Table Of ContentANONYM
UNTER GRÜNEM RASEN
Eine kulturwissenschaftliche Studie zu neuen
Formen von Be gräbnis- und Erinnerungspraxis
auf Friedhöfen
Traute Helmers
Band 1 (Textband)
Dissertation
Oldenburg 2004
Zur Erlangung eines Grades der Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) im
Kulturwissenschaftlichen Institut für KUNST-TEXTIL-MEDIEN der Fakultät III
Sprach- und Kulturwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
eingereichte Dissertationsschrift von
Traute Helmers
geboren am 27. Juni 1953 in Varel (Landkreis Friesland)
Erstreferentin:
Prof. Dr. Karen Ellwanger
Kulturwissenschaftliches Institut für KUNST-TEXTIL-MEDIEN
Zweitreferent:
apl. Prof. Dr. Ingo Scheller
Kulturwissenschaftliches Institut für KUNST-TEXTIL-MEDIEN
Tag der Disputation: 28. September 2004
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Herzlichen Dank...
sage ich besonders Frau Prof. Dr. Karen Ellwanger und Herrn apl. Prof. Dr. Ingo Scheller. Sie haben
die Studie ebenso kritisch wie unorthodox begleitet und mich durch intensive Gespräche und ihr
unerschütterliches Vertrauen in meine Arbeit ermutigt. Zu den weiteren günstigen Bedingungen, die
für mich eine Basis für das Projekt Promotion geschaffen haben, gehörte der Promotionsstudiengang
Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und
dessen Forum interessierter, diskussionsfreudiger KollegiatInnen. Die InterviewpartnerInnen über-
ließen mir wertvolles Forschungsmaterial, und zahlreiche GesprächspartnerInnen aus unter-
schiedlichen Forschungsfeldern und Institutionen ließen sich für das Thema begeistern, engagierten
sich für meine Anliegen. Dies gilt auch für AnsprechpartnerInnen in universitären Bereichen; allen sei
herzlich gedankt. Mein Dank gebührt auch den ForschungswerkstättlerInnen, hier besonders Stefanie
Stegmann und Lüder Tietz. Der persönliche Beistand von FreundInnen und Bekannten war hilfreich
für mich.
Traute Helmers
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Inhalt (Textband)
O ZUM EINSTIEG 5
I. KULTURWISSENSCHAFTLICHES, GESCHLECHTERBEZOGENES
FORSCHEN ZUM ANONYMEN BEGRÄBNIS
Kapitel 1
Forschungsstand und Fragestellung
1. Hintergründe/Wissensfelder:
Aus dem Forschungsstand 8
2. Seh-und-Hörfreude/Wissensdurst/Bereitschaft zur Reflexion/Muße:
Die leitende Fragestellung 20
3. Begrifflich fassen:
Glossar der Arbeitsbegriffe 24
Kapitel 2
Multiperspektivisches und multimethodiales Forschungsinstrumentarium
1. Forschungstheoretische Grundlagen und Positionen 31
2. Forschungsmethoden und analytisches Vorgehen 41
3. Forschungsquellen-Kombinatorik 49
Kapitel 3
Bestattungskultur als Synthese von Sozial- und Kulturgeschichte:
Ein friedhofsgeschichtlicher Exkurs in das 19. und 20. Jahrhundert
mit Einwürfen aus Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung 50
II. DAS ANONYME BEGRÄBNIS ALS BESTATTUNGSKULTURELLE OPTION.
INDIVIDUELLES VORAUSVERFÜGEN ZUM EIGENEN GRAB UND
VORSORGEN FÜR EIN ERINNERTWERDEN
Kapitel 1
(Interview-)Begegnungen mit Frauen und Männern, die anonym begraben
werden wollen
1. Vorbemerkungen 59
2. Vorstellung der InterviewpartnerInnen in zwei Kohorten 61
2.1 Biographische Kurzbeschreibungen und Begegnungsnotizen 62
3. Entscheidungskriterien und Motivationen für ein eigenes anonymes Grab 82
3.1 Frühe grabbezogene Aneignungsschritte in Kindheit, Jugend und familiärer Praxis 82
3.2 Erfahrungs- und Handlungsweisen zu Tod und Begräbnis im Erwachsenenalter 85
3.3 Dem Abschied für sich selbst eine Form geben: Begräbnisrituale aus individueller Sicht 101
3.4 Bilder von Körper und Tod 105
3.5 Bilder von Natur und Tod 138
4. Sprachliche Zugänge als Indizien von (Bestattungs-)Kulturverständnis 141
5. Zusammenfassung und weiterführende Interpretation 144
Kapitel 2
Dass etwas bleibt: Objekte und Praxis von Erinnerungsvorsorge
1. Vorbemerkungen 162
2. Die eigene Praxis, bestimmte Tote zu erinnern 164
3. Objekte und Praxis von Erinnerungsvorsorge 168
3.1 Vom Ding, das am Herzen liegt, zum multifunktionalen Erbe 168
3.2 Von A bis Z: Praktiken, die letzte Dinge regeln 169
3.3 Etwas Immaterielles vererben: Das schriftliche Vermächtnis 180
4. Zusammenfassung und weiterführende Interpretation 182
4
III. DAS ANONYME BEGRÄBNIS ALS BESTATTUNGSKULTURELLE REALISATION.
INSTITUTIONELLE UND INDIVIDUELLE WEISEN DES GESTALTENS,
VERWALTENS UND IN-ERINNERUNG-BEHALTENS
Kapitel 1
Exemplarische anonyme Grabfelder auf Friedhöfen
1. Vorbemerkungen 189
2. Exemplarische anonyme Grabfelder auf Friedhöfen 192
2.1 Rastede in Niedersachsen 192
2.2 Huckelriede in Bremen 193
2.3 Ohlsdorf in Hamburg 194
2.4 Wiesbaden-Süd in Hessen 197
3. Zusammenfassung und weiterführende Interpretation 199
Kapitel 2
Das anonyme Begräbnis zwischen institutionellem Bestattungsalltag
und individueller Aneignung
1. Vorbemerkungen 205
2. Begegnungen mit Friedhofsbeschäftigten 207
3. Institutionelle Bilder vom Raum unter dem Rasen 215
4. Begegnungen mit Nahestehenden der anonym Begrabenen und mit einer Friedhofsbesucherin 219
5. Zusammenfassung und weiterführende Interpretation 228
Kapitel 3
Ritual und Objekt in der Erinnerungspraxis am anonymen Grabfeld
1. Vorbemerkungen 232
2. Ritual 234
2.1 Performative Handlungsmuster 234
2.2 Zu einzelnen Haltungen und Gesten und deren Kommentar in Kleidung 238
3. Objekt: Fundstücke erzählen 243
Exkurs: Dinge alltäglicher Erinnerungspraxis im Zuhause einer Witwe und eines Witwers 252
4. Zusammenfassung und weiterführende Interpretation 254
IV. ZU GUTER LETZT
1. Vorbemerkungen 265
2. Resümierender Gang durch zentrale Kapitel der Studie 266
3. Produktiv-konstituierende Faktoren in Bestattungskultur 282
4. Kritische Anmerkungen zur Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses als alltagsferner Bereich 328
5. Ausblick 334
LITERATURVERZEICNIS-NACHWEISE-ABSTRAKT
Literaturverzeichnis 344
Abbildungsnachweis 360
Materialnachweis 361
Abkürzungsnachweis 362
Abstrakt 364
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O ZUM EINSTIEG
Der Gedanke an einen Friedhof erzeugt die Vorstellung, dort Gräber und Grabzeichen vorzufinden,
die Tote namentlich bezeichnen, die über sie und die genaue Lage ihres Grabs Auskunft geben. Für
viele ist das ziellose Schlendern durch einen am Ende des 19. Jahrhunderts angelegten Friedhof ein
vergnügliches Unterfangen; historische Grabmale erzeugen durch ihre spezifischen Symbole, Materi-
alien und ihre kunstvolle Gestaltung eine besondere Atmosphäre, und ein Übriges bewirkt das
Gartenkünstlerische der Anlage. Grabmale können wie eine ”steinerne Feier der Biographie” vieler
einflussreicher Männer und einiger Frauen gelesen werden.1 Jüngere Bezirke eines Friedhofes weisen
andere Varianten von Bestattungskultur auf: Gleichförmig in Material, Größe und Stil und kleiner in
der Fläche, dafür geometrisch funktional angeordnet, bilden Gräber und Grabzeichen standardisierte
Reihen und Aussagen. ”Heute sind die Toten eingeparkt wie Luxuslimousinen. Schwarz und bom-
bastisch, in makellosem Hochglanz werden mit dem Kran steinerne Monstren angeschleppt und in
tödlicher Korrektheit abgesetzt. Grundstück für Grundstück, mit den gleichen schwarzen Stein-
barrieren abgeriegelt. Protzige Materialschlacht-Felder. Und dazwischen saubere Abstandsflächen auf
totem Industriekies. Damit sich ja kein Unkraut regt. Einsamkeit in Makellosigkeit. Auch im Tod noch
Ellenbogen.”2 Dieses Erscheinungsbild ist ebenso vertraut wie die Gemeinschaftsgrabanlagen der
Kriegsgräber-Gedenkstätten des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Gemeinhin gilt die Auffassung, dass
die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihren Toten umgeht, widerspiegelt, wie es um sie
beschaffen ist. Die symbolische Kommunikation mit Toten gilt als kontinuitäts- und kulturschaffender
Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung, Gräber werden zu Kulturträgern und Zeichen individueller
Geschichten. ”Das Grabmal in sinnvoller Gestaltung verkörpert den Verstorbenen. Es hilft beim be-
GREIFEN, wo das Du geblieben ist. Die Namen, ein persönliches Symbol des Weggegangenen und
die eigene Gestaltung des Steins drücken aus, wer der Mensch war. Trifft das Grabmal in seiner
Aussage den Wesenskern des Menschen, dann kann der Dialog mit dem Du fortgesetzt werden.”3
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verändern Friedhöfe sich nachhaltig; individuell
ausgewiesene Einzel- und Familiengrabstätten verlieren an Bedeutung zugunsten anonymer Be-
gräbnisformen. In den 70ern des 20. Jahrhunderts als AußenseiterInnen beargwöhnt, wählen Men-
schen heute entschlossen und auch gegen Widerstände aus dem privaten Umfeld oder von Seiten der
Bestattungs- und Seelsorge-ExpertInnen ein anonymes Begräbnis für sich. Der Wandel kommt häufig
in Gestalt des Vertrauten daher: Nahestehende nehmen in einer öffentlichen Trauerfeier Abschied,
laden durch Todesanzeige dazu ein, begleiten Urne oder Sarg bis zum Einlassen in ein – und hier wird
der Wandel am deutlichsten sichtbar – für gemeinschaftliche Begräbnisse vorgesehenes Feld, ohne
dass die individuelle Grablage anschließend mit Namen und Grabbegrenzungen versehen wird. In der
zeitlichen Umgebung des Totensonntags oder Volkstrauertags wird in den Medien das Phänomen des
anonymen Begräbnisses diskutiert: ”Der Mensch braucht einen Ort, an dem er trauern kann”, so Astrid
1 Fischer, Norbert: Wie wir unter die Erde kommen. Sterben und Tod zwischen Trauer und Technik. 1996, 160.
– Ich danke Norbert Fischer für weiterführende Hinweise.
2 Wieland, Dieter, P.M. Bode, R. Disko: Grün kaputt. Landschaft und Gärten der Deutschen. 1983, 67.
3 Nixdorf, Renate: Editorial: Ich und Du = Wir! In: ZEITLOS. Das Journal für Lebensbewusste. 1/2003, 2.
6
Fertig-Niespor, ”immer mehr Hinterbliebene fragen nach der Möglichkeit, ihre Angehörigen anonym
zu bestatten [...].” 4 ”Manche wollen es dann doch wissen”, berichtet Axel Wermelskirchen, ”und sie
versuchen es mit der Fuß-vor-Fuß-Methode auszumessen, wo genau die Urne mit der Asche ihres
Angehörigen liegen könnte [...]. Irgendwann sehen die Friedhöfe wie Golfplätze aus.”5 Die anonyme
Bestattung sei beileibe kein ‚Armenbegräbnis‘, man finde sie in allen Schichten.
In den drei literarischen Gattungen Epik, Lyrik und Drama spielen Begräbnisse eine nicht
unbedeutende Rolle; in Texten des Autors Josef Winkler zum Beispiel, dessen Prosaminiaturen als
sinnlich, sarkastisch, leidenschaftlich und selbstentblößend beschrieben werden, ist das anonyme
Begräbnis auch zu finden. ”Mit dem roten Tretroller jagt das Kind den fliehenden Eichkätzchen her.
[...] Eine Frau steht mit zum Gebet gefalteten Händen am Rande eines völlig ungeschmückten
Rasenstücks und starrt auf eine bestimmte Stelle. Ich bitte Sie, sagte eine neben mir auf der Bank
sitzende Witwe, lassen Sie doch das Kind nicht mit dem Tretroller über den grünen Rasen fahren,
denn hier werden die Urnen Verstorbener vergraben, die anonym beigesetzt werden wollen. Wenn
man keine Verwandten mehr hat, die Kinder weit weg sind, wer soll dann aufs Grab schauen? Wir
Witwen treffen uns bei schönem Wetter fast jeden Tag, wir werden uns alle hier begraben lassen,
Anonym im Grünen Rasen nennt man das!”6 (Hervorhebung durch Autor, TH). Winkler erzählt mit
ethnografisch scharfem Blick für Details und Zwischentöne Geschichten vom Begrabenwerden in
unterschiedlichen Kulturen, von Ritualen und Objekten, die unabhängig davon, ob sie traditionell
anmuten oder auf Neues hinweisen, sich auf bestimmte Weise ähneln. Immer ist es etwas nicht
Intendiertes, ein ‚Anderes‘, das Formen und Sprache, Gefühle und Bedeutungen - um nur einiges zu
nennen - sprengen kann. Häufig ist es dabei die Alltäglichkeit, die das Mühen um Ordnung, Würde
und Pietät entlarvt und es dem Lachen und Absurden oder dem Schauerlichen und Schmerzlichen
überantwortet.
Die Diskussionen um das anonyme Begräbnis lassen einen Eindruck von Verrohung und
Hilflosigkeit im Umgang mit Toten, Trauer und der Haltung zum eigenen Tod entstehen und machen
Einstellungen und Handlungsweisen Beteiligter für einen bedrohlichen Verfall von Bestattungs- und
Trauerkultur verantwortlich. Dieses zerklüftete Gelände unterschiedlicher Lager und Wissensbestände,
die gesprengten Ordnungen, die Frage nach Bedeutungen des Geschlechts und vermeintlich
Nebensächliches wie Details und Zwischentöne wecken mein kulturwissenschaftliches Forschungs-
interesse, in das eine Vorfreude auf Entdeckungen im Unwegsamen einfließt. Das ‚Eigenleben‘ von
Alltagspraktiken, Dingen und Orten schien mir nicht hinreichend berücksichtigt zu sein, und der Blick
auf die Sichtweisen der Handelnden schien zu kurz zu greifen. Während KulturkritikerInnen über die
AkteurInnen sprechen, wollte ich mit ihnen sprechen, sie als ExpertInnen ihrer selbst befragen. Ich
interessiere mich nicht nur dafür, wie ”Kultur im Handeln der Akteure reproduziert wird, sondern
auch, wie Akteure durch ihr Handeln Kultur destabilisieren, dynamisieren, neu schaffen.”7 Dass
Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur mit bestimmten Geschlechterverhältnissen und –bildern
4 In: ‚Wilhelmshavener Zeitung‘ vom 22.11.97.
5 In: ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ vom 01.11.97.
6 Winkler, Josef: Leichnam, seine Familie belauernd. 2003, 115.
7 Welz, Giesela: Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitätsdruck. In: Zeitschrift für Volkskunde. 94. Jg.
1998, 177-194, hier 193.
7
operiert, ist nicht zu übersehen. Nach Erfahrungen der Kulturwissenschaftlerin und Bestatterin
Cordula Caspary (Bremen) wird zum Beispiel die Beerdigung eines Mannes im Durchschnitt
aufwendiger und kostenintensiver gestaltet als die einer Frau.8 Der Tod und das Begrabenwerden von
Menschen, die als Männer bezeichnet werden, darf nicht stillschweigend mit dem Tod und dem
Begrabenwerden von solchen gleichgesetzt werden, die Frauen genannt sind. Es stirbt jeweils ein
kulturell unterschiedlich definierter biologischer, sozialer und symbolisierter Mensch und Körper,
dessen gesetzte Differenzen auch durch die Form des Grabs und damit verbundener Praktiken über
den Tod hinaus wirken.
Der I. Abschnitt der Studie verschafft einen Einblick in den Stand der Forschung, woraufhin
Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Arbeitsbegriffe präzisiert werden. Nach der Darstellung der
Vorgehensweise und des Forschungsinstrumentariums für den Gang der Arbeit kleide ich deren
Hintergrund mit einem friedhofsgeschichtlichen Exkurs in das 19. und 20. Jahrhundert und Einwürfen
aus Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung aus. Im II. Abschnitt geben im Rahmen von
Fallstudien zehn Frauen und Männer, die für sich ein anonymes Begräbnis wünschen, Einblicke in ihre
Art und Weise, letzte Dinge9 zu regeln und einem Erinnert- oder Vergessenwerden vorzusorgen. Die
Gestaltungsweisen der anonymen Gräber bzw. die Friedhofsbeschäftigten als deren Verwalter sind das
Thema des III. Abschnitts. An dieser Stelle fällt der Blick auf Erinnerungspraktiken von Nahe-
stehenden an anonymen Gräbern und auf (Wechsel-)Wirkungen von Raum, Ritual und Objekt im
Rahmen individueller und institutioneller Aneignungsweisen. Der abschließende IV. Abschnitt trägt
Befunde zusammen und schließt diese an weiterreichende Felder an.
8 Mein Dank für Hinweise und Kooperationsbereitschaft gilt Cordula Caspary.
9 Zum Begriff vgl. Beltz, Walter: Lexikon der letzten Dinge. 1993.
8
I. KULTURWISSENSCHAFTLICHES UND GESCHLECHTERBEZOGENES
FORSCHEN ZUM ANONYMEN BEGRÄBNIS
Kapitel 1
Forschungsstand und leitende Fragestellung
1. Hintergründe-Wissensfelder: Aus dem Forschungsstand
Der Verzicht auf ein individuell gekennzeichnetes Grab rührt an ein auf den Tod bezogenes
komplexes Geflecht von Mythen, Riten und kulturellem Reglement. ”In allen Gesellschaften [...] hebt
das Problem des Todes die wichtigsten kulturellen Werte hervor, nach denen die Menschen ihr Leben
leben und ihre Erfahrungen bewerten. Das Leben wird transparent vor dem Hintergrund des Todes,
und entscheidende soziale und kulturelle Fragen werden sichtbar.”10 Bestattungsriten, Trauererleben
und –verhalten stehen mit der Kultur, innerhalb derer sie sich darstellen, in engem Zusammenhang;
kulturanthropologische Untersuchungen beschreiben (geschlechterdifferente) Funktionen und Hand-
lungsweisen im Umgang mit Tod, Leiche und Grab vorzugsweise als natürliche Phänomene.
Reaktionen auf Verlust werden nicht mehr nur aus biologistisch-evolutionärer Perspektive betrachtet:
In der angloamerikanischen Forschung bezeichnen beispielsweise die Begriffe ‚mourning‘ und ‚grief‘
zwei Komponenten eines ‚bereavement-behavior’. Das mit ‚mourning‘ Umschriebene habe seinen Ur-
sprung vor allem in der Kultur, und das mit ‚grief‘ Gemeinte sei ein Produkt biologischer Evolution.11
Als Beispiel für die Wirkung soziokultureller Faktoren sei die je Kultur unterschiedlich lange Dauer
einer Witwentrauerzeit genannt.12 Neben Wissensbeständen aus Alltagskulturen und Wissenschaft
existiert ein differenziertes ExpertInnen-Wissen im Umgang mit Sterben und Tod. Zu Berufszweigen
mit routinierter Praxis und kulturellen Berufsbildern, die in langen Zeiträumen entstanden sind, treten
heute neue DienstleisterInnen wie Trauer- und RitualberaterInnen oder ThanatologInnen hinzu. Die
Vermutung, dass eine liberalere Bestattungskultur den Trend zum anonymen Begräbnis abwenden
würde, wird mit Blick auf variantenreiche Bestattungspraktiken, wie sie beispielsweise in den
Niederlanden zu beobachten sind, nicht bestätigt. Vom Beisetzen auf privatem Grund bis zum
Ausstreuen der Totenasche und zur großen Gestaltungsfreiheit für individuelle Gräber werden auch
verschiedene Formen des anonymen Begräbnisses praktiziert, in manchen Regionen für bis zu 60%
aller Verstorbenen.13
10 Vgl. Huntington und P. Metcalf nach Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Weiblichkeit, Tod und
Ästhetik. 1992, 261.
11 Stubbe, Hannes: Formen der Trauer. 1985, 12.
12 Ursula Machtemes untersucht den Witwenstand bürgerlicher Oberschichtswitwen als ein Bürgerinnenleben
zwischen Totenkult, Pathos und Mitgefühl, vgl. dieselbe in: Leben zwischen Trauer und Pathos. Bildungs-
bürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert. 2001. - Irmela Körner betrachtet Lebensentwürfe von Witwen im 20.
Jahrhundert. Dieselbe: Witwen: Biographien und Lebensentwürfe. 1997. Vgl. auch Revesz, G.: Das Trauerjahr
der Witwe. In: Zeitschrift für vergl. Rechtswissenschaft 15, 1902, 361-405, zitiert nach Stubbe, Hannes: Formen
der Trauer. Eine kulturanthropologische Untersuchung. 1985, 135-137. Danach wird die Trauerzeit durch
Faktoren wie Knappheit an Frauen, Schwierigkeit der Erhaltung von Kindern, Einfluss der Missionen, äußere
Machteingriffe wie z. B. die engl. Gesetzgebung gegen die Witwenverbrennung verkürzt, während Faktoren wie
Aussöhnung mit dem Toten-Geist, die Vorstellung von Unreinlichkeit der Leiche, die Fraglichkeit einer
künftigen Schwangerschaft der Witwe, ethische Überlegungen, das Eigentumsrecht des Mannes über die Frau
und die Idee der Unreinlichkeit der Witwe die Trauerzeit verlängern.
13 Zeitschrift FRIEDHOF UND DENKMAL. Nr. 1/97, 7-20.
Description:10 Vgl. Huntington und P. Metcalf nach Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Weiblichkeit, Tod und. Ästhetik. 1992, 261. Feldpostkarten aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs versuchen diese Versprechen auf den