Table Of ContentPSZ-Orucke
Schriftenreihe des Psychosozialen Zentrums (PSZ)
Universitat Ulm
Herausgegeben von H. Kachele P. Novak H. C. Traue
M. Cierpka E. Nordmann
(Hrsg.)
Wie normal
ist die Normalfamilie?
Empirische Untersuchungen
Mit 23 Abbildungen
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York
London Paris Tokyo
Reihenherausgeber:
Prof. Dr. Horst Kachele
Prof. Dr. Dr. Peter Novak
Priv.-Doz. Dr. Harald C. Traue
Psychosoziales Zentrum der Universitat Ulm
Am HochstraB 8,0-7900 Ulm
Bandherausgeber:
Dr. Manfred Cierpka
Abt. Psychotherapie, Universitat Ulm, 0-7900 Ulm
Dipl.-Psychologe Erik Nordmann
PLK Weissenau, Abt. Psychiatrie I, Universitat Ulm
0-7980 Ravensburg-Weissenau
Wir danken der Firma Janssen, Neuss, fOr die finanzielle UnterstOtzung
des Familienworkshops 1986 an der UniversitAt Ulm im Rahmen des
Sonderforschungsbereichs 129 nPsychotherapeutische Prozesse" und
der VerOffentlichung der TagungsbeitrAge in diesem Band.
ISBN-13: 978-3-540-19341-8 e-ISBN-13: 978-3-642-73763-3
DOl: 10.1007/978-3-642-73763-3
Das Werk ist urheberrechtlich geschOtzt. Die dadurch begrOndeten Rechte. insbesondere die
der Obersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabel
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der Spelcherung in Datenverarbeltungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser
Verwertung, vorbehalten. Die VervielfAltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes
ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechts
gesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 9. September 1965 In der Fassung yom 24. Juli
1985 zulAssig. Sie ist grundsAtzlich vergmungspfllchtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den
Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1988
Druck und Einband: Ulrich Zipperlen, Ulm
2119/3154-543210
Vorwort
Wie normal ist die Normalfamilie1
Mit diesem provokativen Titel versuchen wir unser Dilemma in eine
Kurzformel zu bringen: Wenn man normale von pathologischen, klini
sche von nichtklinischen, funktionale von dysfunktionalen Familien
unterscheidet wird einem unbehaglich zumute, weil eine Klassifika
tion vorgenommen wird, von der man weiB, daB sie allzu simpel ist.
Andererseits kommt man urn Klassifikationen dann nicht herum, wenn
man diagnostische Oberlegungen anstellt und fUr seine Behandlungs
strategien Handlungsanweisungen benotigt. Die Auseinandersetzung mit
der "Norma lfamil ie" scheint also notwendig. Vie lleicht 1i egt es an
der oben angesprochenen Unbehaglichkeit, daB im deutschsprachigen
Raum so wenig Untersuchungen zu diesem Thema unternommen werden. Mit
dem vorliegenden Sammelband machen wir einen Versuch in diese Rich
tung.
Das Such ist in zwei Teile gegliedert, in einen Teil A tiber Fami
liendynamik und Lebenszyklus und in einen Teil B, in dem die Messung
von Ressourcen von Familien im Mittelpunkt steht. 1m Teil A stehen
entwicklungspsychologische Arbeiten Uber die Familie im Vordergrund.
Die Veranderungen in der Familie im Laufe der Lebensspanne werden
thematisiert. Die Entwicklung des Individuums wird in den Zusammen
hang mit Veranderungen in der Familie gestellt, so daB von einem
interaktiven Modell ausgegangen wird, das die Ebenen Individuum/Fa
milie/Gesellschaft beinhaltet. Durch das Studium der Veranderungen
in der Familie konnte es gelingen, jene grundlegenden familiendy
namischen Parameter zu identifizieren, die fUr eine prozeBorien
tierte Familientheorie relevant sind.
Der Teil B lenkt die Aufmerksamkeit auf die positiven Bewaltigungs
moglichkeiten von Familien. Durch diese Perspektive wird der klini
sche Blick, der vorwiegend auf die Psychopathologie und die Storun-
II
gen in Familien gerichtet ist, auf die sogenannten "gesunden Antei
le" ausgedehnt. Methodische Oberlegungen, wie diese Ressourcen ein
gesch8tzt werden k6nnen, werden in den einzelnen Arbeiten referiert.
In der letzten Arbeit (Felder) wird ein Forschungsprojekt vorge
stellt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die heutige politische
Sensibilisierung im Kontext der Vergangenheitsbew8ltigung, insbeson
dere der NS-Zeit, innerhalb von Familien zu betrachten.
Wir hoffen mit diesem Buch, einen BrQckenschlag zwischen Familien
theorie, -therapie und -forschung zu erm6glichen. Die Auseinander
setzung mit dem Begriff der Normalitat im Zusammenhang mit Fami
lien scheint fUr alle drei Bereiche notwendig.
Die Herausgeber danken Frau G. Steinwand fDr die sorgf8ltige Manu
skriptherstellung und der Firma Janssen/Neuss fUr die finanzielle
UnterstDtzung.
Unser Dank gilt an dieser Stelle auch den Mitarbeitern des Sonder
forschungsbereichs 129 "Psychotherapeutische Prozesse" an der Uni
versitat Ulm, die durch ihre konstruktive Kritik den Bereich der Fa
milienforschung in den letzten Jahren gef6rdert haben.
M. Cierpka/E. Nordmann
III
Inhaltsverzeichnis:
Einfuhrung: M. Cierpka, E. Nordmann
Normalitat und Normalfamilie
Teil A: Familiendynamik und Lebenszyklus
Kapitel 1: K. Kreppner
Entwicklung in der Familie: Veranderung in der
Beziehungsdynamik nach der Geburt des zweiten
Kindes
Kapitel 2: H.-J. Meyer
Partnerschaft und emotionale Befindlichkeit von
Eltern nach der Geburt ihres ersten und zweiten
Kindes
Kapitel 3: A. Engfer
Zur prognostischen Identifizierung gewaltbelasteter
Familien
Teil B: Messung der Ressourcen von Familien
Kapitel 4: A.M. Leimkuhler
Soziales Netzwerk - eine begrenzte Ressource fur
Angehorige psychisch Kranker.
Netzwerk und soziale Unterstutzung bei Huntington
Familien
Kapitel 5: S. Kotter
Pflegefamilie - Normalfamilie?
Die Abhangigkeit des Erfolges von Pflegeverhaltnissen
vom Bewaltigungspotential der Pflegefamilie
Kapitel 6: S. Arnold, P. Joraschky
Die Messung der Flexibilitat des Familiensystems mit
einem Skulpturverfahren nach Kvebaek
Kapitel 7: H. Felder
Politisches Handeln im transgenerationalen Vergleich
- eine Untersuchung normaler Familien -
IV
Mitarbeiterverzeichnis:
Dipl.- Psych. S. Arnold Psych. Universit&tsklinik
Schwabachanlage 8/10
8520 Erlangen
Dr. med. M. Cierpka Universit&t Ulm
Abt. Psychotherapie
Am Hochstr&B 8
7900 Ulm
Dr. A. Engfer Staatsinstitut fur Fruhp&dagogik
und Familienforschung
Arbabe 11 astr. 1
8000 Munchen 81
Dipl.- Psych. H. Felder Liebigstr. 38
6300 GieBen
Dr. med. P. Joraschky Psych. Universit&tsklinik
Schwabachanlage 8/10
8520 Erlangen
Dipl.-Psych. S. Kotter Universit&t Essen
Erziehungswissenschaften
Fachbereich 2
Postfach 103764
4300 Essen 1
Dr. K. Kreppner Max-Planck-Institut
Lentzea 11ee 94
1000 Berlin 33 - Dahlem
Dipl.- Soz. A.M. Leimkuhler Rheinische Landesklinik
Postfach 120510
4000 Dusseldorf 12
Dr. H.-J. Meyer Techn. Hochschule Darmstadt
Institut fOr Psychologie
Fachbereich 3
Steubenplatz 12
6100 Darmstadt
Dipl.-Psych. E. Nordmann PLK Weissenau
Abt. Jugendpsychiatrie
7980 Ravensburg-Weissenau
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E;nfilhrung:
M. Cierpka, E. Nordmann
Normalitit und Normalf ..i lie
Was ist mit normal im Zusammenhang mit Familien gemeint? Mit dem Be
griff der Normalitat in Familien kann je nach Bezugssystem verschie
denes gemeint sein. Der Kliniker hat im Hinblick auf diesen Begriff
andere Referenzpunkte im Auge als der Familienforscher. Walsh (1982)
hat die Normalitat in Familien unter vier Perspektiven beschrieben.
Diese Perspektiven hat sie in Anlehnung an Offer und Sabshin (1966)
unterschieden, die in einem Ubersichtsartikel Uber theoretische und
klinische Konzepte von psychischer Gesundheit verschiedene Defini
tionen von Normalitat in der sozialwissenschaftlichen Literatur dis
kutieren.
1. Normalitat als Gesundheit.
Das Unterscheidungskriterium zwischen normal und pathologisch ist
hier das Vorhandensein von Symptomen bei Familienmitgliedern. Die
Abwesenheit von Symptomen wird mit psychischer Gesundheit und
Normalitat gleichgesetzt. Dieses eher negative oder konservative
Konzept wird von Familienforschern immer wieder benUtzt. FUr Ver
gleichsuntersuchungen hat sich diese Unterscheidung von "klini
schen und nichtklinischen" Familien (Riskin, 1976) bewahrt.
2. Normalitat als Utopie.
Diese Sichtweise von Normalitat bedeutet fUr Familien, daB diese
in eher positiven und idealen Beschreibungen charakterisiert wer
den. Optimal funktionierende Familien werden am oberen Ende eines
Kontinuums angesiedelt, dysfunktionale Familien eher am unteren
Ende. Diese Konzeptualisierung setzt voraus, daB bestimmte fami
liendynamischen Variablen definiert sind, deren Schwachen und
Starken bestimmt werden konnen.
- 2 -
3. Normalitat als Mittelwert
Dieses Konzept wird meistens von Soziologen im statistischen
Sinne gebraucht. Eine Familie wird als normal bezeichnet, wenn
sie im Normbereich von bestimmten MeBvariablen liegt. Dies kann
dazu ffihren, daB Normalfamilien nach dieser Definition durchaus
klinisch auff3llig sein kOnnen, wenn z.B. ein Familienmitglied
Symptomtrager ist.
4. Normalitat als ProzeB.
In dieser Perspektive wird das normale Verhalten im Kontext von
multiplen zirkularen Prozessen in einem transaktionalen System
gesehen. W3hrend die anderen Ansatze Normalitat zu einem bestimm
ten Zeitpunkt eher querschnittartig festlegen, wird hier der Pro
zeBcharakter betont. Erikson's Konzeptualisierung der norma len
PersOnlichkeitsentwicklung als lebenslanger ProzeB ist hierffir
beispielhaft. Der ProzeBcharakter im Familiensystem wird entspre
chend betont. Die basalen familiaren Prozesse beinhalten die In
tegration, Aufrechterhaltung und das Wachstum der Familie als
Ganze, sowohl in der Beziehung zum Individuum als auch zu fiberge
ordneten sozialen Systemen. Was als normal anzusehen ist, wird
ffir den augenblick1ichen Zustand und den sozia1en Kontext defi
niert. Die st3ndigen Veranderungen im Familiensystem, die sowohl
durch inneres Wachstum oder Reifung der einzelnen Familienmit
glieder als auch durch aufgezwungene Ver3nderungen von auBen zu
stande kommen, werden hier berDcksichtigt.
Jede diese Perspektiven beleuchtet einen anderen Aspekt von Normali
tat. Die jewei1ige Perspektive hangt von der theoretischen Frage
stel1ung ab, unter der die Normalfami1ie untersucht werden so11. Die
verschiedenen Perspektiven schlieBen sich auch nicht aus. So ist es
durchaus denkbar, daB sich das zweite Konzept des optimalen Funktio
nierens mit dem transaktionalen ProzeB fiber die lebenszyk1ischen
Phasen hinweg verbinden laBt. Olson et. al. (1983) haben in ihrer
Studie fiber die Ver3nderungen bestimmter familiendynamischer Varia
blen im Lebenszyklus beide Perspektiven ffir Normalitat benfitzt. So
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definierten sie Normwerte fur die Variablen Adaptabilitat und Koha
sion je nach lebenszyklischer Phase. Je hoher die Familien in den
Variablen Adaptabilitat und Kohasion liegen, urn so optimaler durfen
sie in ihrer Funktionalitat eingeschatzt werden. Andererseits wird
der Veranderung im Familiensystem insofern Rechnung getragen, als
verschiedene Normwerte fur jede lebenszyklische Phase angegeben wer
den.
Was meinen wir mit Normalfamilie? Diese weitgefaBte Fragestellung
fuhrt uns schnell zur Definition von Familie uberhaupt. Als in den
50iger Jahren die Familientherapie gegrundet wurde, meinte man damit
einen Verband von Familienmitgliedern, der aus dem verheirateten El
ternpaar und eigenen Kindern bestand. Diese Defenition durfte auch
heute noch bei den meisten Familientherapeuten und Familienforschern
vorherrschen. Wir sollten jedoch langsam die Tatsachen berucksichti
gen, die in den letzten Jahren zunehmend zu Veranderungen in den Fa
milienkonstellationen gefuhrt haben.
FUr Amerika gilt z.B. (vgl. Carter, 1986, S. 18), daB die Schei
dungsrate bei beinahe 50 % liegt, 75 - 80 % der geschiedenen Paare
sich wiederverheiraten, die Scheidungsrate dieser wiederverheirate
ten Familien 1980 bis auf 60 % angestiegen ist. Die Zahl der Ein
Eltern-Familien, vor allem die der alleinerziehenden Mutter, ist
zwischen 1970 und 1980 auf 51 % angestiegen. Oberraschend hoch ist
die Zahl der gleichgeschlechtlichen Paare, 6 % unverheiratete Manner
und 5 % unverheiratete Frauen. DaB wir unser herkommliches Bild ei
ner Familie revidieren mussen, wird auch aus den Zahlen der deut
schen soziodemographischen Untersuchungen (vgl. Teichert, 1984, S.
14 ff.) deutlich. Obwohl in Deutschland nur ein Drittel der Ehen ge
schieden werden, ist seit 1967 eine beschleunigte Zunahme der Ehe
scheidungen festzustellen. Zwischen 1966 und 1976 - also vor Ande
rung des 1977 inkraft getretenen neuen Scheidungsrechts - stiegen
die Scheidungen urn 80 % an. Kinderlose Ehen sind am scheidungsanfal
ligsten, wahrend zwei oder mehr Kinder eher "stabilisierend" wirken.
Auch in Deutschland haben wir 11 % Ein-Eltern-Familien, so daB wir