Table Of ContentKlaus Schlottau, Von der handwerklichen Lohgerberei
zur Lederfabrik des 19. Jahrhunderts
Sozialwissenschaftliehe
Studien
Schriftenreihe der Institute
Politische Wissenschaft,
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie
herausgegeben von
Günter Trautmann,
Hans-Jürgen Goertz und
Gerhard Kleining
im Auftrag des Fachbereichs Philosophie
und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.
Heft 29
Klaus Schlottau
Von der handwerklichen Lohgerberei
zur Lederfabrik des 19. Jahrhunderts.
Zur Bedeutung nachwachsender Rohstoffe
für die Geschichte der Industrialisierung
Von der handwerklichen
Lohgerberei zur Lederfabrik
des 19. Jahrhunderts
Zur Bedeutung nachwachsender Rohstoffe
tür die Geschichte der Industrialisierung
KLAUS SCHLOTTAU
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1993
Gedruckt mit Unterstützung der Universität Hamburg
ISBN 978-3-663-11787-2 ISBN 978-3-663-11786-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11786-5
© 1993 by Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich GmbH, Opladen 1993
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Satz: Harald Baerenreiter Text-in-form, Hagen
Vorwort
Obgleich das ledererzeugende und lederverarbeitende Gewerbe am Ende des
19. Jahrhunderts die drittgrößte Industriebranche war, die zudem die höch
sten Wachstumsraten und Exportquoten aufwies, wandte sich die Industriali
sierungsforschung diesem Thema kaum zu. Man war der Meinung, daß erst
mineralische Gerbverfahren und Arbeitsmaschinen, die am Ende des 19. Jahr
hunderts patentiert worden waren, die Industrialisierung bewirkt hatten.
Übersehen wurde jedoch, daß die überwiegende Masse aller Leder mit ei
nem vegetabilischen Gerbverfahren hergestellt wurde, das am Ende des 18.
Jahrhunderts entwickelt worden war und gemeinsam mit der Innovation von
Arbeitsmaschinen zu einer ersten Industrialisierung geführt hatte. Aus Man
gel an nachwachsenden Rohstoffen brach diese erste Industrialisierungphase
jedoch nach den Napoleonischen Kriegen zusammen, so daß die Verfahren
und Maschinen am Ende des 19. Jahrhunderts wieder entwickelt und paten
tiert wurden.
Der vorliegenden Arbeit liegt die leicht überarbeitete Fassung meiner Dis
sertationsschrift mit dem Titel ,,Die Evolution der Lohgerberei zur Lederfa
brik des frühen 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Verhältnis von nachwach
senden Rohstoffen und Industrialisierung" zugrunde. Sie wurde im Dezem
ber 1992 vom Fachbereich "Philosophie und Sozialwissenschaften" der Uni
versität Hamburg anerkannt. Den Herausgebern der "Sozialwissenschaft
lichen Studien" möchte ich auf diesem Wege für die Aufnahme in die Reihe
danken.
Die Arbeit wurde angeregt durch meine Arbeit als Projektleiter eines In
dustriemuseums und konnte nur in der knappen Freizeit ausgeführt werden.
Ich danke daher ganz herzlich meiner Ehefrau Karin und meinen Töchtern
Kassandra und Kore für die erwiesene Geduld und den jahrelangen Verzicht
auf gemeinsame Feierabende, Wochenenden und Urlaube. Besonderer Dank
gilt auch meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Troitzsch, sowie Herrn
Priv. Doz. Dr. Günter Bayerl, die mit viel Verständnis und hilfreicher Kritik
zur Entstehung der vorliegenden Arbeit beigetragen haben.
Hamburg, im Frühling 1993 Klaus Schlottau
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung, Eingrenzung und Ziel der Arbeit ................................. 11
1.1 Einführung ................................................................................... 11
1.2 Problemstellung ........................................................................... 16
1.3 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ............................ 25
1.4 Der Forschungsstand zur Gerbereigeschichte .............................. 26
1.5 Die Lederindustrie im 19. und 20. Jahrhundert ........................... 35
2 Rohstoffe und Gerbverfahren im Überblick ................................... .41
2.1 Rohstoffe des Gerbers ................................................................. .49
2.1.1 Häute und Felle .................................................................. 49
2.1.2 Alaun ................................................................................... 52
2.1.3 Vegetabilische Gerbstoffe ................................................... 53
2.1.4 Fette und Öle ...................................................................... 56
2.2 Hilfsstoffe .................................................................................... 60
2.2.1 Wasser ................................................................................. 61
2.2.2 Kalk ..................................................................................... 63
2.2.3 Mehl und Kleien .................................................................. 64
2.2.4 Farbstoffe ............................................................................ 65
3 Ablauf und Geschichte der Gerbverfahren ...................................... 67
3.1 Mineralgerbverfahren .................................................................. 67
3.1.1 Fettgerbungen ..................................................................... 73
3.2 Das Lohgerbverfahren der Handwerker ...................................... 76
3.2.1 Weichen und Äschern ......................................................... 76
3.2.2 Die Schwitze ........................................................................ 82
3.2.3 Gerbmethoden ..................................................................... 83
3.2.4 Zurichtungen ....................................................................... 86
3.2.5 Lederfärberei und Lederfarbstoffe ...................................... 98
3.2.6 Wasserundurchlässige Leder
und Lederbeschichtungen ................................................. 10 2
7
4 Zünftige Lederherstellung ................................................................ 103
4.1 Die Aufgaben der Gerberzunft .................................................. 106
4.2 Produktionsbeschränkungen der Zunft ...................................... 109
4.3 Gemeinschaftliche Einrichtungen der Gerberzunft ................... 114
4.4 Das Gerberhaus als Werkstatt und Wohnhaus ........................... 118
4.4.1 Das Werkhaus des Gerbers ............................................... 121
4.4.2 Das Gerberviertel ............................................................. 124
4.5 Lohnwerk und Preiswerk ........................................................... 126
4.5.1 Organisation des Lederhandels. ....................................... 128
4.6 Die soziale Stellung der Gerber ................................................. 131
5 Verbesserungen des Gerbverfahrens bis Seguin ............................ 133
5.1 Schwellen und Beizen ................................................................ 133
5 .2 Vorgerbverfahren ....................................................................... 138
5.3 Andere Lohgerbverfahren .......................................................... 140
5.4 Die Entwicklung der Schnellgerbung ........................................ 141
5.4.1 Schnellgerbungen von Macbride, Fay und Seguin ........... 145
5.5 Die Verwissenschaftlichung d~r Gerbung ................................. 149
6 Die Industrialisierung der vegetabilischen Gerbung ..................... 165
6.1 Die Mechanisierung der Wasserwerkstatt.. ................................ 165
6.1.1 Weichen, Waschen, Walken undÄschem ......................... 166
6.1.2 Entfleisch-, Enthaar- und Glättmaschinen ....................... 172
6.1.3 Die Spaltmaschine als lnitialinnovation ........................... 181
6.2 Die Gerbung mit Extrakten ........................................................ 190
6.2.1 Herstellung und Anwendung der Lohe ............................. 191
6.2.2 Aufbau der Extraktionsanlagen ........................................ 200
6.2.3 Die Entwicklung der Farbengänge ................................... 207
6.2.4 Die Anwendung von Wärme und Brühenpumpen ............. 212
6.2.5 Über- und Unterdruck in der Schnellgerbung .................. 213
6.2.6 Rührwerke, Haspeln und Gerbfässer ................................ 214
6.3 Die industrielle Zurichtung ........................................................ 221
6.3.1 Preß- und Verdichtungsmaschinen ................................... 222
6.3.2 Mechanische Oberjlächenzurichtungen ............................ 226
6.3.4 Die Lederjalzmaschine ..................................................... 237
6.3.5 Lederjlächenmeßmaschinen .............................................. 239
7 Arbeits-und Betriebsverhältnisse ................................................... 241
7.1 Arbeitslohn ................................................................................ 247
7.2 Umweltverschmutzung am Arbeitsplatz .................................... 248
7.3 Der Wandel des Arbeitsplatzes .................................................. 253
7.4 Die Arbeitsumgebung des Lederarbeiters .................................. 257
8
8 Wirtschaftliche Voraussetzungen der Lederfabrik. ....................... 267
8.1 Kalkulationen zwischen 1750 und 1850 .................................... 269
8.1.1 Die Kosten der Haut ......................................................... 272
8.1.2 Kosten und Beschaffung der Gerbstoffe ........................... 275
8.1.3 Das Verhältnis von Arbeitslohn
und Maschineninvention ................................................... 276
8.1.4 Der Einfluß der Kapitalkosten .......................................... 278
8.2 Möglichkeiten der Ertragssteigerung in der Produktion ............ 281
8.2.1 Die Erhöhung des Rendements bei Gewichtsledem ......... 282
8.2.2 Ertragssteigerungen durch Flächenvermehrung .............. 284
8.2.3 Die Veredelung der Lederabfälle zu Kunstleder ............... 285
8.3 Die Entwicklung des Lederhandels ........................................... 287
8.4 Manufakturen und Lederfabriken .............................................. 289
9 Zusammenfassung und Ausblick ..................................................... 295
10 Quellen-und Sekundärliteraturverzeichnis ................................... 307
11 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 323
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1 Einführung, Eingrenzung und Ziel der Arbeit
"Ich sehe schon im voraus den Eckei, welchen viele Personen gegen die Beschrei
bung einer Kunst haben werden, welche geringe und verächtlich scheint: Unterdessen
aber ist doch die Lohgerbekunst allen denen an Nützlichkeit gleich, welche die Be
schreibungen haben können, die sich die Akademie ans Licht zu stellen vorgesetzt
hat." 1
1.1 Einführung
Die frühzeitlichen Menschen waren Sammler, Jäger, Herdenbesitzer und
Viehzüchter, um sich unmittelbar mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Hatten
sie ein Tier erlegt oder geschlachtet, dann verwerteten sie es vollständig. Die
nicht eßbare Haut konnten sie jedoch nur solange als Kleidung, Windschutz
oder Zelt benutzen, bis diese infolge der Feuchtigkeit und des Bakterien
wachstumes verfault war und ersetzt werden mußte. Gab es einen trockenen
Sommer oder einen trocken-kalten Winter, so konnte die Nutzungsdauer der
ungegerbten Haut beträchtlich sein, weil sie nach Regen oder Schneefall
schnell wieder auft rocknete. Dauerfeuchtigkeit aber nahm den Menschen den
Schutz, wenn sie ihn notwendig brauchten. Die aus Häuten gefertigte Klei
dung, die Zelte, Vorratsbehälter und alle angesammelten Häute verwandelten
sich in stinkenden Abfall.
Das Fell oder die Haut war von jenem Zeitpunkt an kein Abfall mehr, als
man herausfand, daß bestimmte Stoffe die Eigenschaft besaßen, das Fell der
erlegten Tiere dauerhaft haltbar zu machen. Es wird sich nicht um eine ge
zielte Suche nach einem besser konservierenden Stoff gehandelt haben, son
dern um ein zufälliges Zusammentreffen von Haut und Gerbstoff. Die Vor
aussetzung dafür war die gründliche Reinigung der Fleischseite. Diese rest-
Jerome de LaLande: Die Lohgerberkunst. In: DaDiel Gottfried Schreber (Hrsg.): Schauplatz der Künste
und Handwerke oder vollständige Beschreibung derselben. 5. Bd .• KöDigsberg und MieJau 1766. (Origi
nalausgabe: L'Art du TanDeur. Paris 1744) S. 315. (Mit Ausnahme der Bände fUnf und sechs wurden die
anderen Bände von Johann Gottlieb v. Justi herausgegeben.)
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lose Verwertung auch der letzten eßbaren Teile wurde in Mangelsituationen
immer wieder durchgeführt: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nagten die
Eskimos die Fleischseite der Felle intensiv ab.2 Gelangte ein derartig
"gesäubertes" und durch Fermente im Speichel gebeiztes Fell mit dem kon
densierenden Rauch eines Lagerfeuers, z.B. als Zelt oder Windschutz, in
dauernden Kontakt, oder wurde es mit dem Fett des erlegten Tieres eingerie
ben, so wurde es nicht nur konserviert, sondern gegerbt. Ähnliches galt für
die Lohgerbung: Ein sauber abgeschabtes oder abgenagtes Fell, das von einer
Schicht feuchter Blätter oder Rinden bedeckt war, wie es beim Bau von
Nachtlagern Verwendung fand, wurde nach und nach gegerbt. Auch die
Alaungerbung wird eher zufällig entdeckt worden sein, indem eine Haut als
Transportmittel mit dem Alaun in einer Tongrube der Töpfer in Kontakt ge
riet. Die Nutzung der durch die Gerbung vorliegenden geschmeidigen und
dauerhaften Lederfläche war ursprünglicher als die der von Menschen ge
schaffenen Flächengebilde aus tierischen oder pflanzlichen Fasern: Stoffe aus
Wolle, Baumwolle und Leinen.3
Als Leder soll in der vorliegenden Arbeit jene tierische Haut bezeichnet
werden, die nach dem Enthaaren durch die Aufnahme der Gerbstoffe gegen
äußere Einflüsse widerstandsfähig gemacht worden ist. Die Definition des
Leders als Werkstoff und Halbprodukt ist schwer, weil der Begriff der Ger
bung, also jener Vorgang, durch den Haut zu Leder umgeformt wird, über
Jahrhunderte umstritten war, und sich erst in der jüngsten Vergangenheit als
molekulare Verbindung von Eiweiß und Gerbstoff herausgestellt hat. Daher
sind alle Definitionen in der herangezogenen technologischen und histori
schen Literatur Beschreibungen des Ausgangsmaterials, der unumgänglichen
Bearbeitungen der Häute und Felle, sowie der Eigenschaften der Leder. Es
gab für frühere Autoren nicht das Leder, sondern viele verschiedene Leder,
die sich nicht allein durch Hautprovenienzen und Handelsnamen, sondern
auch durch den benutzten Gerbstoff unterschieden. Für den behandelten Zeit
raum reicht daher die Definition Johann Beckmanns aus, die bereits von den
Gerbstoffen und den verschiedenartigen Eigenschaften des Leders abstra
hiert:
2 Vgl.: Guiseppe A. Bravo! Juliana Trupke: 100000 Jahre Leder. Basel und Stuttgart 1970. S. 199 ff. Vgl.
auch Emanuel Stickelberger: Versuch einer Geschichte der Gerberei (Bibliothek des Gerbers. Band I).
Berlin 1915. S. 14. Abbildung Nr. 3.
Wenn auch die Vorstellung. die rohen Felle seien mit den Zähnen abgenagt worden. dem modemen Men
schen merkwürdig und abstoßend erscheinen mag. so handelt es sich hierbei doch nur um einen Gemein
platz der Gerberei. der eine ganze Reihe weiterer Unappetitlichkeiten anfiihn. Gutes Leder ist ein hoch
wertiger Handelsgegenstand und im allgemeinen Leben ein Luxus. Niemand möchte daher eingehend
über die Entstehung des Leders unterrichtet sein. Dies galt, wie das Zitat von LaLande zeigt, im 18. Jahr
huodert und es gilt mit Sicherheit auch heute noch.
3 Mit dem Papier hat das Leder hinsichtlich der Faserstruktur die größte Ähnlichkeit, die mechanischen Ei
genschaften des Leders sind allerdings besser.
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