Table Of ContentFORSCHUNGSBERICHTE DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
Nr. 3192 / Fachgruppe Geisteswissenschaften
Herausgegeben vom Minister fUr Wissenschaft und Forschung
Prof. Dr. phil. Jfirgen Grzesik
Dr. phil. Michael Fischer
PAdagogisches Seminar
der Philosophischen F akultAt
der UniversitAt zu KlHn
Was leisten Kriterien
ffir die Aufsatzbeurteilung?
Theoretische. empirische und praktische Aspekte des Gebrauchs
von Kriterien und der Mehrfachbeurteilung nach globalem
Ersteindruck
Westdeutscher Verlag 1984
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LLeennggeerriicchheerr HHaannddeellssddrruucckkeerreeii,, 44554400 LLeennggeerriicchh
INHALT
Seite
Vorwort 1
Jurgen Grzesik
Erster Teil: Grundsatzliches zum Gebrauch von Kriterien
im ProzeB der Aufsatzbeurteilung 3
1. Was wird von Kriterien fur die Aufsatzbeurteilung
erwartet, und wieweit konnten bis jetzt diese
Erwartungen erfullt werden? 4
2. Der Beziehungszusarnrnenhang, in dem Beurteilungs
kriterien fur Aufsatze stehen 8
2.1 Das Urteil setzt Kriterien zu einem bestirnrnten
Aufsatz in Beziehung 8
2.1.1 Der Aufsatz wird als Fall einer Kategorie angesehen 9
2.1. 2 Dem Aufsatz wird ein Grad in einer Dimension zuge
sprochen 10
2.2 Der Aufsatz ist vom Schuler unter bestirnrnten
Bedingungen geschrieben worden 12
2.2.1 Unterrichtliche Entstehungsbedingungen 12
2.2.2 Subjektive Entstehungsbedingungen 14
2.3 Die Kriterien haben eine Entstehungsgeschichte 15
2.3.1 Begrundung der Geltung von Kriterien durch eine
Theorie der relevanten Dimensionen des Aufsatzes 16
2.3.2 Die begriffliche Fassung der Kriterien 20
2.4 Die Anwendung von Kriterien auf einen Aufsatz hangt
von Bedingungen in der Person des Beurteilers ab 24
2.4.1 Die Fahigkeit, Kriterien zu verstehen 25
2.4.2 Die Fahigkeit, Kriterien anzuwenden 25
2.5 Der Gebrauch von Kriterien kann mehrere unter
schiedliche Funktionen erfullen 27
2.5.1 Die unmittelbaren Funktionen des Kriterien
gebrauchs im BeurteilungsprozeB 27
2.5.2 Die mittelbaren Funktionen des Kriteriengebrauchs
in einem neuen Verwendungszusarnrnenhang 29
2.6 Die feldartige Struktur des Kriteriengebrauchs 31
3. Der Satz von 17 Kriterien, der der Untersuchung
zugrundeliegt 32
Michael Fischer
Zweiter Teil: Empirische Untersuchungen zur analytischen
und globalen Aufsatzbeurteilung 47
1. Anlage der Untersuchung 47
1.1 Internationale Aktivitaten zur Erforschung der
Aufsatzbeurteilung 47
1.2 Ziele der Untersuchung 53
1.3 Aufbau der Untersuchung 55
1. 3.1 Die Aufsatzstichprobe 55
1.3.2 Die Beurteilerstichprobe 58
1. 3.3 Der Untersuchungsverlauf und die erhobenen Daten 59
III
Seite
2. Die Reduktion des Kriterienkataloges auf einen
Faktorensatz 61
2.1 Korrelationen zwischen den Kriterien 61
2.2 Resultate der Faktorenanalyse 64
2.3 Interpretation der Faktoren 69
3. Die Gtite der analytischen Aufsatzbeurteilung 76
3.1 Intercoderreliabilitat 76
3.2 Retestreliabilitat 81
3.3 Validitat 83
4. Mehrfachbeurteilung nach globalem Ersteindruck 92
4.1 Das Urteil nach globalem Ersteindruck 93
4.1.1 Der implizite Gebrauch von Kriterien im g'lobalen
Schatzurteil 97
4.1. 2 Funktionen der Globalbeurteilung 101
4.2 Die Mehrfachbeurteilung 103
4.3 Empirische Befunde zur Mehrfachbeurteilung nach
globalem Ersteindruck 106
4.4 Der Anteil impliziter Kriterien am globalen
Schatzurteil 112
4.5 Mehrfachbeurteilung bei analytischer Auswertung
der Aufsatze 117
5. Eine Kontrolluntersuchung mit einer Stichprobe
von Studenten 118
5.1 Fragestellungen der Kontrolluntersuchung 118
5.2 Aufbau und Methode der Kontrolluntersuchung 119
5.3 Ergebnisse 120
5.4 Zusammenfassung der Resultate aus der Kontroll
untersuchung 127
6. Empirische Befunde zu den Beurteilern 128
6.1 Merkmale von Beurteilern 128
6.2 Eine Typologie auf der Basis von vier Merkmalen
des Beurteilungsverhaltens 131
6.3 Typologien auf der Basis von zwei Merkmalen des
Beurteilungsverhaltens 136
6.4 Die intraindividuelle Stabilitat von Urteils
streuung, -konsistenz und -kompatibilitat 142
6.4.1 Die intraindividuelle Stabilitat des Urteils
standards 144
6.5 Eine Beurteilertypologie auf der Basis von
Praferenzen ftir Kriterien 155
6.6 Zusammenfassung der Resultate tiber Beurteilertypen 157
7. Empirische Befunde zu den Urteilskriterien 158
7.1 Merkmale der Kriterien 158
7.2 Das Gewicht der einzelnen Kriterien bei der
Beurteilung 166
7.3 Beziehungen zwischen den Kriterien 173
7.4 Zusammenfassung der Befunde zu den Urteils
kriterien 181
IV
Seite
JUrgen Grzesik/Michael Fischer
Dritter Teil: Folgerungen aus den empirischen Befunden
fUr die Verwendung von Kriterien in der
Praxis der Aufsatzbeurteilung 183
1. Der Gebrauchswert eines groBen Kriteriensatzes 184
2. Der Gebrauchswert eines kleinen Kriteriensatzes 205
3. Der Gebrauchswert der Mehrfachbeurteilung nach
globalem Ersteindruck 209
4. Eine neue Einstellung bei der Beurteilung von
Aufsatzen 215
Anmerkungen 221
Anhang 233
Literaturverzeichnis 243
v
Vorwort
Die Ausbildung von Schreibfahigkeiten gehort in allen Kultur
staaten zu den grundlegenden Aufgaben des Schulunterrichts. So
bald die elementaren Schreibfahigkeiten vermittelt worden sind,
wird he ute ftir die weitere Entwicklung der Schreibkompetenz in
der Regel ein besonderer Aufsatzunterricht in der Muttersprache
eingerichtet. Ftir ihn ist eine Beurteilung der Schreibleistun
gen selbstverstandlich, weil nur so der Schtiler eine Rtickmel
dung tiber die Entwicklung seiner Fahigkeiten erhalt. DaB diese
Beurteilung auch im Gesamtzusammenhang der Bewertung von Schti
lerleistungen eine wichtige Rolle spielt, kommt hinzu.
So sind im Aufsatzunterricht stets Kriterien im Gebrauch. Schti
ler wie Lehrer haben aber keinen vollen Vberblick tiber die Kri
terien, die im Spiel sind, denn sie sind ihnen keineswegs samt
lich bewuBt. Das AusmaB des Kriteriengebrauchs ergibt sich
nicht nur aus der Haufigkeit ihrer Verwendung, sondern auch aus
ihrer Vielzahl. Daher hat der Kriteriengebrauch nicht nur im
Hinblick auf seine Funktionen, sondern auch im Hinblick auf den
Umfang dieser Praxis eine kaum zu tiberschatzende Bedeutung.
Was die Kriterien im Gebrauch tatsachlich leisten, das ist
trotz einer verhaltnismaBig umfangreichen Literatur, vor allem
in den USA, noch wenig aufgeklart. Das MiBverhaltnis zwischen
der praktischen Bedeutung des Kriteriengebrauchs ftir die Schu
lung der Schreibfahigkeiten und ftir die Leistungsbewertung auf
der einen Seite und unseren Kenntnissen von dem, was sie ver
mogen, auf der anderen Seite ist kraB.
Diese Untersuchung will deshalb zur Aufklarung der Leistungen
von Kriterien in der Praxis der Aufsatzbeurteilung beitragen.
1m ersten Teil wird der Zusammenhang des Kriteriengebrauchs im
Aufsatzunterricht phanomenologisch beschrieben. Auf der Grund
lage dieser Theorie des Kriteriengebrauchs wird im zweiten Teil
der tatsachliche Kriteriengebrauch empirisch tiberprtift. Dabei
werden internationale Untersuchungen zur Objektivitat, Reliabi
litat und Validitat repliziert, aber auch neue Wege beschrit
ten. Nur so konnten Annahmen tiber weitere Aspekte des Krite
riengebrauchs, z.B. tiber Beurteilertypen und unterschiedliche
Leistungen ein und desselben Kriteriums bzw. verschiedener Kri
terien, empirisch geprtift werden. 1m dritten Teil schlieBlich
werden aus der Theorie, die den Gesamtzusammenhang des Krite
riengebrauchs umfaBt, und ihrer partiellen Vberprtifung in empi
rischen Untersuchungen Folgerungen ftir die Praxis der Aufsatz
beurteilung gezogen. Sie reichen freilich nur so weit, wie es
durch die Theorie und Empirie dieser Untersuchung begrtindet
werden kann. Es gibt aber auch etliche Gemeinsamkeiten zwischen
dem Kriteriengebrauch in den engen Grenzen unserer Untersuchung
und jedem Kriteriengebrauch bei der Aufsatzbeurteilung. Ja, es
gibt sogar Gemeinsamkeiten mit der Beurteilung von komplexen
Schtilerleistungen aller Art, in jedem Fach und auch der mtind
lich geauBerten Leistung. So hoffen wir, daB es uns gelingt,
die Reflexion tiber einen sachgerechten Gebrauch von Kriterien
und eine angemessene Einschatzung ihrer diversen Leistungen zu
beleben.
Die in diese Publikation investierte Arbeit ist von so vie len
Mitarbeitern aufgebracht worden, daB wir sie nicht alle nament
lich anftihren konnen. Wir liefen sogar Gefahr, den einen oder
anderen dabei zu vergessen. Zuvorderst seien die Personengrup-
pen genannt, die an der Untersuchung ihren Anteil hatten: die
Leiter der Schulen, in denen die Aufsatze geschrieben worden
sind, und die Lehrer, die den Unterricht gehalten und auBerdem
die Klassenarbeiten beurteilt haben; die 40 Lehrer, die als
Fremdbeurteiler mit den drei Verfahren des groBen Kriteriensat
zes, eines kleinen Satzes und der globalen Mehrfachbeurteilung
die Aufsatze beurteilt haben, wobei die 30 Lehrer der Versuchs
gruppe den Lowenanteil der Arbeit zu bewaltigen hatten; die
beiden studentischen Beurteilergruppen; die Mitarbeiter bei der
Auswertung der Daten und der Herstellung des Manuskripts im
Computer. Obwohl wir alle un sere Arbeit im Dienst der Sache ge
tan haben, danken die Autoren der Untersuchung ihnen allen fur
die Bereitschaft zur Mitarbeit und den uber die jeweilige Ver
pflichtung weit hinausgehenden Einsatz und auch den hohen Grad
der Zuverlassigkeit.
Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Peter Fleischhauer, der im Ver
lauf des Forschungsprojektes "Interaktions- und Leistungstypen
im. Literaturunterricht" die Idee fur diese Untersuchung und den
ersten Kriteriensatz entwickelte; Herrn Dr. Norbert Meder, der
mit Herrn Dr. Fleischhauer und den Autoren eine entsprechende
Pilotstudie als Vorbereitung der Untersuchung durchfuhrte, das
Untersuchungsdesign festlegte und die Auswahl der Methoden be
ratend begleitete.
Ohne die finanzielle Forderung des Ministeriums fur Wissen
schaft und Forschung des Landes NRW hatte ein solches Projekt
gar nicht begonnen werden konnen. Obwohl die bewilligten Mittel
bei weitem nicht fur den erforderlichen Aufwand ausreichten, so
ware es ohne sie auch nicht zu dem zusatzlichen Einsatz gekom
men. 1m Interesse der gemeinnutzigen Sache ist deshalb den po
litischen Geldgebern uneingeschrankt zu danken.
2
Erster Teil: Grundsatzliches zum Gebrauch von Kriterien im
ProzeB der AufsatzEeurteilung---
Bei jeder Beurteilung eines Schtileraufsatzes sind Beurteilungs
kriterien im Spiel. Sobald ein Urteil ausgesprochen oder eine
Note niedergeschrieben wird, haben Kriterien ihre Funktionen im
UrteilsprozeB schon erftillt. Dieses universale Faktum ist nicht
zu bezweifeln und wird auch von niemand in Frage gestellt.
Selbst die Beftirworter der Mehrfachbeurteilung nach globalem
Ersteindruck (ein Verfahren, in dem mehrere Beurteiler dem
Aufsatz aufgrund des ersten Gesamteindr'ucks nach einmaligem
ztigigem Lesen sofort eine Note geben) set zen bei den Beurtei
lern eine Kompetenz zu differenziertem Urteilen voraus. Diese
Kompetenz ist nichts anderes als das Fakt"um, daB der Beurteiler
tiber Kriterien verftigt, ob er sich dessen bewuBt ist oder
nicht.
Sobald man aber genauer fragt, was denn Kriterien im Gesamtzu
sammenhang der Aufsatzbeurteilung leisten, dann steht man einer
verwirrenden Vielfalt von Problemen gegentiber. Sie ergibt sich
aus dem Tatbestand, daB Kriterien nur ein Faktor im komplizier
ten Beziehungszusammenhang des Beurteilungsprozesses sind und
keine selbstandigen, unter allen Umstanden in gleicher Weise
wirkenden GroBen. Was sie zu leisten vermogen, besteht deshalb
allein in den Funktionen, die sie in diesem Beziehungszusammen
hang erftillen konnen. Wenn diese Annahme stimmt, dann darf man
von Beurteilungskriterien nur Teilleistungen erwarten, auf kei
nen Fall jedoch eine Losung der gesamten Beurteilungsproble
matik.
Aus dieser tiberlegung ergibt sich die leitende Absicht der vor
liegenden Untersuchun~: Durch eine vielseitige empirische tiber
prtifung und eine grtindliche theoretische Analyse der Brauchbar
keit eines Satzes von 17 Kriterien 5011 ein Beitrag zur Aufkla
rung der Funktionen von Beurteilungskriterien im GesamtprozeB
der Aufsatzbeurteilung geleistet werden. Unter Fragestellungen,
die mit analytischen empirischen Methoden beantwortet werden
konnen, ist die Brauchbarkeit von Kriterien ftir die Aufsatzbe
urteilung vor allem in zahlreichen amerikanischen Untersu
chungen getestet worden. In deutschen Untersuchungen hat man
sich dagegen mehr mit didaktischen Fragestellungen befaBt, z.B.
dem Zusammenhang der Aufsatzbeurteilung mit den Zielen und den
Methoden eines kommunikationstheoretischen Aufsatzunterrichts.
Beide Untersuchungsrichtungen beschaftigen sich mit Teilfragen,
ohne sie im Gesamtzusammenhang der Beurteilungsproblematik
hinreichend genau zu lokalisieren. So berechtigt die einzelnen
Fragen in der Regel auch sind, so ftihrt ihre Isolierung gegen
tiber dem Gesamtzusammenhang doch sehr oft zu Antworten, die
eine tiber interpretation der erzielten Befunde darstellen und zu
einer tiberschatzung der untersuchten Zusammenhange verftihren.
Wir wollen weder der einen noch der anderen Untersuchungsrich
tung eine weitere Spezialuntersuchung, etwa zur interindividu
ellen tibereinstimmung von Urteilen oder der Bedeutung der Auf
satzart ftir den BeurteilungsprozeB, hinzuftigen. Dagegen wollen
wir durch die Form der explorativen empirischen Untersuchung
und ihrer theoretischen Aufarbeitung das Problemfeld der Auf
satzbeurteilung soweit aufhellen, wie unsere Mittel reichen. Da
wir viele Faden der bisherigen Forschung aufnehmen, konnen wir
getrennte Forschungsentwicklungen miteinander in Beziehung
setzen, z.B. die Untersuchungen zu den analytischen und den
holistischen Beurteilungsmethoden (Beurteilung mit der Hilfe
3
von Kriterien und in der Form der Bewertung nach dem Gesamtein
druck). Die Berlicksichtigung des Gesamtzusammenhanges wird uns
aber auch in die Lage versetzen, einige Antworten auf drangende
Fragen der Beurteilungspraxis zu geben, denn im Alltag der
Aufsatzbeurteilung muB immer innerhalb des unverklirzten Gesamt
zusammenhanges geurteilt werden.
In diesem ersten Teil der Untersuchung soll der Zusammenhang
entfaltet werden, in dem die von uns definierten und empirisch
liberprliften 17 Kriterien ihren Platz haben. Er bildet die theo
retische Grundlage flir die im zweiten Teil dargestellten empi
rischen Untersuchungen. 1m dritten Teil werden aus den theore
tischen Uberlegungen in diesem Teil und den empirischen Befun
den im zweiten Teil Folgerungen flir die Praxis der Anfsatzbeur
teilung gezogen.
1. Was wird von Kriterien flir die Aufsatzbeurteilung erwartet,
und wrewe~konnten bis jetzt diese Erwartungen erflillt
werden?
Oswald BECK hat 1974 in einer Umfrage an Deutschlehrer die Fra
ge gestellt: "Was mliBte getan werden, urn der Kritik insbeson
dere in der Zensurengebung flir Schlileraufsatze zu begegnen?"
Auf diese Frage antworteten 43,3% der Befragten mit der Forde
rung, einen "verbindlichen Kriterienkatalog" aufzustellen (BECK
1979, S.127).' Ohne diese und andere Befragungsergebnisse BECKs
zum Komplex von Kriterien und Kriterienkatalogen im einzelnen
zu wlirdigen, kann dieses Ergebnis als ein Indiz flir die hohen
Erwartungen, die an die Verwendung von Kriterien geknlipft wer
den, angesehen werden. Die seit 1974 ver6ffentlichten Versuche
zur Definition von Beurteilungskriterien sprechen daflir, daB
sich daran bisher nichts geandert hat (1).
Der Praktiker weiB natlirlich, welche Erwartungen zu der ex
tremen Forderung nach einem verbindlichen Kriterienkatalog
flihren k6nnen. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf die
einzelnen Erwartungen und ihren Zusammenhang zu werfen.
- Wer ein Kriterium auf einen Aufsatz anwendet, ist davon liber
zeugt, daB er ein Merkmal des Aufsatzes erfaBt. Damit ist er
zugleich sicher, daB er in diesem Punkte keiner Tauschung und
keinem Vorurteil erlegen ist. Er rechnet fest damit, daB er
jederzeit wieder dasselbe Merkmal erkennen wird und daB auch
jeder andere kompetente Beurteiler es zweifelsfrei identifi
zieren wird. Von einem Kriterium wird aufgrund dieses Selbst
verstandnisses des Beurteilers erwartet, daB es Objektivitat
garantiert, sofern es sich auf ein Merkmal des Aufsatzes
beziehen laBt und richtig angewendet wird.
- Mit der dem Kriterium zugeschriebenen Objektivitat soll es
zugleich Leistungsgerechtigkeit gewahrleisten. Denn wie
sollte man nicht in zwei Aufsatzen zweier verschiedener Schli
ler dasselbe Merkmal erkennen k6nnen, wenn dieses Merkmal
bereits in einem einzelnen Aufsatz objektiv erfaBt worden
ist? Die Stabilitat der Anwendung ein und desselben Krite
riums auf zwei Aufsatze desselben Schlilers (Gerechtigkeit
gegenliber der Leistung des einzelnen Schlilers zu verschiede
nen Zeitpunkten) und zwei oder mehr Aufsatze verschiedener
Schliler (Gerechtigkeit gegenliber der Leistung verschiedener
4
Schliler) ist eine logische Konsequenz aus der Objektivitat
des einzelnen Urteils.
- Die objektive Erfassung desselben Merkmals in den Aufsatzen
zweier oder mehrerer Schliler muB auch eine sichere Grundlage
flir die Zen sur bilden konnen, wenn in diesem Merkmal mit der
selben Objektivitat, mit der das Merkmal selbst erkannt wird,
Auspragungsgrade unterschieden werden konnen. Die festge
stellte Auspragung kann dann mit Auspragungen desselben
Merkmals in frliheren Aufsatzen eines Schlilers (individuelle
Bezugsnorm), in den Aufsatzen aller anderen Schliler der je
weiligen Lerngruppe (soziale Bezugsnorm) oder mit vorher zum
Ziel gesetzten Auspragungsgraden verglichen werden (Kriteri
umsnorm). So mliBte die Beurteilung durch Kriterien auch eine
Grundlage flir die Notengerechtigkeit sein.
Aus der vom Beurteiler angenommenen Objektivitat resultiert
schlieBlich noch die unausrottbare doppelte Hoffnung, daB man
einen flir alle Aufsatze geeigneten Satz von Kriterien finden
konne, liber den sich alle Beurteiler wegen seiner sachlichen
Notwendigkeit leicht einigen konnten. Erwartet wird hier ein
Kernbestand von universalen Kriterien und ein allgemeiner
Konsens uber-5ie. Durch eine entschiedene Anstrengung der
Kundigen mliBte er ein flir allemal sichergestellt werden kon
nen.
- Flir die Vergleichbarkeit von Urteilen verschiedener Lehrer
ware schon durch die Objektivitat des Urteils jedes einzelnen
Lehrers gesorgt. Der Konsens setzt allerdings voraus, daB
zuvor eine Verstandigung zwischen den verschiedenen Beurtei
lern liber Krlterien erzielt worden ist. Flir sorgfaltig defi
nierte Kriterien scheint dies ohne weiteres moglich zu sein.
Genau definierte Kriterien wlirden auch eine sichere Verstan
digung zwischen Lehrern und Schlilern garantieren, mit all
ihren erfreulichen Folgen.
- Flir die eigene Arbeit verspricht man sich vom Kriterienge
brauch in doppelter Hinsicht Entlastung: Die Arbeit mliBte
nicht nur rationaler, sondern auch rationeller werden
(Arbeitsokonomie), und der Druck, die eigenen Urteile recht
fertigen zu mlissen, mliBte durch Kriterien, vor allem aber
allgemein anerkannte, verringert werden (Verfahrenslegitima
tion). Der Lehrer konnte eine Routine ausbilden und wlirde
von der auBerordentlichen Belastung, ganz auf sich gestellt
entscheiden zu mlissen, befreit.
Wenn man sich von Kriterien flir die Aufsatzbeurteilung so viele
Vorteile versprechen kann, dann ist es nicht mehr verwunder
lich, daB Deutschlehrer der Ausarbeitung von verbindlichen Kri
terienkatalogen die hochste Praferenz einraumen (2).
Leider scheint die Praxis der Aufsatzbeurteilung mit Kriterien
diesen hohen Erwartungen so wenig zu entsprechen, daB es flir
jeden, der sich der Plausibilitat solcher Uberlegungen nicht
entziehen kann, einfach nicht zu fassen ist. Der Teufel liegt
im Detail, oder richtiger: im konkreten BeurteilungsprozeB. Ich
habe deshalb bis jetzt mit Bedacht kein einziges Kriterium
genannt, da sich schon bei der Nennung eines bestimmten Krite
riums, sei es "sprachliche Gestaltung" oder "Aufbau", betracht
liche Zweifel regen. Das muB hier als Indiz daflir genligen, daB
die soeben genannten Erwartungen einer abstrakten Logik folgen,
5