Table Of ContentVerliebt in dich und Amsterdam
Betty Neels
Romana 1324
14/1 2000
gescannt von suzi_kay
korrigiert von Geisha0816
1. KAPITEL
Es war ein stürmischer Oktobernachmittag. Der dunkle
Himmel verlieh dem Meer ein stumpfes Grau, düstere Wellen
brachen sich am verlassenen Strand. Ein einziger Mensch war
unterwegs, eine junge Frau, die ab und zu stehen blieb, um über
das Wasser zu bücken oder einen Stein aufzuheben und in die
tosende Flut zu werfen.
Sie fühlte sich einsam und verloren in der trüben Landschaft
und gab sich keine Mühe, ihre Tränen wegzuwischen. Warum
sollte sie nicht weinen, wenn es keiner sah? Weinen erleichterte
das Herz. Danach, so redete sie sich ein, würde es ihr besser
gehen. Sie würde der Welt wieder ein heiteres Gesicht zeigen,
und niemand würde etwas anderes dahinter vermuten.
Als sie ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen hatte,
kehrte sie um. Sie stieg die Treppe zur Uferpromenade hinauf,
winkte dem Portier des gegenüberliegenden "Grand Hotels" zu
und bog in die schmale, steil nach oben führende High Street
ein. Die Saison war fast vorüber, und die kleine Stadt bereitete
sich langsam auf den Winterschlaf vor. Man konnte wieder
friedlich durch die Straßen spazieren, ungestört mit den
Ladenbesitzern plaudern, und wenn ein Auto vorbeikam,
gehörte es einem Bauern oder Villenbesitzer aus der Umgebung.
Die junge Frau bog in die Heather Lane, eine der noch
schmaleren Nebenstraßen, ein, deren alte Cottages zu kleinen
Geschäften und Cafes umgebaut worden waren. Etwa auf der
Hälfte der Straße lag ein etwas größeres Geschäft, über dessen
Schaufenster zu lesen war: "Thomas Gillard. Antiquitäten".
Eine altmodische Glocke bimmelte, als die Frau das Geschäft
betrat. "Ich bin's ... Daisy!" rief sie und nahm das Kopftuch ab,
mit dem sie ihr dichtes nussbraunes Haar geschützt hatte. Sie
war mittelgroß und rundlich, an ihrem Durchschnittsgesicht
fielen nur die großen braunen Augen mit den dichten Wimpern
auf. Der Tweedrock und die Steppjacke, die sie trug, passten gut
in die Jahreszeit, hatten mit Mode aber nichts zu tun.
Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch eichene
Klapptische, viktorianische Sekretäre, Glasvitrinen, Kommoden,
Fußschemel und Stühle unterschiedlichsten Alters. Auf jeder
freien Fläche standen Porzellanfiguren, Kristallkaraffen,
Riechfläschchen, Silbergerät und Keramiken - alles längst
vertraute und sorgsam gehegte Gegenstände. Ganz hinten führte
eine Tür in einen kleinen Nebenraum, den Mr. Gillard als Büro
benutzte. Hinter einer zweiten Tür lag die Treppe, über die man
in den ersten Stock gelangte.
Daisy drückte ihrem Vater im Vorbeigehen einen Kuss auf
die Stirn und ging ins Wohnzimmer hinauf, wo ihre Mutter vor
dem Gasofen saß und einen bestickten Kissenbezug ausbesserte.
Mrs. Gillard sah kurz auf und lächelte. "Es ist fast Teezeit,
Daisy. Wenn du den Kessel aufsetzt, kann ich dies noch
beenden. Wie war dein Spaziergang?"
"Wunderbar, obwohl es schon recht kalt ist. Zum Glück
gehört Salcombe wieder uns. Die letzten Touristen sind
abgereist."
"Geht Desmond heute Abend mit dir aus, Darling?"
"Wir haben noch nichts abgemacht. Er war mit jemandem
verabredet und wusste nicht, wie lange er brauchen würde."
"Weit weg?"
"In Plymouth."
"Oh, dann wird er sicher bald zurück sein."
Daisy nickte. "Ich mache jetzt den Tee."
Sie war ziemlich sicher, dass Desmond nicht kommen würde.
Sie waren erst gestern Abend ausgegangen und hatten in einem
der beiden besseren Restaurants von Salcombe gegessen. Dort
war Desmond Freunden begegnet, die Daisy wenig gefallen
hatten. Vielleicht machte ihre Liebe sie Desmond gegenüber
blind, aber das schloss seine Freunde nicht ein. Sie hatte sich
geweigert, nach Totnes in einen Nachtclub zu fahren, und war
dafür als altmodisch und prüde gescholten worden.
"Werde endlich erwachsen", hatte Desmond sie wütend
angefahren und dann schweigend nach Hause gebracht. Sobald
sie ausgestiegen war, hatte er wieder Gas gegeben, um schnell
zu seinen Freunden zurückzukommen. Sie selbst war bedrückt
in ihr Zimmer gegangen und hatte die halbe Nacht wach
gelegen.
Daisy hatte sich auf den ersten Blick in Desmond verliebt, als
er in den Laden gekommen war, um Weingläser zu kaufen. Sein
raffinierter Charme, sein gutes Aussehen und seine
geschliffenen Manieren hatten sie geblendet, denn sie steckte
trotz ihrer vierundzwanzig Jahre voller romantischer Ideen.
Gewiss, er war nur wenige Zentimeter größer als sie, und er trug
sein Haar zu lang, aber das sagte sie ihm nicht. Dazu war sie viel
zu verliebt.
Desmond war auch eitel, und diese Eitelkeit hatte ihn
bewogen, Daisy zum Essen einzuladen, worauf weitere
Begegnungen folgten. Desmond war fremd in dem kleinen
Küstenort. Seine Londoner Firma hatte ihn hergeschickt, um
irgendwelche Erkundigungen einzuziehen. Genaueres erfuhr
Daisy nicht, aber für sie gehörte er zu den Topmanagern, und sie
gab sich große Mühe, ihm den Aufenthalt zu versüßen. Sie
besuchte mit ihm das Museum und die Kirchen, zeigte ihm die
alten Straßen, die zum Hafen hinunterführten, und erzählte von
ihrer Geschichte.
Desmond empfand bei all dem nur Langeweile, aber Daisys
Wunsch, ihn zu unterhalten, schmeichelte seinem Selbstgefühl.
Er fand auch Daisy langweilig, aber sie bot ihm in dem
verschlafenen Nest etwas Abwechslung. Unter der Hand konnte
er sich ungestört nach einer neuen Freundin umsehen, die
hübscher war und mehr Geld besaß. Und natürlich eine bessere
Garderobe. Daisy trug nur preiswerte Kaufhausmode, worüber
er insgeheim lächelte.
Wie Daisy vermutet hatte, kam Desmond an diesem Abend
nicht. Sie überwand ihre Enttäuschung und verbrachte die
Stunden bis zum Schla fengehen damit, das alte Silberbesteck zu
putzen, das ihr Vater neu erworben hatte. Daisy stellte sich vor,
wie angenehm es sein musste, mit solchem Besteck zu essen.
Als sie fertig war, wickelte sie das Besteck in ein Samttuch und
legte es in den Wandschrank, in dem die kleineren Silbersachen
unter Verschluss gehalten wurden. Nachdem sie noch die
Ladentür verriegelt und die Alarmanlage eingeschaltet hatte,
ging sie wieder nach oben.
Sie bereitete in der Küche gerade den üblichen Schlaftrunk
zu, als das Telefon klingelte. Es war Desmond. Er befand sich in
bester Laune und schien den Streit vom Vorabend vergessen zu
haben.
"Ich habe eine Überraschung für dich", verkündete er.
"Samstagabend findet im ,Grand Hotel' ein festliches Dinner mit
anschließendem Tanz statt. Ich bin eingeladen und darf eine
Partnerin mitbringen." Desmond setzte seinen ganzen Charme
ein. "Du begleitest mich doch, Darling? Die Sache ist sehr
wichtig für mich, denn es werden Leute da sein, die ich
unbedingt kennen lernen muss. Zieh dich hübsch an, damit man
sich nach uns umdreht. Rot wäre gut. Rot kann man nicht
übersehen."
Daisy verbarg ihre Freude und sagte ruhig: "Ich komme gern
mit, Desmond. Wird es spät werden?"
"Kaum später als Mitternacht. Ich verspreche, dich sicher
nach Hause zu bringen. Leider habe ich in dieser Woche viel zu
tun, aber wir sehen uns am Samstag. Sei um acht Uhr fertig."
Nachdem Desmond eingehängt hatte, stand Daisy eine Weile
da und dachte träumerisch an das Kleid, das sie sich kaufen
würde. Ihr Vater bezahlte sie für ihre Mitarbeit im Laden, und
sie hatte fast alles gespart. Glücklich ging sie zu ihrer Mutter,
um ihr die Neuigkeit zu erzählen.
Da Mr. Gillard kein Auto besaß und der Busverkehr nach
Saisonschluss stark eingeschränkt war, kamen weder Totnes
noch Plymouth zum Einkaufen in Frage. Daisy durchstöberte
alle Boutiquen in der High Street und fand zu ihrer
Erleichterung das richtige Kleid - rot und, wie sie zugeben
musste, durchaus nicht ihr Stil. Aber Desmond wollte Rot...
Sie ging nach Hause und probierte das Kleid noch einmal an.
Es war noch kürzer, als sie im Laden wahrgenommen hatte, und
ziemlich freizügig geschnitten. Ein solches Kleid hatte Daisy
noch nie getragen. Sie zeigte es ihrer Mutter und merkte, dass
diese ähnlich dachte. Doch Mrs. Gülard liebte ihre Tochter und
wollte, das" sie glücklich war. Sie erklärte, dass das Kleid für
diese besondere Gelegenheit gerade richtig sei, und flehte
stumm zum Himmel, dass Desmond, den sie nicht mochte, von
seiner Firma in das nördlichste Schottland versetzt werden
möge.
Der Samstagabend kam. Daisy zog erwartungsvoll das neue
Kleid an, schminkte sich besonders sorgfältig und steckte das
Haar hoch, was etwas zu seriös wirkte und daher nicht zu dem
roten Kleid passte.
Desmond kam zehn Minuten zu spät, ohne sich dafür zu
entschuldigen. Mr. und Mrs. Gülard begrüßten ihn höflich und
wünschten einmal mehr, ihre Tochter hätte sich in einen anderen
Mann verliebt.
"Sehr nett", meinte er, nachdem er das Kleid umständlich
betrachtet hatte. "Die Frisur passt leider nicht dazu, aber es ist zu
spät, um das zu ändern. Wir müssen uns beeilen."
Die Gäste drängten sich bereits in der Hotelhalle und
warteten darauf, in den Speisesaal gebeten zu werden. Einige
kannten Desmond und begrüßten ihn. Als Desmond Daisy
vorstellte, nickten sie flüchtig und kümmerten sich nicht weiter
um sie. Doch das störte sie nicht. Sie stand still da und lauschte
Desmonds Worten. Er konnte gut reden und wusste das
Interesse seiner Zuhörer geschickt wach zu halten.
Beim Essen saßen sie mit sechs anderen Gästen an einem
Tisch. Desmond beherrschte weiter das Gespräch und gab sich
keine Mühe, Daisy daran teilnehmen zu lassen.
Ihr linker Tischherr war ein jüngerer Mann, der sich nach
einer Weile laut erkundigte: "Und wer sind Sie? Vermutlich
Desmonds Partnerin und ganz und gar nicht sein Typ, wenn ich
das sagen darf. Der schlaue Fuchs will den Ehrengast auf sich
aufmerksam machen - einen alten Knacker mit viel Einfluss, der
immer predigt, dass alle jungen Männer heiraten und mit einer
netten kleinen Frau Kinder haben sollten." Er lachte. "Wie die
Frau aussieht, ist dabei nicht wichtig. Je unscheinbarer, desto
besser. Ich fürchte, Sie dienen dem guten Des nur als
Aushängeschild."
Daisy bedachte ihren Nachbarn mit einem eisigen Blick und
unterdrückte den Wunsch, ihm eine schallende Ohrfeige zu
geben. Hätte Desmond nicht neben ihr gesessen, wäre sie
aufgestanden und hinausgegangen, aber wie hätte sie ihm einen
Abend verderben können, der so wichtig für ihn war?
Sie ließ das weitere Dinner über sich ergehen, ignorierte
ihren linken Nachbarn und wünschte, Desmond würde auch mit
ihr sprechen. Doch sein Interesse galt ausschließlich seiner
rechten Tischdame, einer eleganten Frau, die ihm aufmerksam
zuhörte. Manchmal wandte er sich an die ganze Tischrunde,
aber auch dann blieb Daisy ausgeschlossen. Vielleicht würde es
beim Tanzen besser werden ...
Daisys Hoffnung erfüllte sich nicht. Desmond forderte sie
zwar zum ersten Tanz auf und wirbelte angeberisch mit ihr
herum, aber schon vor der nächsten Nummer entschuldigte er
sich.
"Ich muss mit einigen Leuten sprechen, Darling. Es wird
nicht lange dauern. Du wirst genug andere Partner finden, denn
du tanzt recht gut. Nur um eins bitte ich dich ... mach, um
Himmels willen, ein anderes Gesicht! Ich weiß, das hier ist
einige Nummern zu groß für dich, aber deswegen könntest du
doch ab und zu lächeln." Er winkte jemandem am anderen Ende
des Saals zu. "Ich muss gehen. Bis gleich, Darling."
Daisy blieb allein zurück, eingezwängt zwischen einer Statue,
die eine Lampe trug, und einem üppigen Blumenarrangement.
Durch die gegenüberliegende Tür konnte sie auf den Flur
hinaussehen, wo zwei Männer standen und sich unterhielten.
Nach einer Weile verabschiedeten sie sich voneinander. Der
ältere Mann ging weiter, und der jüngere blieb stehen, um den
Tänzern zuzuschauen. Er bemerkte Daisy ebenfalls und
betrachtete sie unauffällig. Sie schien nicht hierher zu passen
und das rote Kleid...
Ein vager Wunsch, ihr zu helfen, trieb ihn näher. Er konnte
jetzt erkennen, dass sie kaum durchschnittlich aussah und
verschüchtert wirkte, als passte sie nicht in diese lärmende
Menge. Er blieb vor ihr stehen und fragte freundlich: "Geht es
Ihnen wie mir? Sind Sie auch fremd hier?"
Daisy erkannte erst jetzt, wie groß und kräftig der Mann war.
Er hatte ein angenehmes Gesicht und kurzes graues Haar. Die
ausgeprägte Nase verriet Charakter, die Lippen waren schmal,
aber ihr Lächeln erweckte Vertrauen.
"Eigentlich ja", gestand Daisy, "obwohl ich nicht allein
gekommen bin. Ich kenne niemanden ..."
Julian der Huizma verstand es gut, anderen die Befangenheit
zu nehmen. Er begann ein zwangloses Gespräch über allgemeine
Dinge und merkte, dass Daisy sich entspannte. Eine
sympathische junge Frau, dachte er. Wie kommt sie nur zu dem
unmöglichen Kleid?
Er leistete Daisy Gesellschaft, bis er Desmond kommen sah.
Als Desmond sie erreichte, nickte er freundlich und ging weiter.
"Wer war das?" fragte Desmond scharf.
"Ein anderer Gast", antwortete Daisy. "Ich kenne ihn nicht."
Etwas gereizt setzte sie hinzu: "Es war nett, sich mit jemandem
zu unterhalten."
Desmond lenkte sofort ein. " Oh Darling, es tut mir ja so
Leid." Er lächelte, und Daisys Herz setzte einen Schlag aus. "Ich
werde alles wieder gutmachen. Einige Bekannte fahren noch zu
einem Nachtclub in Plymouth. Du kannst mitkommen. Einer
mehr spielt keine Rolle."
"Plymouth? Aber Desmond, es ist beinahe Mitternacht. Du
hast versprochen, mich rechtzeitig nach Hause zu bringen.
Außerdem bin ich nicht persönlich eingeladen worden."
"Wen stört das? Du würdest niemandem auffallen. Mein
Güte, Daisy, kannst du nicht einmal aus deiner Reserve ..." Er
unterbrach sich, denn eine hübsche, ganz nach der Mode
gekleidete Blondine näherte sich. Sie balancierte auf zehn
Zentimeter hohen Absätzen, schwenkte ein Paillettentäschchen
und schüttelte dazu den Lockenkopf.
"Oh Des, da bist du ja! Wir warten auf dich." Sie fixierte
Daisy, worauf Desmond schnell erklärte:
"Das ist Daisy. Sie begleitet mich heute Abend. Daisy, das ist
Tessa."
Tessa zuckte die Schultern. "Von mir aus kann sie
mitkommen. In einem der Autos wird noch genug Platz sein."
"Vielen Dank", antwortete Daisy. "Ich habe versprochen, um
Mitternacht zu Hause zu sein."