Table Of ContentJAMES TIPTREE, JR.
WARME WELTEN
UND ANDERE
Science Fiction-Erzählungen
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3822 im
Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
WARM WORLDS AND OTHERWISE
Deutsche Übersetzung von René Mahlow
Das Umschlagbild schuf Karel Thole
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1975 by James Tiptree, Jr.
Copyright © 1975 des Vorworts by Robert Silverberg
Copyright © 1981 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Printed in Germany 1981
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München
Gesamtherstellung:
Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
ISBN 3-453-30724-0
EIN DUTZEND FABELHAFTER PHANTASTISCHER
GESCHICHTEN VON EINER DER BESTEN SF
AUTORINNEN DER GEGENWART
Mit einem Nachwort von Robert Silverberg
Die Geschichte einer innigen Liebe, die jedesmal
schrecklich enden muß… LIEBE IST DER PLAN, DER
PLAN IST TOD Ausgezeichnet mit dem NEBULA
AWARD als beste Kurzgeschichte des Jahres 1973
Die Geschichte eines häßlichen Mädchens, das einen
Selbstmordversuch überlebte und doch in ein anderes
Leben überwechselte…
DAS EIN- UND AUSGESCHALTETE MÄDCHEN
Ausgezeichnet mit dem HUGO GERNSBACK AWARD
als beste Novelle des Jahres 1974
Die Geschichte von dem schwangeren Alien, das ein
ruhiges Plätzchen zum Entbinden seiner Teufelsbrut
suchte – und dabei auf die Erde geriet… ALL DIE
SCHÖNEN JAS
Und vieles mehr.
James Tiptree, Jr. unter diesem Namen verbarg sich fast
ein Jahrzehnt lang ein erzählerisches Talent, das nie in
Erscheinung trat, Jahr um Jahr Preise einheimste, als
»Nachwuchstalent« gefeiert wurde und die Kenner des
Genres ebenso begeisterte wie irritierte. Bis 1977 sich
das Rätsel löste: Das »Nachwuchstalent« James Tiptree,
Jr. entpuppte sich als eine nette ältere Lady, als die
Schriftstellerin und Psychologin Alice Sheldon, geboren
1915 in Chicago.
Wer, was ist Tiptree?
Im Telefonbuch für Manhattan aus dem Jahre 1971 – ein
neueres besitze ich nicht – gibt es niemanden mit dem
Nachnamen ›Tiptree‹. Ich hatte nicht erwartet, James Tiptree,
Jr. in dem Buch zu finden, da ich weiß, daß ihm seine Post in
einen Vorort von Washington, D. C, geschickt wird. Aber da
standen überhaupt keine Tiptrees drin, und diese Tatsache will
mir bedeutsam erscheinen; denn eigentlich bin ich seit langem
der Überzeugung, jeder Nachname, der gegenwärtig von
Menschen benutzt wird, sei im Telefonbuch von Manhattan zu
finden. Tiptree muß daher als ungebräuchlicher Name gelten.
(Keine Tiptrees erscheinen in den Telefonbüchern der San
Francisco-Region, wo ich lebe, und ich habe den Verdacht, daß
es in den Büchern für die Vororte von Washington auch keine
gibt. Genausowenig führt die Encyclopaedia Britannica
Eintragungen unter ›Tiptree‹, abgesehen von einem Hinweis
auf Tiptree Heath in Essex, wo, laut meiner Ausgabe von
1910, die Bedingungen für den Anbau von Erd-, Hirn- und
Johannisbeeren höchst günstig sind. Ein ungewöhnlicher
Name, Tiptree.) Und auch ein ungewöhnlicher Schriftsteller.
Der Name von James Tiptree, Jr. schlüpfte still ins
Bewußtsein der Science Fiction lesenden Öffentlichkeit, als im
März 1968 in der Zeitschrift Analog eine turbulente kleine
Farce namens ›Birth of a Salesman‹ zu lesen war, in der
Figuren wie Freggleglegg, Lovebody und Splinx
herumgeisterten und die sich hauptsächlich durch ein gewisses
wahnwitziges Tempo auszeichnete. Einige Monate später
veröffentlichte If ›The Mother Ship‹, eine gehaltvolle, wenn
auch konventionelle Geschichte über den ersten Kontakt der
Erde mit Außerirdischen; und ungefähr zur selben Zeit brachte
Fantastic Tiptrees ›Fehler‹, eine kleine Geschichte, die um
eine überraschende und beunruhigende Idee von Zeit-
Verrückung kreist. (Sie findet sich in dieser Sammlung – ein
gutes Beispiel für Tiptrees Lehrlingsphase.) Die
Verfasserangabe ›Tiptree‹ tauchte noch einige Male im Herbst
1968 und Anfang 1969 auf, aber es war der seltsame Name,
mehr als die Geschichten selbst, der in meinem Gedächtnis
haftenblieb.
Doch dann bescherte uns Galaxy im März 1969 einen
Tiptree, der, wiewohl bescheiden an Umfang, eine Falltür nach
der anderen für den Leser öffnete und ihn schließlich
säuberlich in einen bodenlosen Abgrund stieß. Das war
›Doktor Ains letzter Flug‹, eine Geschichte von kaum mehr als
2000 Wörtern; auch sie erscheint in dieser Sammlung. In
jenem Jahr war ›Doktor Ain‹ eine der vier Erzählungen in der
Endausscheidung für den NEBULA AWARD, den höchsten Preis,
der für SF vergeben wird, in der Kategorie Kurzgeschichte. Die
anderen drei Anwärter stammten von Leuten namens Ellison,
Niven und Silverberg; wie es das Schicksal so wollte, trug
Silverberg damals die Auszeichnung davon; aber die Tatsache,
daß auf dieser Kandidatenliste sein unbekannter Name neben
drei so bekannten aufmarschiert war, stellte sicher, daß
Tiptrees nächste Veröffentlichungen mehr als nur die übliche
Beachtung seitens seiner Schriftstellerkollegen erhielt.
›Doktor Ain‹ ist, ungeachtet der Nominierung für den Preis,
doch noch relativ primitiver Tiptree: hastig und sprunghaft
erzählt, mit verwirrenden und überflüssigen Veränderungen
des Blickpunkts. Tiptree hat selbst abfällig von seiner
Handhabung der Geschichte gesprochen, nämlich in einem
Aufsatz, der 1972 in der Februar-Ausgabe von Phantasmicom
erschien, einer Amateurzeitschrift für Science-Fiction-Kritik
aus Baltimore. Und doch bemerkte er im selben Aufsatz,
›Doktor Ain‹ erfülle einen seiner hauptsächlichen Ansprüche
als Schriftsteller: etwas vom Geheimnis und der Fremdheit des
Daseins zu vermitteln. ›Das Leben‹, schrieb er, ›wirft einen
mitten unter Fremde, die seltsame Bewegungen machen,
unerklärliche Liebkosungen und Drohungen verteilen; man
drückt Knöpfe ohne Beschriftung und wird von
unvorhergesehenen Ergebnissen überfallen; verschlüsseltes
Geplapper, das wichtig klingt… und man bemüht sich, alles
auseinanderzuhalten, und versteht fünf Jahre später, warum sie
das und das gesagt oder getan hat, warum sie alle schrien, als
du…‹
… Man nehme ›Doktor Ains letzter Flug‹. Die ganze
verdammte Geschichte ist rückwärts erzählt… Sie ist ein
perfektes Beispiel für Tiptrees grundlegenden erzählerischen
Instinkt. Man fange beim Ende an, und vorzugsweise an einem
dunklen Tag, tausend Meter unter der Erde, und dann:
NIEMANDEM ETWAS VERRATEN.
Diese Passage ist ein Schlüssel zur Erzählmethode Tiptrees in
fast all seinen Geschichten. Er liebt es, ein Gefühl der
Verwirrung und Entfremdung zu schaffen, das sich allmählich,
aber nie vollständig auflöst, während die Geschichte ihrem
Höhepunkt zueilt. Vielleicht deshalb handeln so viele seiner
Erzählungen von fremden Lebewesen, Wesen, deren Motive
und Zwecke für uns unergründlich sind. Die geist-losen
Ungeheuer aus ›Am letzten Nachmittag‹, die schweigenden
Besucher aus ›Die unscheinbaren Frauen‹, die abscheulichen
grauen Klumpen aus ›Paradiesmilch‹, die Trieb-getriebenen
Wesen aus ›Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod‹, sogar der
sympathische, wehmütige Fremdling aus ›All die schönen Ja’s‹
– sie alle spiegeln ein Grundgefühl Tiptrees, in dem das
Universum als fremder, seltsamer, unbegreiflicher Ort
erscheint, der unserer tapferen, verzweifelten Suche nach
Antworten nur gelegentlich Erfolg vergönnt. Tiptree hat sich
dafür entschieden – vielleicht aus schlauem Gespür für Public
Relations, vielleicht aufgrund einer einsiedlerischen
Komponente seiner Natur – seine eigene Persona in Geheimnis
zu hüllen. Die Science Fiction ist ein Feld, in dem die
Schreibenden ganz natürlich zueinander hindrängen, in dem es
durchaus nicht ungewöhnlich ist, daß die engsten Freunde
eines Schriftstellers fast alle Science-Fiction-Kollegen sind;
dennoch kenne ich niemanden innerhalb der SF-Bruderschaft,
der Tiptree je begegnet wäre, niemanden, der eine Ahnung
hätte, wie er aussieht oder womit er seinen Lebensunterhalt
verdient. In dem Maße, wie sein Ansehen als Schriftsteller
wuchs – und es wuchs gewaltig in den Jahren 1970, 1971 und
1972, in denen seine Arbeiten immer perfekter wurden –,
wuchs auch die Neugier, den Mann hinter den Geschichten
kennenzulernen; besonders, nachdem einmal klar war, daß er
in diesem berüchtigtermaßen geselligen literarischen
Universum durchaus soviel Privatesse sich zu bewahren
gedachte wie nur irgend möglich. Er schreibt Briefe, ja,
umfängliche und schwungvolle Briefe, aber die
Absenderadresse ist eine Postfachnummer in Virginia. Er führt
keine Telefongespräche mit Herausgebern, Agenten oder
anderen Schriftstellern. Falls er zu Science-Fiction-Kongressen
geht, tut er das inkognito.
Gereizt von Tiptrees hartnäckiger Insistenz auf persönlicher
Verborgenheit, haben sich SF-Freunde in den wildesten
Spekulationen über ihn ergangen. Sein wirklicher Name sei, so
wird oft gesagt, nicht Tiptree, obwohl niemand weiß, wie er
lauten könnte. (Daß ›Tiptree‹ ein Pseudonym sei, ist plausibel
genug, aber ich will es nicht hoffen. Ich mag den Namen und
sähe es gerne, wenn er per Geburtsrecht dem Mann gehörte,
der ihn unter diese Geschichten setzt.) Auch wurde
gemutmaßt, Tiptree sei eine Frau. Diese Theorie finde ich
absurd; denn Tiptrees Geschichten haben für mich etwas
unverkennbar Maskulines. Ich glaube nicht, daß Jane Austens
Romane von einem Mann hätten geschrieben werden können,
oder Ernest Hemingways Stories von einer Frau; und im selben
Sinne glaube ich, daß der Autor der James-Tiptree-
Geschichten ein Mann ist.
Da Tiptree nur wenige Meilen vom Pentagon entfernt lebt,
oder wenigstens seine Postanschrift zu dieser Gegend gehört,
und da er in seinen Briefen oft erwähnt, daß er gerade zu einer
Reise in irgendeinen fernen Teil des Planeten aufbreche, hält
sich das Gerücht, er sei im ›wirklichen‹ Leben ein
Regierungsbeamter, der es mit Arbeit hoher
Geheimhaltungsstufe zu tun habe. Seine offensichtlich intime
Bekanntschaft mit der Welt der Flughäfen und Bürokraten, wie
sie sich zum Beispiel in ›Die unscheinbaren Frauen‹ ausdrückt,
scheint diese Theorie zu untermauern; wie seine ebenso
gründliche Kenntnis der Welt der Jäger und Fischer, in
derselben Geschichte, sein männliches Geschlecht zu beweisen
scheint. Tiptrees Eingeständnis an einen seiner Herausgeber, er
habe den größten Teil des Zweiten Weltkriegs in einem
Kellerraum des Pentagon verbracht, hat diesen Mythos
genährt; und über seine Zugehörigkeit zur
Regierungsbürokratie schien es keinen Zweifel mehr geben zu
können, als er mir vor ein paar Jahren schrieb, er sei ›ein
Midwesterner, der sich in verschiedenen Dschungeln der Erde
herumgeschlagen habe, als er jung gewesen sei, und, in älteren
Jahren, in schlimmeren Dschungeln mit Schreibtischen drin‹.
Neuerdings jedoch hat Tiptree versucht, einigen dieser
Gerüchte die Luft abzulassen, indem er erklärte: »Ich arbeite
nicht, wiederhole, nicht für den CIA, das FBI, NSA, das
Finanzministerium, die Drogenbehörde oder die Metropolitan
Park Police.«
Wenn wir Informationen nicht-negativer Art über sein Leben
haben wollen, müssen wir die sechste Ausgabe (Juni 1971)
jenes schätzenswerten SF-Journals aus Baltimore konsultieren,
Phantasmicom. Die Herausgeber dieser mimeographierten
Publikation, Jeffrey D. Smith und Donald E. Keller, leiteten
schon früh eine enge briefliche Beziehung zu Tiptree ein und
haben ihm über die Jahre hinweg eine wertvolle Reihe
enthüllender Stellungnahmen entlockt. In Phantasmicom 6 ließ
sich Tiptree vom Herausgeber Smith interviewen und erklärte:
»Ich wurde vor geraumer Zeit in der Gegend von Chicago
geboren, als junger Mensch war ich viel im kolonialen Indien
und Afrika unterwegs… Ich bin einer von denen, für die die
Geburt und das furchtbare Wachstum des Nazismus das
zentrale Generationsereignis waren. Daher stammt das meiste,
was ich über Politik, über das menschliche Leben, über Gut
und Böse, Mut, Willensfreiheit, Angst, Verantwortung und die
Dinge weiß, denen man den Abschied geben muß… Und über,
ich sage es noch mal, über das Böse. Und Schuld. Eins der
wichtigen Dinge, die man von einem Menschen kennen sollte,
ist das Gesicht, das ihm in seinen Alpträumen erscheint; für
mich ähnelt dieses Gesicht sehr dem meinigen…
Wie auch immer, als ich meinen Teil der Lehre über den
Stand der Dinge, wie sie dieses Ereignis erteilte, bezogen hatte
– ich war Organisationen beigetreten, zur Armee gegangen,
war in den frühen Formen amerikanischer Linksbewegungen
herumgeirrt, immer wieder fragend, OB ES AUCH HIER
PASSIEREN KÖNNTE (eine Beschäftigung, die ich noch nicht
aufgegeben habe); aus der Armee raus, mal in der Verwaltung,
mal in der Wirtschaft mein Glück versucht etc. etc. – erkannte
ich, daß mein ganzes Leben, meine Fähigkeiten und berufliche
Entwicklung, wie sie nun einmal waren, meine Freunde, alles,
von diesem Ereignis geprägt worden war und sich ziemlich
von dem entfernt hatte, was ich in vager Weise hatte werden
wollen.«