Table Of ContentHANDBUCH
DER NEUROCHIRURGIE
HERAUSGEGEBEN VON
H.OLIVECRONA W. TONNIS
STOCKHOLM KOLN
W.KRENKEL
KOLN
SIEBENTER BANDjZWEITER TElL
SPRINGER-VERLAG
BERLIN . HEIDELBERG . NEW YORK
1972
WIRBELSAULE
UND RUCKENMARK
II
BEARBEITET VON
K.NITTNER . W.BARTSCH
MIT 203 ABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· HEIDELBERG· NEW YORK
1972
Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Reehte, ins
besondere die der Ubersetzung, des Naehdruekes, der Entnahme von Abbildungen,
der Funksendung, der Wiedergabe auf photomeehanisehem oder iihnliehem Wege
und der Speieherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, aueh bei nur auszugs-
weiser Verwertung, vorbehalten.
Bei VervieWUtigungen fiir gewerbliehe Zweeke ist gemiiE § 54 UrhG cine Vergiitung
an den Verlag zu zahlen, deren Hohe mit dem Verlag zu vereinbaren ist.
© by Springer-Verlag Berlin· Heidelberg 1972
Softeover reprint of the hardcover 1st edition 1972
Library of Congress Catalog Card Number 69-11685
ISBN-13:978-3-642-80569-1 e-ISBN-13:978-3-642-80568-4
DOl: 10.1007/978-3-642-80568-4
Die Wiedergabe von Gebrauehsnamen, Handelsnamen, Warenbezeiehnungen usw.
in diesem Werk bereehtigt aueh ohne besondere Kennzeiehnung nieht zu der
Annahme, daE solehe Namen im Sinn der Warenzeiehen- und ]lfarkensehutz
Gesetzgebung als frei zu betraehten waren und daher von jedermann benutzt
werden diirften.
Inhaltsverzeichnis.
Raumbeengende Prozesse im Spinalkanal (einschlielllich Angiome und Parasiten).
Von Professor Dr. K. NITTNER, Kiiln-Lindenthal. Mit 171 Abbildungen.
A. Allgemeiner Teil
I. Geschichtliches
II. Vorkommen der Riickenmarkstumoren 5
1. 1m Vergleich zu anderen Erkrankungen 5
2. Innerhalb des Sektionsgutes . . . 5
:3. 1m Vergleich zu Hirngeschwulsten 5
III. A.tiologie und Pathogenese 8
1. Dysontogenese . 8
2. Fehlregeneration 10
:1. Vererbung .. . 10
4. Trallma ... . 10
5. Hormoneller Faktor 11
B. Spezieller TeiJ 11
1. Pathologie 11
1. Topische Beziehungen der Geschwulste 11
a) Intramedullare Geschwulste . . 1:3
fJ) Juxtamedullare (intradurale extramedullare) Geschwulste 13
)') Extradurale Geschwiilste 1:3
0) Sanduhrgeschwiilste. . . . 16
2. Art des raumbeengenden Prozesses 17
a) Neuroepitheliale Tumoren 18
a) G1iome ..... . 18
1. SpongiobJastome . 20
2. Oligodendrogliome 20
:3. Astrocytome . 20
4. G1ioblastome 20
fJ) Paragliome. . . 20
5. Ependymome 20
(i. Neurinome 21
7. Neurofibromatose Recklinghausen 23
I) Ganglio(,ytome . . . . . . . . . . 24
8. Ganglioeytome, Ganglioblastome . 24
0) Metastasen neuroepitheJiaJer Tumoren 25
b) Mesodermale Tumoren 26
9. Fibrome . 26
10. Lipome 26
1 J. Chordome 28
12. Angioblastome 30
13. lUeningiome 30
14. ChollonlllJ(' . . :37
IF). Oskoehnnrirome 38
lG. Osteoid-Osteome 39
17. Osten me . . . . 39
18. Riesenzelltumoren . 39
19. Aneurysmatische Knochencysten 43
20. l\Iyelome, Plasmocytome oder Kahlersche Krankheit . 44
21. Amyloid- lind Paramyloio.Tumoren ....... . 46
VI Inhaltsverzeichnis.
22. Melanoblastome . 47
23. Sarkome . . 47
c) MiBbildungstumoren 53
24.-26. Epidermoide, Dermoide, Teratome und Teratoide 53
d) GefiiBgeschwUlste, GefaBmiBbildungen 57
Angioblastome . . . . 57
27. Angiome und Aneurysmen 58
e) Metastatische epitheliale Tumoren 66
28. Carcinome . . . . . 68
Mamma-Carcinom . . 68
Prostata-Carcinom . . 69
Schilddriisen- Carcinom 69
Lungen-Carcinom 70
Nieren-Carcinom . . . 70
Tumoren des weiblichen Genitaltrakts 71
Primartumoren des Magen-Darmtrakts 71
Primartumoren anderer Organe 71
Carcinome unbekannten Ursprungs 71
f) Parasitare Erkrankungen . 72
29. Tierische Parasiten 72
Schistosomose . .7..,.2, ,
Parangonimiasis
}
Erkrankungen durch Cestoden (Bandwiirmer) 74
Cysticerkose . . 75
Echinokokkose. . . . . . . . . . . . . . 77
Coenurose ............... . 80
Erkrankungen durch Nematoden (Rundwiirmer). Trichinose 81
Protozoen. Toxoplasmose 82
30. Pflanzliche Parasiten (Pilze) 82
Aktinomykose . . . . . 84
Moniliasis oder Candidiasis 85
Torulose oder Cryptokokkose 86
Aspergillose . . . 87
Coccidioidomykose 88
Blastomykose . . 89
g) Granulomatose Prozesse . . 90
31. Unspezifische und spezifische Granulome 90
Tuberkulome . . . . . . . . . . 92
Gummen ........... . 95
h) Sonstige raumbeengende Prozesse innerhalb des Wirbelkanals 96
32. Arachnitis, Meningopathie 96
33. Cysten .......... . 98
Extradurale Cysten. . . . 100
Epidural-perineurale Cysten 10l
Intradurale Cysten . . . . 103
Intramedullare Cysten 103
34. Entziindliche raumbeengende spinale Prozesse 103
Abscesse ...... . 103
Epidurale Abscesse . . . . . . . . . 103
Riickenmarksabscesse . . . . . . . . 113
Entziindliche Erkrankungen der Riickenmarkshaute 114
Pachymeningitis . . . . . . . 114
Pachymeningitis hypertrophicans. . . . . . 115
Leptomeningitis acuta und chronica 116
Entziindliche Erkrankungen der Wirbelsaule . 116
35. Blutungen . . . . . . 117
Epidurale Blutungen . . . 118
Subdurale Blutungen . . . 119
Subarachnoidale Blutungen 119
Intramedullare Blutungen . 120
I II 1m It svprzeiehnis. VII
i) Sonstige raumbeengende Prozesse auBerhalb des Wirbelkanals . 121
:~f;. \\'irbelsaulenveranderungen. . . . . . . . . . . 121
Angeborene und erworbene Systemerkrankungen 121
Angeborene Rystemerkrankungen 121
I~rworbene Systemerkrankungen 122
Gt) Osteoporosen 122
fJ) Ostitis deformans Paget 122
;,) Akromegal ie . . . . . 123
(5) Neurofibromatose. . . 123
F) Lipoidosen und Retikulosen 123
Angeborene und erworbene Kyphosen sowie Kyphosen bei bestimmten
Rystemerkrankungen, Skoliosen und Kyphoskoliosen . 124
MiB- oder Fehlbildungen und Variationen der Wirbelsaule 124
Degenerative Wirbelsaulenprozesse . . . . . . . . . . 125
Gt) Spondylosis deformans, Osteochondrose, Arthrose 126
j) Seltene U rsal'hen nll'dnIIarer Kompressionen 127
k) Kombini('rte Prozessp mit spinaler Raumbeengung . 128
n. Diagnostik. . . . . . . . 129
I. Neurologische Diagnostik 129
a) Dauer der Vorgeschichtc 133
b) Krankheitsverlauf . . . 135
c) Neurologische Storungen 136
d) Psychische Stiirungen 139
e) Alters verteil ung . . . . 139
f) Geschlechtsverteilung 145
2. Diagnostische technische Hilfsmittel 148
a) Elektrische Diagnostik 148
b) Rontgendiagnostik . 148
c) Liquordiagnostik 160
d) Liquordynamik . . 165
e) K ontrastmitteldiagnostik 169
Myelographie .. 169
Form, Dauer und Verhalten des Stops in bezug auf 'l'opik und Art des
Prozesses ................. . 175
Vertebrale Phlebographie oder spinale Ossovenographie 181
Vertebralis-Angiographie . 181
F istel-Kon trastdarstelhmg 181
f) Isotopendiagnostik ..... . 184
Szintimyelographie 184
g) \Veitere Untersuchungsmothoden 186
Myeloskopie 186
Wirbelbiopsie 186
III. Klinik. . 186
1. Stadien der Riickcnmarkskompression 186
a) Erstes Stadium der spinal en Raumbeengung, Friihstadium oder neuralgisches Stadium 188
b) Zweites Stadium, Ubergangsstadium oder Brown-Sequard-Syndrom und inkomplettes
Querschnittsbild .................... 190
c) Drittes Stadium, Endstadium oder komplettes Querschnittsbild 194
2. Hiihendiagnose ............ 197
a) Medulla oblongata und hohes Halsmark 199
b) Halsmark ............. 215
e) Brustmark . . . . . . . . . . . . . 222
d) Lendenmark odeI' l<~piconus und Conus sowie Cauda equina 231
3. Topische Diagnose . . . . . . . . . . . 251
a) IntrameduIIare raumbeengende Prozesse 254
(X) Primare intramedullare Geschwiilste 254
fJ) Sekundiire intramedullare Geschwiilste 255
y) Entziindliche Prozesse. . . . . . . . 256
VIII Inhaltsverzeichnis.
b) Juxtamedullare (intradurale extramedullare) raumbeengende Prozesse 257
Ot) Benigne Neoplasmen 257
fJ) Maligne Neoplasmen 259
y) Entzundliche Prozesse. 259
c) Extradurale raumbeengende Prozesse 260
Ot) Benigne Neoplasmen 260
fJ) Maligne Neoplasmen 261
y) Entzundliche Prozesse . 263
d) Raumbeengende Krankheitsprozesse der WirbeIsaule . 264
Ot) Neoplasmen . . . . . . . . . . . . . . . 264
fJ) Andere raumbeengende WirbeIsaulenprozesse . 264
e) SanduhrgeschwUlste 265
4. Artdiagnose 272
a) Gliome. 272
Diagnostische Zusatzuntersuchungen 282
b) Neurinome ............... . 286
Diagnostische Zusatzuntersuchungen 296
c) Meningiome. . . . . . . . . . . . . . . . 300
Diagnostische Zusatzuntersuchungen 310
d) Differentialdiagnostische Gegenuberstellung von Gliomen, Neurinomen und
Meningiomen ............. . 313
Diagnostische Zusatzuntersuchungen 320
IV. Therapie ........ . 322
1. Chirurgische Behandlung 322
Geschichtliches . . . 322
a) Allgemeiner Teil. . . 323
Schmerzbetaubung bei Ruckenmarksoperationen 323
Instrumente und Vorrichtungen . . . . . . . 323
Vorbereitungen des Kranken. AufklarungspfIicht 324
Orientierung uber das Operationsgebiet 324
Bestimmung der Laminektomieh6he 324
Vorbereitung des Operationsfeldes 325
Lagerung des Kranken . . . . . . 325
b) Spezieller Teil. . . . . . . . . . . . . . . 326
Allgemeine Operationstechnik. Die Technik der Laminektomie 326
Die sog. bilaterale Laminektomie mit Freilegung des Ruckenmarks 326
Die sog. Hemilaminektomie . . . . . . 329
Die Relaminektomie . . . . . . . . . 329
Verband und postoperative Behandlung . 329
Spezielle Operationstechnik . . . . . . . . 331
Das Vorgehen bei extraduralen GeschwUlsten . 331
Das Vorgehen bei juxtamedullaren (intraduralen extramedullaren) Ge-
schwUlsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Das Vorgehen bei intramedullaren Geschwiilsten . . . . . . . . .. 341
Chirurgische Eingriffe bei GeschwUlsten und geschwuIstartigen Erkran
kungen innerhalb des Spinalkanals. Die verschiedenen Tumorarten und
ihre Operabilitat 343
Gliome . . 343
Neurinome 344
Meningiome 345
Spinale GefaBmiBbildungen, Hamangiome und Hamangioblastome 346
Kongenitale Tumoren. . . 346
Granulome . . . . . . . . . 347
Metastatische Geschwiilste 348
Multiple Ruckenmarkstumoren . 348
Die Behandlung des akuten epiduralen Abscesses . 350
Die Behandlung des chronischen epiduralen Abscesses . 350
Die Behandlung des subduralen spinalen Abscesses 350
Die Behandlung des Ruckenmarksabscesses . . . . . 351
Die Behandlung der Arachnitis spinalis. . . . . . . 351
Die Behandlung der Pachymeningitis spinalis hypertrophicans 352
I nhaltsverzeichnis. IX
Chirurgische Eingriffe bei entziindlichen Erkrankungen sowie nach Blu-
tungen innerhalb des Spinalkanals . . . . . . . . . . . . . . 352
Chirurgische Eingriffe bei spinaler Raumbeengung durch Geschwiilste und
Erkrankungen der Wirbelsaule . . . . . . . . . . . 352
e) Stiirungen Ilnd Komplikationen nach Riickenmarkstumor-Operationen 359
2. Strahlenbehandlung 366
:~. Hormonbehandlllng 370
4. Chemothempie. . . 370
V. Operative Belmndlllngsergebnisse 372
Litera tn r 391
Dil' Pathog~nesll und Klinik der spinal en Durchblutungsstorungen.
Von Professor Dr. W. BARTSCH, Wiirzburg. Mit 32 Abbildungen.
Einleitung 607
T. Die anatomisehen, physiologisehen und pathophysiologischen Grundlagen der Riickenmarks-
zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ....... 608
1. Klinisch wichtige Eigentiimlichkciten der Topographie spinaler GefaBe . ....... 608
2. Die Hiimodynamik der spinalen Zirkulation unter physiologischen und pathophysiologischen
Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
a) Die spinale Blutstromrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
h) Kreislallfdynamisch bedingte Stiirllngsmodelle am Riickenmark . . . . . . . . . . . 618
c) Diskussion der Frage einer selbstiindigen Kompensationsfahigkeit spinalcr Durchbllltungs-
stiirungen anf Grund der morphologischen und hiimodynamischen Verhaltnisse 620
n. Die Pathologie uud Pathogencse vasculiirer Riickenmarksschiiden . . . . 621
1. Allgemeine Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
a) Die Bedeutung des Hiimatomyeliebegriffs in der klinischen Diagnose 621
h) Charakteristische Erweichungsformcn am Riickenmark und die m6gliehen Ursachen ihrer
stereotypen Lokalisation ................. 623
c) Friihphasen der Erweiehung in Form des perivasculiiren Odems ........... 625
2. Spezielle Pathologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
a) Die vasculiire Mitbeteiligung bei der Entstehung von Riickenmarksschiiden nach Wirbel
siiulenverletzllngen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
b) VasclIliir gesteuerte .Riickenmarksschiiden bei intra- und extravertebralen Tlimoren ... 630
c) Die spinal vascldiiren Rtiirnngeu hcim Discnsprolaps und bei massiver Osteochondrose der
Halswirbelsiillle ....................... 631
d) Vaseuliire Genese der Spatliihmnngen bei Wirbelsaulendeformitiiten . 632
c) Spinale GefiiBmiBhildungen als Ursache einer akuten Myelopathie 633
f) Primiire GefiiBerkrankungen als Ursache der Myelopathie . 6:34
g) Myelopathien als Sekundiirfolge extraspinaler GefiiBprozesse . . . 638
h) Vascnliire Ruckenmarksschiiden als Operationsfolge. . . . . . . . 640
i) Uber die Miigliehkeit eines gefiiBreflektorischen Entstehllngsmechanismus der vasculiiren
Myelopathic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
j) Der Einflll13 Yon Hcrzleistnng llnd BlutdrllCk auf die Hiimodynamik der spinalen Durch-
blutllng. . . . . . . . . . . . . . 641
III. Die Klinik spinalcr Durchblutungsstiirungcn 646
1. Neurologische Symptomatologie. . . . . 646
a) Umsc:hriebenc vasclIlare Syndrome . . 646
b) Inkomplette lind komplette, vascllliire Querschnittssyndrome von einseitigem oder doppel-
seitigem Typ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
2. Pathologische Veriinderungen am Skelet-, Herz- und Kreislallfsystem 651
3. Prognosc und Differentialdiagnose spinaler Dnrchblutllngsstiirungen 652
4. Therapie spinaler Dllfehblutungsstiinmgcn 653
Literatur 655
Namenverzeichnis 676
Sach verzei eh nis 758
Raumheengende Prozesse im Spinalkanal
(einschlieGlich Angiome und Parasiten)*.
Von
K. NI'l"fNER.
Mit 171 Abbildungen.
A. Allgemeiner Teil.
I. Geschichtliches.
Die ersten Darstellungen von Querschnittsbildern finden sich bereits in dem beriihmten
Edwin-Smith-Papyrus, das vermutlich urn 2500 v.Chr. entstanden ist. Als Folge von
Tumoren wurden sie erstmalig von CHAUSSIER 1807 und danach von CERUTTI 1821 und
OLLIVIER D'ANGERS 1827 mitgeteilt. Operative MaBnahmen hingegen sind bis urn die
J ahrhundertwende fiir undurchfiihrbar gehalten worden.
Der erste erfolgreiche chirurgische Eingriff bei einer Riickenmarksgeschwulst geht
auf ·WILLIAM MACEWEN 188:3 zuriick, der zwei extramedulliire Tumoren entfernt hat.
1m Jahre 1887 hat VICTOR HORSLEY eine Geschwulst der Dura mater spinalis, die das
Riickenmark komprimiert hatte, auf operativem Wege zur Heilung gebracht und gemein
sam mit GOWERS 1888 dieses bis dahin in therapeutischer Hinsicht vollig aussichtslose
Gebiet erschlossen. ER~ST V. LEYDEN (1874) empfahl als erster, solche Kranken dem
Chirurgen zu iiberantworten, allerdings noch mit der Einschrankung, daB bei volliger
Hoffnungslosigkeit im geeigneten Fall ein Versuch gerechtfertigt sei; bis zu dieser Zeit
sind nur Einzelfalle von Wirbeltumoren chirurgisch angegangen und erfolglos operiert
worden.
Nach den fiir die Riickenmarkstumoroperationen historischen Jahren 1883 und 1887
hat BRuNs 1896 die zwischenzeitlich publizierten 20 Operationsfalle zusammengestellt.
Hierunter fanden sich als erste Deutsche LAQUER-REHN bzw. LICHTHEIM-MICULICZ
1891. 1m Jahre 1895 veroffentlichte ALLEN STARR drei exstirpierte Riickenmarkstumoren.
In Schweden wurde die erste Riickenmarkstumoroperation im Jahre 1900 von HENSCHEN
und LENNANDER vorgenommen und in Frankreich 1911 von BABINSKI-LECENE-BoURLOT.
1m Jahre 1908 betrug die Zahl der operierten Riickenmarkstumoren nach der Zu
sammenstellung von STURSBERG bereits 119 Falle und 1920 fiigte v. LENNEP weitere
153 Falle hinzu. Bei intramedullaren Tumoren wurden die ersten Exstirpationsversuche
1907 von v. EISELSBERG und CLAIRMONT, 1910 von VERAGUTH und BRuN und 1911 von
ELSBERG und BEER veroffentlicht.
Erst mit Einfiihrung der Liquoruntersuchung (FRO IN 1903), der "Hydrodynamik"
(QUECKENSTEDT 1916) und der Myelographie (KRAUSE und SIMONS 1911, SICARD und
FORESTIER 1922) wurden die anfanglichen diagnostischen Schwierigkeiten in zunehmen
dem MaBe beseitigt. Zu einem gewissen Teil beruhte der Fortschritt auch auf einer Ver
vollkommnung der chirurgischen Technik und der Wundbehandlung. Noch F. KRAUSE
schrieb 1911, daB die Operation urn so weniger verletzend sei, "je geringer die Zahl der
zu entfernenden WirbelMgen wird".
* BandscheibenvorfiiJ/e H. Bd. VIllI dieses Handbuchs.
1 Handbneh der Neuroehirnrgie, Bel. \'rr/2.
2 K. NITTNER: Raumbeengende Prozesse im Spinalkanal.
Inzwischen haben die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gezeigt, daB das Schicksal
eines Geschwulstkranken jedoch im wesentlichen von anderen Faktoren abhangt, wie
z.B. der Art und dem Sitz der Geschwulst, der biologischen Wertigkeit, der Dauer und dem
AusmaB der Rtickenmarkskompression usw., und daB die Ausdehnung einer Lamin
ektomie nur von untergeordneter Bedeutung ist. Freilegungen des Wirbelkanals in seiner
ganzen Lange (HORRAX und HENDERSON 1939) geben hierftir den eindeutigen Beweis.
Es ist das Verdienst ELSBERGs (1911), durch die "extrusion method" in der Behandlung
der bis dahin unzuganglichen intrameduHaren Geschwiilste schrittmachend gewesen zu
sein. Nach Spaltung des Rtickenmarks tiber dem Tumor bei offengelassener Dura nahm
er in einer zweiten Sitzung die Entfernung der vorgetretenen Geschwulst vor. Angeregt
durch den Erfolg gingen CUSHING 1927 und HORRAX 1936 Stiftgliome mit groBer Aus
dehnung an (HORRAX und HENDERSON 1939); im letzten Fall hatte sich der Tumor tiber
das gesamte Riickenmark erstreckt und konnte in zwei Sitzungen total entfernt werden.
Trotz der Ausdehnung der Geschwulst und der intramedullaren Lokalisation war eine
unerwartete Besserung der Ausfalle eingetreten. Bei einem von FOERSTER und BAILEY
1934 beschriebenen Fall handelte es sich urn ein Astrocytom, das sich vom 5. Hals- bis
zum 9. Brustsegment erstreckt hat. Der Tumor wurde stiickweise entfernt, doch starb der
Kranke am Tag nach dem Eingriff an Atemlahmung (FOERSTER und BAILEY 1936).
Umfassende und wichtige Abhandlungen der frtiheren Zeit tiber dieses Gebiet stam
men von HORSLEY und GOWERS (1888), BRUNS (1894 und 1895, 1896), H. SCHLESINGER
(1898), HENSCHEN und LENNANDER (1900/01), OPPENHEIM (1902), FR. SCHULTZE (1903),
CUSHING (1904), KRAUSE (1904), WALTON und PAUL (1905), AUERBACH und BRODNITZ
(1905/06), KRAUSE (1906), STERTZ (1906), OPPENHEIM (1906, 1907), BRUNS (1907, 1908),
KRAUSE (HlO8), FLATAU (1911), KRAUSE (1911), ELSBERG (1912, 1913), FOERSTER (1917),
CASSIRER (1920), ELSBERG (1920, 1923, 1925) u. a.
Das rein pathologisch-anatomische Interesse der Geschwulstforschung hatte sich schon
vor 1883 auch den Tumoren des Rtickenmarks zugewandt.
Bereits 1843 wurden juxtamedullare Wurzelknoten bei Neurofibromatose von SERRES
und KNOBLAUCH mitgeteilt. Klinisch anatomische FaIle von juxtamedullaren Tumoren
beschrieben 1865 CAlLEY und 1869 CHARCOT.
Uber die ersten soliden Gliome des Riickenmarks berichteten 1867 SCHUEPPEL und 1869
HOFFMANN. Die Gattungen des Glioms, Psammoms und Sarkoms hatte VIRCHOW (1847,
1863-1865) aufgestellt und das Gliom als spezifische Geschwulstart des Zentralnerven
systems angesehen, das von der Glia als der spezifisch gebauten Stiitzsubstanz hervor
gebracht wird. COHNHEIM (1878) hatte aus anatomischen Merkmalen der Geschwiilste und
ihrem Mutterboden atiologische Auskiinfte - vorwiegend in teratogenetischer Hinsicht -
zu geben versucht. Auch Diskussionen iiber das gegenseitige Verhalten von Tumor und
Syringomyelie waren zu dieser Zeit bereits im Gange (v. LEYDEN 1876, GAUPP 1888,
ZIEGLER 1888, HOFFMANN 1893, ROSENTHAL 1898, PINNER 1914, MCPHERSON 1925 u. a.).
BAILEY (1929) dehnte die vor aHem von LINDAU (1926) fiir die Kleinhirn-Cysten ver
tretene Ansicht einer Kombination von Hohlenbildung und Tumor auch auf das Riicken
mark aus, wobei er diese Gebilde als exsudative Erzeugnisse primarer, gefaBreicher Ge
schwiilste auffaBte.
Mit dem Klassifizierungsversuch von BAILEy-CUSHING (1926) wurde das Prinzip der
morphologischen Klassifikation der gliosen Geschwtilste eingefiihrt. 1932 hat KERNOHAN
an dem Krankengut der Mayo-Klinik seine diesbeztiglichen Ergebnisse mitgeteilt; er
fand, daB ein weit haufigeres Vorkommen epithelialer Zellverbande fiir die Spinalregion
eine gewisse Besonderheit darstellt.
Ftir die M eningiome - damals als Duraendotheliome bezeichnet - wurden von
M. B. SCHMIDT 1902 auch normalerweise in der Dura vorkommende arachnoidale Zell
kolben als mutmaBliches Ausgangsmaterial dieser Geschwiilste angesehen. Die Bezeich
nung "Meningiom" ftihrte CUSHING 1922 ftir die frtiher sog. Duraendotheliome ein.
Gegen das von PENFIELD (1931) und ELSBERG (1931) benannte "meningeal fibroblastoma"