten von Amerika schließlich scheinen von einer solchen Idee völlig erfüllt
zu sein. Demgegenüber erheben sich Stimmen in Europa, in Ostasien und Südamerika, die mit Nachdruck darauf hin-
weisen, daß weder die Möglichkeiten des modernen Weltverkehrs, noch des Welthandels, noch auch die Nachrichten-
mittel unserer Zeit Elemente sind, aus denen sich zwangsläufig die Herausbildung eines Weltstaates ergeben müsse. Die-
se zweite Schule, wenn man so sagen darf, sieht vielmehr in dem jetzt tobenden, alle Kontinente erfassenden Kampf nur
ein vorübergehendes Stadium, das allein dadurch bedingt ist, daß am Ablösungsprozeß vom Zeitalter des fast universa-
len britischen Weltreiches zwangsläufig alle Kontinente beteiligt sein müssen. Diese zweite Schule sieht keine Notwen-
digkeit, ja keine Möglichkeit für eine Einheitskultur, einen Einheitsstaat und eine Einheitsherrschaft auf der ganzen
Welt. Sie sieht darin nur Elemente des Untergangs und des Todes. Sie sieht in dem großen Ablösungsvorgang vom briti-
schen Zeitalter das Neuerwachen ungeheurer geistiger, kultureller und machtmäßig vitaler Kräfte rings auf der ganzen
Welt, die sich gerade erst durch Sonderung und Abgrenzung voll entfalten können.
Hier liegen auch die Ausgangspunkte für dieses Buch. Wer also das Schicksal der Menschheit in einen Einheitsstrom zu-
sammenfließen sieht und glaubt, daß ein Weltstaat das Endziel dieser Menschheitsentwicklung sei, möge es lieber hier
schon aus der
15 Ende der Weltgeschichte?
Hand legen. Er wird gewahren, daß wir diesen Glauben, von dem jetzt vor allem wichtige Kreise Nordamerikas besessen
sind, für eine Irrlehre halten und daß wir ihm mit Leidenschaft ein anderes Bild entgegenstellen: das der Völkergemein-
schaften, die an die Stelle des Chaos treten werden, das der Zusammenbruch des britischen Zeitalters hinterläßt.
Um die Jahrhundertwende schien das über fünf Kontinente verteilte britische Weltreich seine Endform gefunden zu ha-
ben. Frankreich, die andere große europäische Kolonialmacht, hatte sich nach Faschoda endgültig mit der Abgrenzung
seines afrikanischen Reiches abgefunden. Deutschland war zwar ebenfalls noch als letzter Nachzügler in die europäische
Kolonialepoche eingetreten, aber mit der Machtzusammenballung, die England um jene Zeit bereits darstellte, konnte es
9
nicht in Konkurrenz treten. Italien war noch keine Großmacht und stand bis in den Weltkrieg hinein im Schatten Britan-
niens. Dasselbe galt für Japan, und die Vereinigten Staaten von Amerika begannen, sogar von England unterstützt, im
Krieg gegen Spanien gerade mit den ersten tastenden Schritten einer aktiven Beteiligung an der Weltpolitik. Rußland,
Englands großer Gegenspieler in Ost- und Mittelasien, konnte durch eine Übertragung der traditionellen britischen
Gleichgewichtspolitik auf die neuen weltpolitischen Maßstäbe durch den Einsatz der japanischen Macht zurückgeworfen
werden. In dem Jahrzehnt vor dem Weltkrieg, in dem sich England nach neuen Allianzen umsah, schälte sich bereits der
bestimmende Zug für die künftige Weltentwicklung heraus: Britannien hatte nunmehr die Rolle der saturierten Welt-
macht endgültig übernommen. Sein wichtigstes, ja sein einziges politisches Ziel ist es seitdem, daß an der zur Zeit des
Todes der Queen Victoria bestehenden Ordnung von keiner Seite mehr gerüttelt werde. Die britische Politik und Welt-
betrachtung fließt nun in einem Wunsch zusammen: Die Weltgeschichte soll gewissermaßen stehenbleiben. Das war der
tiefere Sinn bei den Feiern des Jahres 1897 gewesen, wie später beim Silberjubiläum Georgs V. Das 19. Jahrhundert war
das Jahrhundert der Engländer gewesen. Warum sollten es das 20. und 21. Jahrhundert nicht ebenso sein?
16 Britischer Vorsprung eingeholt
Der britische Versuch, eine Fortentwicklung der Weltgeschichte von nun ab nicht mehr zuzulassen, mußte natürlich
fehlschlagen. England hatte seinen Vorsprung der industriellen Revolution zu verdanken, ja, sie hatte die Grundlage der
britischen Macht geradezu geschaffen. Für unendlich weite, im westlich-kapitalistischen Sinne nicht oder halb entwi-
ckelte Gebiete der Welt war England der beherrschende Produzent der Massengüter, für die zunächst ein schier unbe-
schränktes Aufnahmebedürfnis vorhanden war. Der Reichtum, der in der britischen Metropole zusammenströmte, schien
daher fest gegründet, da er nicht nur auf der Ausbeutung von 25 v. H. der Erdoberfläche beruhte, die von England be-
herrscht wurden, sondern ebenso auf der dauernden Belieferung aller dieser Gebiete mit englischen Produkten. Aber der
Vorsprung, den England durch seine industrielle Revolution, die um die Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitskriege
begann, gewonnen hatte, konnte auf die Dauer nur relativ sein. Jeder Versuch, ihn durch die Gründung einer Heiligen
Allianz für immer zu befestigen, mußte früher oder später den Gesetzen der Technik selbst widersprechen, die England
solange als seinen wichtigsten Verbündeten ansehen durfte. Der Deutsche Friedrich List hat dies, als er sein System der
politischen Ökonomie entwarf, bereits im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts vorausgesehen; doch sollten die Kräfte,
die durch die industrielle Revolution im weltweiten Rahmen entfesselt wurden, bald alle bisherigen Vorstellungen
sprengen. Und es war nicht die industrielle Revolution allein, durch die diese Gegenkräfte wachgerufen wurden. Ihr zur
Seite traten neue soziale Strömungen, die dem universalistischen britischen Lebenssystem und dem Lebensstil der engli-
schen Oberschicht widersprachen, und schließlich ein eigenständiges Kulturbewußtsein einer großen Zahl von europäi-
schen und asiatischen Völkern, das sich mit der Unterwerfung unter den britischen Anspruch auf eine Weltschiedsrich-
terrolle und auf eine Oberherrschaft in allen sieben Weltmeeren und allen fünf Kontinenten immer weniger vertragen
konnte.
Schon vor dem Weltkrieg setzte die Gegenbewegung ein, die nicht nur in Europa, mit Deutschland an der Spitze, son-
dern auch
17 Weltkrieg löst revolutionäre Epoche aus
in der asiatischen Welt zunächst auf eine wirtschaftliche Befreiung von der britischen Vorherrschaft hinauslaufen mußte.
England hat dann den Weltkrieg herbeigeführt, um diese bedrohlich erscheinende Entwicklung zu unterbinden. Es be-
diente sich dazu seines altbewährten Allianzsystems und der seit drei Jahrhunderten entwickelten britischen Gleichge-
wichtspolitik, auf Grund deren England stets die zweitstärkste Militärmacht auf dem Kontinent zu stützen und, wenn es
nötig schien, zum Krieg gegen die stärkste Militärmacht anzustacheln pflegte. Die Allianz mit Frankreich vom Jahre
1904 hatte von Anfang an diesen Sinn gehabt, wie das berühmte Memorandum des britischen Unterstaatssekretärs im
Foreign Office, Sir Eyre Crowe, vom l. Januar 1907 später erwiesen hat. Der 1914 vom Zaun gebrochene Krieg sollte
der Aufrechterhaltung des britischen Zeitalters dienen. Schon bald nach dem Beginn des Weltkrieges entstand daher in
Britannien das Schlagwort: "The last War we fight". Dies war der große Irrtum.
Zwar gelang es noch einmal durch die Herbeiführung einer gewaltigen Koalition, die zum erstenmal die ganze Welt um-
fassen sollte, den Sieg zu erringen, nicht aber das Endziel. Als Präsident Wilson nach der Unterzeichnung des Versailler
Diktats wieder nach Amerika zurückfuhr, war England von diesem Ziel weiter entfernt denn je. Eine völlige Verschie-
bung der Konstellation der Weltmächte hatte eingesetzt. Die Heilige Allianz war zerbrochen. Der gesamte europäisch-
asiatische Kontinent wurde von revolutionären Bewegungen überflutet, die, wie verschiedenartig sie auch waren, in ih-
ren Auswirkungen alle letztlich gegen das britische Vorstellungsbild von der Fortsetzung des englischen Zeitalters im
20. Jahrhundert gerichtet waren. Der Weltkrieg, der die englische Vorherrschaft retten sollte, wurde zum mächtigen
Auslöser der revolutionären Epoche. Alle Probleme, die um die Zeit des Abschlusses der britisch-französischen Allianz
höchstens im Keim vorhanden waren, hatten sich nun unter den Einwirkungen des Krieges schnell entwickelt.
18 Das revolutionäre Zeitalter
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