Table Of ContentAlbrecht Funk· Heinz Gerhard Haupt· Wolf-Dieter Narr .
Falco Werkentin
Verrechtlichung und Verdrangung
Albrecht Funk· Heinz Gerhard Haupt
Wolf-Dieter Narr· Falco Werkentin
Verrechdichung
und Verdrangung
Die Biirokratie und ihre Klientel
Westdeutscher Verlag
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Verrechdichung und Verdriingung: d. BUrokratie
u. ihre KlientellAlbrecht Funk ... - Opladen:
Westdeutscher Verlag, 1983.
ISBN 978-3-531-11656-3 ISBN 978-3-322-87754-3 (eBook)
DOl 10.1007/978-3-322-87754-3
NE: Funk, Albrecht [Mitverf.)
© 1984 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
Umschlaggestaltung: Horst Dieter BUrkle, Darmstadt
Satz: C. W. Niemeyer, Hameln
Aile Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfiiltigung des Werkes (Fotokopie,
Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages.
ISBN 978-3-531-11656-3
Inhalt
Votwort ............................................................................................................. 9
Einleitung: Det Rechtsstaat als Sozialstaat und det Sozialstaat als
Rechtsstaat
1. Das Regel-Netz ist dicht und wird dichter .................................................... 11
2. Zum Funktionswandel des Rechts .......................................... .................. ..... 13
3. Verrechtlichung heifit Burokratisierung ........................................................ 18
4. Wohlfahrtsstaat und Polizei - die Grenzverwischung ................................... 23
5. Aspekte der Fragestellung: Wie lassen sich die Kosten des Sozialstaats
dingfest machen? .......................... .................................................................. 25
6. Gegenstand der Untersuchung: Randbereiche der herrschenden Normalitat ..... 26
7. Darstellungsweise des Bandes ........................................................................ 32
I. Kapitel: Hilfsjugend und helfende Gesellschaft
1. Was heifit Jugend? Hinweise anhand der staatlichen Jugendpolitik .............. 33
1.1 Indikatoren staatlicher J ugendpolitik - "randstandige" J ugend in der
Definition staatlicher J ugendhilfe .. ...................... .............. ............................ 36
1.2 Zum Ausmafi der "randstandigen" Jugend ................................................... 37
1.3 Zusammenfassung des Oberblicks ................................................................. 41
2. Jugendliche Karrieren burokratisch programmiert ........................................ 43
2.1 Neuralgische Punkte einer Fursorgekarriere - Stichwort: "auffallig" ............ 44
2.2 Wer ist es denn, dem etwas "auffallt" und den dasselbe argert? .................... 46
2.3 Was geschieht mit den einmal aktenkundig Gewordenen? (I) ....................... 47
2.4 Was geschieht, wenn das Aktenleben zum eigentlichen wird? (II) ................. 48
2.5 Was geschieht, wenn man wirklich erzogen wird? (III) ................................. 49
2.6 Was geschieht, wenn sich Erfolg einstellt? (IV) ............................................. 50
3. Das Recht der Jugendhilfe und die Hilferechte wahrenden Institutionen ...... 52
3.1 Das Recht zur Jugendwohlfahrt: Deklamation, Reservation und
Verdrangung .................................................................................................. 53
3.2 Zersplitterung als Prinzip der Jugendverwaltung .......................................... 57
3.3 Fallbeispiel Nordrhein-Westfalen: Jugendhilfe und Polizei ............................ 70
3.4 Die 1980 gescheiterte Anderung des JWG als Jugendhilfegesetz .................. 73
3.5 Exkurs: Neue sozialpadagogische Konzepte: Ein Ausweg? .................. ......... 86
4. Jugendhilfe-die doppelte Randstandigkeit bleibt: Eine Zusammenfassung ...... 91
4.1 Aus der verwalteten Jugendwelt gibt es keinen Ausweg ............................... 91
4.2 Gutwilligkeit, Hilflosigkeit und die Logik der Burokratie ............................ 94
5. Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, J ugendwohlfahrtsgesetz, J ugendhilfegesetz
(gescheitertes Reformgesetz) - Kontinuitat im Wandel ................................. 95
6 Inhalt
n. Kapitel: Psychisch krank ist nur der andere
1. Psychiatrische Versorgung in der BRD '" ..... ...... .......... ... ...... ..... ..... ... ..... ...... 99
2. Karrieren psychisch Kranker ......................................................................... 106
2.1 Die "gewohnliche Versorgung" .................................................................... 107
2.2 Die "freiwillige" Behandlung ........................................................................ 109
2.3 Die ungeeignete Behandlung ..... ... ........... ........ .... ... ....... ............ ... ................. 111
3. Der Regulierungskomplex und seine Institutionen ........................................ 112
3.1 Vielzahl der Trager ........................................................................................ 112
3.2 Unsicherheit der Kostenregelung ................................................................... 115
3.3 Netz unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen ....... .............. .................... 117
3.4 Faktoren einheitlicher Rechtsauslegung ......................................................... 120
4. Realitat der Regelungen aus der Perspektive der Patienten ........................... 124
4.1 Entmundigung zum Objekt ........................................................................... 124
4.2 Fursorge versus Selbstbestimmung ................................................................ 126
4.3 Helfen und Disziplinieren ............................................................................... 127
5. Kontinuitat und Wandel ................................................................................ 129
5.1 Problematische Reform der Institutionen der Psychiatrie? ............ ................. 135
In. Kapitel: Das "Auslanderproblem" oder: Wie man die Probleme
der Arbeitsimmigranten administrativ verdrangt
1. Die Bundesrepublik: Ein Arbeitsland, kein Einwanderungsland ................... 142
1.1 Die auslandischen Arbeiter als Arbeitsmarktreserve: 1955-1973 ................... 143
1.2 Die siebziger Jahre: Yom Gastarbeiter zum hier lebenden Immigranten ....... 146
1.3 Daueraufenthalt, Einwanderung: Die Bewaltigung eines politischen Tabus .. 148
2. Immigrantenschicksal: Die "Integration" des Mustafa O .............................. 151
3. Die staatliche Disposition uber die Arbeitsimmigranten ................................ 158
3.1 Die arbeitsmarktpolitische Regulierung .......... ................ ................ ............... 159
3.2 Auslanderrechtliche Regulierung des Arbeitsimmigranten ............................. 167
4. Auslanderpolitik als Politik administrativer Verfugbarkeit .............. .............. 174
IV. Kapitel: 1m Notfall die Polizei
1. Eine kurze Skizze innerstaatlicher Sicherheitsapparate ................................... 179
1.1 Die Reorganisation des Kontinuums staatlicher Gewalt ................................ 182
1.2 Die Polizeireform ........................................................................................... 184
2. Zur Situierung im burokratischen Regelungskomplex ................................... 187
3. Beispiele polizeilicher Wahrnehmungs- und Aktionsmuster .......... ................ 192
3.1 Aus dem "Tagebuch" eines Wachtleiters am BahnhofZoo ........................... 192
3.2 Pravention 1: Einrichtung von Kontrollstellen ............................................... 195
3.3 Pravention 2: Planungen und polizeiliche Pravention: Das Beispiel Stadtebau ... 199
4. Polizeiliche Sicherheitslage und Burger als Objekt .......... .............................. 202
4.1 Die polizeiliche Problemwahrnehmung .... ........ ............................................. 203
4.2 Der Burger als Objekt staatlicher Pravention ................................................ 208
5. Die Aktualitat deutscher Traditionen und die Suche nach neuen Ma13staben ...... 212
5.1 Von der preu13ischen Exekutivpolizei zur modernen Praventionspolizei ....... 213
["halt 7
5.2 Abbau an physischer Gewaltsamkeit und Autbau eines Kontinuums
legitimer physischer Gewaltsamkeit ....... ....................... ..... ................ ............ 219
V. Kapitel: Verrechtlichung und Verdrangung - ein Resiimee
1. Was haben psychisch Kranke, ausliindische Arbeiter und Jugendliche
miteinander gemein? Welche Rolle spielt die Polizei? .................................... 223
2. Man kann weder von den Auslandern noch den Jugendlichen
oder den psychisch Kranken reden, ohne vor allem von der jeweils
einschlagigen und doch immer gleichen Verwaltung zu sprechen ..... ......... ... 225
2.1 Biirokratische Form und politischer Inhalt .................................................... 225
2.2 Leistungsverwaltung: Ein neuer Typ? ................................., .......................... 227
2.3 Hoheits- und Leistungsverwaltung am Beispiel der Jugendlichen,
der psychisch Kranken und der auslandischen Arbeiter ................................. 232
2.4 Biirokratiekritik und die Krise der Leitungsverwaltung ................................ 236
3. Professionalisierung ....................................................................................... 241
4. 1m Irrgarten der Verrechtlichung .................................................................. 245
4.1 Normenflut .................................................................................................... 245
4.2 Motive der Verrechtlichung ........................................................................... 247
5. Verrechtlichung - eine Niederlage des biirgerlichen Subjekts?
Eine Zusammenfassung ................................................................................. 252
5.1 Die rechtliche Aufspaltung des Subjekts ........................................................ 255
5.2 Zugriffsfreie Raume schwinden - ein neuer Begriff der Integritat
ist erforderlich ................................................................................................ 256
5.3 Die politisch neutralisierende Funktion des Rechts ....................................... 257
5.4 Recht als Recht der Biirokratie ...................................................................... 257
5.5 Die Rolle der Rechtfertigung von Herrschaft ................................................ 258
5.6 Strategische Dberlegungen ............................................................................. 260
6. Wer sorgt sich urn die Vorsorge? .................................................................. 262
6.1 Mangelndes bzw. konventionell-herrschendes Konzept der
Normalitat ....................... ..................... .......................................................... 262
6.2 Das nicht thematisierte Praventionsverfahren .... ............. ....... ........................ 263
6.3 Pravention ist nicht gleich Pravention -
dennoch: durchgehende Merkmale ................................................................. 264
7. Die globale Ursache: negative VergeseIIschaftung ......................................... 267
8. Das Thema staatlicher Gewalt bleibt auf der Tagesordnung ......................... 270
9. Voraussetzungen einer eigenen "politischen Produktion" ............................. 273
9.1 Kriterien jeglicher Reform ............................................................................. 277
9.2 Einige Hinweise zu Ansatzpunkten biirokratischer oder den
biirokratischen Hngen und Zwangen sich entziehender Reform ... ......... ....... 280
Anmerkungen .......................................................................................... ,....... 287
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 316
Vorwort
Je richtiger die banale Feststellung wird, daB fast alles mit allem zusammenhangt, desto
weniger scheinen wir die Zusammenhange zu begreifen. Diese Beobachtung gilt nicht
nur fUr un sere Erlebnisse im Alltag, sie gilt auch, ja starker noch, fur die wissenschaftliche
Beschaftigung. "Die" Wirklichkeit wird wissenschaftlich zerstuckelt und abstrakt; die
Analysen einzelner Probleme beschranken sich auf magere Ausschnitte, die ihrerseits
allein unter fach-spezifischer Perspektive, sei es okonomischer, sei es psychologischer,
sei es soziologischer Art behandelt werden. Was Wunder, daB viele soziale Probleme
gar nicht zur Kenntnis genommen werden, oder daB die Ursachen derselben durch das
Raster der Fachdisziplinen und isolierten Aspekte fallen.
Aus einem noch ehrgeizigeren Plan wurde 1974 ein schon im Anspruch betrachtlich
herabgesetztes Projekt, dem es unter dem gerade angetippten Stichwort "Zusammen
hang" urn ein Doppeltes ging:
Zum einen sollte die Analyse scheinbar unverbundener Bereiche Aussagen ermog
lichen, die uber die einzelnen Bereiche hinaus auf die Bundesrepublik und ihre Wirk
lichkeit insgesamt schlieBen lassen sollten. Ais soIehe Bereiche wurden aufgrund allge
meiner Uberlegungen und individuelIer V orlieben einzelner Mitarbeiter des Projekts
ausgewahlt: die Situation der J ugendfUrsorge, die Lage der Gastarbeiter, die Behandlung
der psychisch Kranken und Struktur und Funktion der Polizei.
Zum zweiten sollte die Analyse der einzelnen Bereiche von der allgemeinen Frage
stellung geleitet werden: WeIehe Politik wird in dies en diversen Bereichen von den
staatlichen Institutionen betrieben? WeIehe Effekte zeitigt die Art der staatlichen Hand
lungen fur die in den verschiedenen Gebieten anstehenden Probleme, letztlich die
jeweiligen Betroffenen? Dieser LeitfragestelIung lag die allgemeine Hypothese zugrunde,
daB die Eigenart der staatlichen Problembehandlung, betreffe es die Gastarbeiter oder
die Jugendlichen, die psychisch Kranken oder andere Gruppen der Bevolkerung, nur
dann begreifbar sei, wenn man das Gewaltfundament des Staates in die Analyse mit
einbeziehe. Der moderne Staat, so auch die Bundesrepublik Deutschland, ist Staat erst
dadurch, daB er uber das Monopollegitimer physischer Gewaltsamkeit verfUgt, also uber
die Moglichkeit, seine Anspruche notfalIs mit polizeilicher oder militarischer Gewalt
durchzusetzen. Diese Charakteristik wird kaum bestritten. Freilich wird trotz dieses
alIgemein angenommenen (Teil-)Charakters des Staates in alIer Regel versaumt, sich
darum zu kummern, was dieses Charaktermerkmal fUr die Handlungen dieses Staates
bedeute. Man setzt dessen gewaltig-friedens-stiftende Aufgabe nach innen und gewal
tig-verteidigende Aufgabe nach auBen voraus und kummert sich ansonsten urn andere
Staatsaufgaben und ihre Verwirklichung oder urn andere geselIschaftliche Bereiche.
Dadurch entgeht der Aufmerksamkeit, daB die Organisation des Gewaltapparates im
engeren Sinne, innenpolitisch vor alIem die Organisation der Polizei, alIes andere als fix
gegeben ist. Diese Organisation muB ein eigenes Interesse beanspruchen, sonst entzieht
10 Vorwort
sich dem Blick der Sachverhalt, daB aile staatlichen Handlungen davon beeinfluBt
werden, daB dieser Staat Gewalt-Staat ist.
Kurzum: Das Projekt, das den etwas akademisch-bombastischen Titel: "Systemana
lyse der Bundesrepublik Deutschland - Zur Struktur ,Innerer' Gewalt" trug und das
bis Ende 1976 von der Berghof-Stiftung fur Konfliktforschung gefOrdert wurde, sollte
Schneisen in die Wirklichkeit der Bundesrepublik schlagen, urn den "Durchblick" zu
verbessern. Den Ausgangspunkt bildete die Vermutung, daB die "Gewaltstruktur" des
Staates in ihrer spezifischen bundesrepublikanischen Prageform allen einzelnen Teil
bereichen unterliege und sie wesentlich mit konstituiere.
Fur die einzelnen Bereiche liegen in der Zwischenzeit Spezialstudien vor oder
befinden sich noch in der Bearbeitung.! Diese Spezialstudien sind bzw. werden in
absehbarer Zeit ihrerseits verOffentlicht. Frauke Decker und Knuth Dohse waren fUr
die Analyse des burokratischen Schicksals der auslandischen Arbeiter zustandig, Helge
Grunewald beschaftigte sich mit der rechtlich-anstaltsmaBigen Vermittlung der psy
chisch Kranken, Dieter H. Runze und Hans Dieter Will gingen den J ugendlichen nach,
soweit sie in der Jugendhilfe vorkommen, Falco Werkentin und Albrecht Funk befaBten
sich mit der Entwicklung des polizeilichen Apparates in der Bundesrepublik.
Die hier vorgelegte zusammenfassende Stu die versucht, sowohl in geraffter und
ausschnitthafter Weise uber die einzelnen Gebiete zu informieren, als auch deren
Zusammenhang und deren Aussagewert fUr die Bundesrepublik und ihre Wirklichkeit
insgesamt herauszuarbeiten. Selbstverstandlich beruht diese Zusammenfassung, die nur
einen Teil der Informationen der speziellen Untersuchungen wiedergibt, durchgehend
auf deren Material und deren Ergebnissen. Es wird aber im allgemeinen darauf verzich
tet, auf diese speziellen Studien besonders hinzuweisen. Fur die Formulierung dieses
zusammenfassenden Bandes sind verantwortlich: Albrecht Funk, Heinz Gerhard Haupt,
Wolf-Dieter Narr und Falco Werkentin.
Die erste Fassung dieses Bandes wurde im Fruhjahr 1979 formuliert. Die materialen
Belege sind deswegen weitgehend auf die Zeit bis Ende 1978 begrenzt. In der Uber
arbeitung im Sommer 1980 und im Herbst 1982 wurden sie noch hier und da erganzt
und die Entwicklung seither eingearbeitet. Die Ergebnisse der Studie aber sind, so
meinen wir, dennoch aktuell.
Einleitung
Der Rechtsstaat als Sozialstaat und der
Sozialstaat als Rechtsstaat
Problem: Die Ausdehnung staatlicher Regelungen
1. Das Regel-Netz ist dicht und wird dichter
Ziffel und Kalle erfahren es als Fliichtlinge besonders deutlich und schmerzlich (in den
Fliichtlingsgesprachen, die Bert Brecht aufgezeichnet hat). Man kann nicht geboren
werden - ohne eine Urkunde. Man kann nicht gestorben sein - es sei denn mit einer
Urkunde. Man kann vor allem in kein anderes Land reisen, gar fliichten - man besitze
denn eine Urkunde, einen PaB.
Doch Ziffel und Kalle konzentrieren sich in der Emigration notwendigerweise eher
auf den polizeilichen Bereich der Regelungen. Auf die Melde- und PaBbehorden, die
Standesamter, die Zollner und Grenzkontrolleure. Lebt man heute in einem Land,
nennen wir dieses Land Bundesrepublik Deutschland, dann ist man in Regelungen so
eingebunden, als ware jedes Haar, wie es einst den Haaren Gullivers geschah, mit einem
eigenen Strick festgemacht. Jedes Segment des Daseins scheint geregelt. Und auch fiir
Notfalle ist fast immer gesorgt. Da spannen sich die Driihte der Netze: Familienrecht
und Schulrecht, Universitiitsrecht und Arbeitsrecht, Sozialrecht und Verkehrsrecht
und ... und ... ; das Verwaltungsrecht und nicht zu verges sen das Strafrecht. Die einzel
nen Regelungen - Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Dienstanweisungen uSW. - sind so
dicht und in ihrem Zusammenhang so kompliziert, daB es der Spezialisten und der
Unterspezialisten bedarf, um das Dickicht des Steuerrechts im allgemeinen und der
Einkommenssteuer beispielsweise im besonderen zu durchdringen. Der Juristenstand
und alle Arten von Sachverstandigen schaffen diese Regelungen und werden von diesen
Regelungen fortlaufend erzeugt: Arbeitsplatzbeschaffung besonderer Art. Kiirzlich
versicherte der Mitarbeiter eines Forschungsprojekts glaubhaft, es wiirde das Projekt,
das die staatlichen Regelungen des Verhaltnisses von Lohnarbeit und Kapital unter
suchen will, iiberfordern, auch nur historisch und gegenwartig alle Regelungen zu
sammenzustellen, die den Arbeiter betreffen und seine Schritte gangeln. Und was
geschieht dem Arbeiter, der sich nicht wie dieses Forschungsprojekt aus dem Regelungs
gehause herausziehen und auf Teilaspekte der rechtlichen Regelungen beschranken
kann? Immer neue Regelungsbereiche kommen hinzu. Wer hatte vor zwei Jahrzehnten
an ein schon langst voluminos angewachsenes und labyrinthisch-kompliziertes Um
weltschutzrecht gedacht? Wer an entsprechende Regelungen im Hinblick auf den Bau
und die Sicherheit von Kernkraftwerken? Die Regelungen haben sich derartig verdichtet
und ausgeweitet, daB es keine regelungsfreien Raume mehr zu geben scheint, daB das
Regelungsnetz jedes soziale Phanomen einfangt.
12 BinJeitling
Der Versuch mutet fast schon wie eine ohnmachtige Schutzgeste an, dem einzelnen
die Verfiigung iiber seine verbleibenden personlichen Eigenarten zu gewahrleisten.
Informationen iiber personliche Eigenschaften soUen nicht ohne weiteres zwischen
offentlichen und privaten Biirokratien hin und her gereicht werden diirfen, die Betrof
fenen sollen wissen, wie, wo und in welchem Umfang Daten iiber sie gespeichert worden
sind und sollen die Weitergabe kontrollieren konnen (Datenschutzgesetze). Aber auch
hier sind neue Gesetze, neue Behorden, neue Kontrollinstanzen erforderlich.
Eine gewaltige Entwicklung hat stattgefunden. Die Theoretiker des friihbiirgerlichen
Staates woUten denselben auf die Aufgaben des Schlichters nach innen, des Grenzmar
kierers und des Verteidigers nach auGen beschranken. Dafiir wurde er mit dem Monopol
physischer Gewaltsamkeit ausgestattet, dem Monopol, Recht zu setzen und durchzu
setzen, und dem Monopol, Zwangsabgaben (Steuern) zu erheben, urn seine Schutz-und
Regulierungsaufgaben erfiiUen zu konnen. Der Theorie nacho Ansonsten so Ute die
GeseUschaft in ihren Einzelnen und Gruppen ihren Interessen im friedlichen Wettbewerb
nachgehen konnen, ohne dauernde Drohungen dieser oder jener Gewalt, werde sie von
Adligen, werde sie von gewohnlichen Raubern ausgeiibt. Der Gewaltmonopolist Staat
soUte die biirgerliche Gesellschaft gerade dadurch befreien, daG er querstehende Ge
walten ausschaltete und sich ansonsten auf sein Grenzwachtertum im weiteren Sinne
beschrankte.
GewiG, diese VorsteUungen friihbiirgerlicher Theoretiker, denen politisch so ver
schiedene Leute wie Hobbes und Locke anhingen, entsprachen nie der Wirklichkeit. Den
Nachtwachterstaat hat es nicht gegeben. Nicht nur bedurfte es eines jahrzehnte-, ja
jahrhundertelangen Prozesses, bis sich der Anspruch der jeweiligen Zentralgewalt als
Monopolgewalt durchgesetzt hatte.! Es wurde hierbei gewalttatig gehobelt und es flogen
viele Spane. Vielmehr hat sich die Monopolinstanz Staat, wer immer ihr jeweiliger
Inhaber gewesen ist, ob absoluter Fiirst oder adlig-hochbiirgerliches Parlament, mehr
Kompetenzen herausgenommen, als nur vor konkreten Gefahren zu schiitzen. Diese
Kompetenzen wirkten sich auf den biirgerlichen Verkehr starker aus, als es die friih
biirgerlichen Theoretiker einraumen wollten. Auch in den liberalsten Zeiten, etwa in
England urn die Mitte des 19. Ja hrhunderts, war dieser Liberalismus nicht trotz, sondern
wegen des starken Monopolinhabers der Gewalt moglich. Der Staat wirkte nach innen
zum Schutz des Eigentums und seiner Verteilung klassenunterdriickend, nach auGen
sicherte er den Handlungsraum und die Investitionsmoglichkeiten der britischen Un
ternehmer. Und hierzu griff er kraftig ins biirgerliche Leben ein, vor allem sofern es
darum ging, Nicht-Biirger, d. h. Unterschichten, Teile des sich herausbildenden Prole
tariats, daran zu hindern, das freie Spiel des Eigentums-und Privilegiennutzens in Frage
zu stellen, indem auch diese Gruppierungen Anspriiche und Interessen anmeldeten.
Hierzu wurde das allgemeine Recht ebenso gebraucht, wie entsprechend gebogen.2
Dennoch muten der Regulierungskomplex und die Regelungen durchsetzende Biiro
kratie von damals heute geradezu zwergenhaft an. Was aber hat es zu bedeuten, wenn
der Staat nicht mehr wesentlich Schlichter, Grenzmarkierer, Schiitzer, in begrenztem
Umfang Sittenwachter und auch Unternehmer ist, sondern wenn sowohl das polizeiliche
Sicherheitssystem im engeren Sinne als auch das wohlfahrtsstaatliche Fiirsorgesystem
im weiteren Sinne nahezu aUumfassend geworden sind? Und die Entwicklung ist nicht
abgeschlossen.