Table Of ContentWie wir leben werden
Matthias Horxgilt als einflussreichster Trend- und Zukunftsforscher im
deutschsprachigen Raum. Er war Redakteur unter anderem bei Tempo
und Die Zeit.Seine Bücher wurden zu Bestsellern. Matthias Horx lebt
mit seiner Frau Oona Strathern und zwei Söhnen in Wien.
Matthias Horx
W i e w i r l e b e n
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Unsere Zukunft beginnt jetzt
Campus Verlag
Frankfurt/NewYork
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ISBN 3-593-37777-2
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Wohlstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Krieg und Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Das ganze Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Epilog:Das 22.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Nachwort anstelle einer Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
Vorwort
Kassandra, Dr. Popper, Helga,
Kosmo und ich
Propheten sagen,trotz ihres Namens,nicht die Zukunft
voraus.Niemand kann dies,und niemand sollte den Anspruch
erheben.Was Propheten können,ist,die Wahrheit in ihrer
Weise zu sagen.Sie können darauf hinweisen,dass der Kaiser
keine Kleider hat.Sie können vor Gefahren warnen.Vor
allem aber können sie einen Weg zeigen,um die Dilemmata
der Gegenwart zu erhellen.Und den Geist auf die Heraus-
forderungen zu konzentrieren,die vor uns liegen.
Charles Handy
Wie wird Zukunft gemacht?
Stellen wir uns einen großen Raum vor, dessen Wände irgendwo im Un-
endlichen verschwimmen. Gedämpftes Licht, wie wir es vom Beginn
von Theatervorstellungen gewohnt sind, wenn das Publikum erwar-
tungsvoll auf unbequemen Sitzen hockt. Räuspern im Saal. Auf der
Bühne steht ein Tisch. Ein großer, alter, von Rotweinflecken und Kin-
derschnitzereien gezeichneter Tisch, auf dem eine altmodische Kaffee-
kanne steht.
Der Tisch der Geschichte.
Links öffnet sich jetzt eine Tür. Kassandra tritt ein. Obwohl Kassan-
dra in vielen Fällen in männlicher Gestalt auftritt, ähnelt sie in diesem
Moment einem frauenfeindlichen Klischee: eine Dame jenseits der Me-
nopause, ein bisschen wie Nina Hagen gemischt mit Hillary Clinton
und Alice Schwarzer. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid von Gaul-
tier. Flache, graue Schuhe. Kurze, leicht rötlich gefärbte Haare.
Missbilligend schaut sie zu uns, dem nervösen Publikum, das mit
Bonbonpapier raschelt.
8 WIE WIR LEBEN WERDEN
Kassandra ist uns allen wohl bekannt. Sie kennt sich aus in Sachen
Zukunft. Die Menschheit wird, so oder so, an ihrer Dummheit, Un-
reife, Hybris, an Gier, falschem Denken, Wahnsinn, Geilheit und inne-
rer Fäulnis scheitern. Die Menschheit wird sich zu Tode fressen! (Steigt
nicht die Anzahl der Dicken unaufhörlich?) Sie wird sich mit Hormo-
nen selbst vergiften und unfruchtbar werden! (»Spermozid! Kein
Mensch hat mehr Sex!«) Wir werden an Terror zugrunde gehen, an
Kindesmissbrauch, »Global Warming«. Wir werden unsere sauer ver-
dienten Ersparnisse verlieren, unser ganzer Wohlstand wird sich in
Krebs und Ruin auflösen. Dafür steht Kassandra.
Eigentlich kennt sie nur einen einzigen Satz, ein schwarzes Man-
tra, das sie, ohne auch nur andeutungsweise zu ermüden, wiederholt.
In den Zeitungen. Im Fernsehen. In dicken Büchern und Filmen mit
düsterer Musik. Im Gespräch, in Nebensätzen, auf Partys, mit Freun-
den. Auf Intellektuellen-Kongressen und in drei Millionen Talkshows
(pro Tag):
»Es wird übel enden!«
Natürlich wird es übel enden. Das wissen wir ja. Wir sind fehlbar,
unser Leben ist kurz und endet in sich auflösenden Molekülen. Aber
Kassandra setzt dieser Einsicht noch eins drauf. Sie macht aus dieser
Erkenntnis einen Triumph. Eine Inszenierung. Und diese Inszenierung
dient vor allem – ihr selbst.
Als sie ein Kind war, leckten Schlangen ihre Ohren im Schlaf. Kas-
sandra wurde daraufhin Priesterin des Apollo, der ihr versprach, ihre
Weisheit zu vertiefen. Kassandra ging zum Schein auf des Gottes An-
sinnen ein, weigerte sich aber dann, mit ihm zu leben.
Francis Bacon (1561–1626) sprach vom Kassandra-Verrat: Kassan-
dra verrät uns, weil sie uns die Hoffnung nimmt. Sie weiß alles, sie kennt
das Übel, aber daraus folgt keine Konsequenz. Sie führt uns lediglich
vor, dass wir zu dumm sind.
Der Mensch hat keine Stimme gegenüber dem Schicksal!
Kassandra nimmt also mit einem Stoßseufzer an der linken Seite un-
seres Tisches Platz. Sie zieht sich die Kekse und die Kaffeekanne herü-
ber. Und zündet sich – ohne zu fragen, ob es jemanden stört – mit ei-
nem klickenden, goldenen, gerippten Feuerzeug eine Zigarette an.
Gauloises, schweres Kaliber. Der Tisch, alt und unbeeindruckt, mit vie-
VORWORT 9
len archaischen Kratzern im Pinienholz, harrt der Dinge, die da kom-
men sollen.
Wen sollen wir dieser starken, archaischen Figur gegenübersetzen?
In jeder Talkshow würde sie den Platz auf dem roten Sofa direkt neben
dem Moderator bekommen (»Frau Kassandra, Sie denken also, der Un-
tergang steht bevor…«).
Aus einer Tür auf der anderen Seite der Kulisse tritt nun ein hage-
rer, asketisch wirkender Mann. Er könnte ebenso gut 50 wie 70 sein.
Sofort fallen seine blitzenden Augen auf. Seine konturierte Nase und
der feine, fast feminine Mund haben etwas Ironisches. Er ist in jener
Art unaufwendig klassisch gekleidet, die nur wahre Kenner goutieren
(dem Stil des »Kunstvoll-altern-lassen-Könnens«). Er trägt nichts bei
sich als eine alte Aktentasche, die einem Arztkoffer ähnelt.
Ich möchte diesen Gegenanwalt Dr. Popper nennen. Weil er natür-
lich eine Menge von Sir Karl Popper hat, wenn er auch nicht mit ihm
identisch ist (es finden sich noch starke Anteile von Peter Ustinov, Wins-
ton Churchill und Woody Allen, aber auch von Frauen, die ich wegen
ihrer zähen, nüchternen Hoffnungsenergie liebe).
Karl Popper schrieb sein Schlüsselwerk Die offene Gesellschaft und
ihre Feinde in den dunkelsten Zeiten des 20.Jahrhunderts. Im Jahre
1939, als in Europa der Weltenbrand begann und seine Intellektuellen
in alle Winde zerstreut mit dem Verbrechen konfrontiert waren, ver-
fasste er ein Werk der unbeugsamen Hoffnung. In Neuseeland, am an-
deren Ende der Welt. Er ist also nicht der Blauäugigkeit verdächtig.
Ignoranz wird man ihm schwerlich vorwerfen können. Er weiß, dass
das Böse existiert.
»Alles Leben ist Problemlösen«, wird Dr. Popper leise sagen, wäh-
rend er zögerlich am anderen Ende des Tisches stehen bleibt und nicht
so recht weiß, wo er mit seinen Händen und seiner Aktentasche, aus der
eine Thermoskanne ragt, hin soll. »Die Menschen sind nicht dumm. Sie
sind lernfähige Tiere. Und als solche prinzipiell zur Zukunft begabt.«
Kassandra schaut ihn nicht an. Ihr Blick ist ins Publikum gerich-
tet. »Welche Probleme haben wir denn in hunderttausend Jahren
Menschheitsgeschichte gelöst? Denken Sie an die ständig steigende
Erdbevölkerung. Die Entwicklung neuer Seuchen. Aids. Hunger.
Kriege überall!«