Table Of Content1. KAPITEL
Granada, gegen Ende des 15. Jahrhunderts
Es war am frühen Nachmittag. Die schneebedeckten Gipfel des Gebirges
blendeten vor dem klaren blauen Sommerhimmel, an dem die Sonne wie ein
großer kupferner Ball hing und ihre heißen Strahlen zur Erde schickte.
Das Mädchen schlüpfte aus dem Lager. Die nackten Füße verursachten kein
Geräusch auf dem dürren Gras des Olivenhains. Keine Bewegung, kein
Lebenszeichen — die Stammesangehörigen hielten Siesta während der größten
Tageshitze, und sogar die Vögel schwiegen. Die Hunde blinzelten verschlafen
auf, als die junge Frau vorbeihuschte. Da sie sie erkannten, schlossen sie die
Augen gleich wieder.
Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl, bis sie den Hain hinter sich gelassen und die
blendend weiße Staubpiste erreicht hatte, die in der einen Richtung hinauf in die
Sierra Nevada und in der anderen hinunter ans Meer führte.
Einen kleinen Moment blieb sie stehen und atmete tief die heiße, nach Thymian
duftende Luft ein.
Hinter einem Felsblock leuchtete etwas Rotes auf. Er war da! Ungeachtet der
sengenden Hitze rannte Sarita den felsigen Abhang hinauf. Sie hatte die Röcke
über ihren sonnengebräunten Beinen geschürzt, so daß sie ungehindert und
schnell vorankam. Sie fühlte weder die scharfkantigen Steine noch das dornige
Gestrüpp unter ihren Füßen, denn ihre Sohlen waren wie Leder. Das Haar hing
ihr offen über den Rücken, und die Sonne schien die rötlichen Locken in
flackernde Flammen zu verwandeln.
„Sandro! Wie schön — du konntest kommen!" Lachend sprang sie hinter den
Felsvorsprung und direkt in die Arme des lächelnden jungen Mannes, der dort
auf sie gewartet hatte. Ein an einen Dornbusch gebundenes Pony ließ
gelangweilt den Kopf hängen, und zwei mit Weinfässern beladene Maultiere
fraßen das spärliche Grün vom Boden ab.
„Tariq erwartet mich frühestens in einer Stunde zurück", sagte Sandro. „Er wird
sicherlich annehmen, ich hielte im Dorf Siesta. Bei dieser Hitze machen sich ja
auch nur Verrückte auf den Weg."
„Und wir sind Verrückte." An der Hand zog Sarito Sandro in den schmalen
Schatten, den der Felsvorsprung warf.
„Verrückt genug, so ein gefährliches Risiko einzugehen, doch hier wird uns
niemand entdecken." Sie umarmte ihn, und zusammen sanken sie zu Boden.
Sandro kniete über ihr, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte sie
stürmisch auf den Mund. Sie öffnete ihm ihre Lippen, ließ ihre Zunge tanzen
und preßte ihre Brüste an seinen Oberkörper.
„Hat dich wirklich niemand fortgehen sehen?" Er richtete sich für einen Moment
auf, um die Verschnürung ihres Mieders zu lösen.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Meine Mutter schnarchte laut, als ich den Wagen
verließ," Sarita lachte glücklich und aufgeregt, wenn auch ein bißchen nervös;
ihre eigenen Gefühle, die drohende Gefahr und die absolut verbotene Art ihres
Treffens machten ihr angst.
Sandro streifte ihr rasch das geöffnete Mieder von den Schultern und neigte den
Kopf über ihre Brüste. Leise stöhnend bog Sarita ihm ihren Körper entgegen, so
daß Sandro ihre Brustspitzen mit Zunge und Zähnen reizen konnte, bis sie sich
hart aufrichteten.
„Ich begehre dich", flüsterte er, und sein heißer Atem streifte ihre erhitzte Haut.
„Sarita, ich begehre dich so sehr, daß ich kaum an mich halten kann."
Sie antwortete mit ihrem Körper. Fest zog sie Sandro zu sich heran, schob sein
rotes Wams hoch und ließ die Hände unter sein Hemd gleiten. Sie liebkoste und
streichelte seine nackte Haut immer drängender, während sich ihr eigenes
Verlangen steigerte.
Scharfes, warnendes Hundegebell zerriß die lastende Stille. Sarita und Sandro
hielten inne. Das Bellen kam vom Olivenhain her. Vermutlich hatte einer der
Hunde nur einen unbekannten Geruch wahrgenommen, aber der Schaden war
angerichtet. Das Lager war unwiderruflich aufgeschreckt und der Frieden der
Siesta gebrochen.
Sarita setzte sich auf und zog ihr Mieder zurecht. In ihren meergrünen Augen
spiegelte sich noch das Verlangen, und ihre Hände zitterten, während sie die
Schnüre wieder zuknöpfte.
„Du gehst zuerst", flüsterte sie, obwohl doch kein Lauscher in der Nähe war.
„Wenn du Tariq und den anderen möglichst wortreich von deiner Botenreise
berichtest, werden dir alle zuhören und darüber vielleicht nicht bemerken, daß
ich nicht da bin. Ich werde von hinten ins Lager zurückkehren, so als wäre ich
nur kurz ausgetreten."
Langsam erhob sich Sandro. Enttäuscht blickte er sie an. „Was sollen wir nun
tun? Ich verstehe einfach nicht, weshalb Tariq uns nicht heiraten läßt."
„Ich auch nicht. Weil es jedoch so ist, weißt du, was wir riskieren, wenn wir uns
so wie jetzt treffen."
Ernüchtert band Sandro sein Pony los. Im Stamme Raphael war Tariqs Wort
Gesetz, und zwar in politischen wie in häuslichen Angelegenheiten. Das Recht,
Herrschaft über den Stammesverband auszuüben, hatte er von seinem Vater
geerbt, und seine enorme Kraft sowie sein Kampfgeschick stellten sicher, daß
ihm niemand dieses Recht streitig machte.
Sandro hätte gegen das von Tariq ausgesprochene Heiratsverbot antreten
können, doch dann müßte er auch gegen Tariq selbst antreten, und damit hatte er
keinerlei Aussicht auf Erfolg. Für den Stammesführer war er körperlich kein
Gegner, und mit zwanzig Jahren war er noch zu jung zum Sterben.
Sarita sprang auf. „Noch einen letzten Kuß!" Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen, schlang die Arme um Sandros Nacken und schmiegte sich an
seinen Körper.
Der junge Mann stöhnte auf. „Ich liebe dich so sehr!" Bei seinem heftigen Kuß
biß er ihr vor lauter Leidenschaft in die Unterlippe. Sarita schmeckte ihr eigenes
Blut, was ihre Glut hätte dämpfen sollen, jedoch eher das Gegenteil bewirkte.
Zuletzt mußte sich Sandro von ihr losreißen. „Genug! Heilige Mutter Gottes,
Sarita, hör auf!"
Einen Moment standen sie einander gegenüber und rangen um Beherrschung.
Sie verzweifelten fast daran, daß ihr Verlangen diesmal unerfüllt und ihre Liebe
geheim bleiben mußte. Schließlich befeuchtete sich Sarita einen Finger mit der
Zunge und strich damit ihr eigenes Blut von Sandros Mund. „Geh jetzt", sagte
sie.
Sandro ging ohne ein weiteres Wort. Er führte das erhitzte Pony und die
beladenen Maultiere den Abhang hinunter, saß erst unten auf und ritt dann durch
den Olivenhain in das Lager, als hätte es auf seinem Weg von Granada hierher
keinerlei besondere Vorkommnisse gegeben.
Sarita blieb noch einige Minuten hinter dem Felsvorsprung. Ihre Lippe brannte.
Ob man die Verletzung wohl allzu deutlich sah? Dem aufmerksamen Blick ihrer
Mutter entging nur wenig, und noch weniger entging Tariq.
Andererseits ließ sich eine verletzte Lippe ja leicht erklären.
Da Sandro jetzt vermutlich das Lager erreicht hatte, trat Sarita aus ihrem
Versteck heraus und stieg zur Staubstraße hinunter. Gerade hatte sie sie erreicht,
als ein Reitertrupp um eine Felsenecke bog. Schöne Schabracken schmückten
die Pferde, Gold-und Silberbeschlag glänzte auf Sätteln und Zaumzeug. Die
Reiter waren mit kostbaren bestickten Kaftanen und mit Beinlingen aus
feinstem, weichem Ziegen-und Schafleder bekleidet, wie es die Mauren in
Cordoba herstellten.
Sarita befand sich zum ersten Male im Maurenland, denn ihr fahrender Stamm
hatte erst vor zwei Wochen die frei passierbare Grenze zwischen Kastilien und
Granada überschritten. Zwar hatte sie in Spaniens Städten und auf den
Landstraßen schon oft Angehörige der großen, goldhäutigen, gebieterischen
Rasse gesehen, doch diese Männer hier schienen etwas Besonderes zu sein.
Sofort trat Sarita an den Straßenrand, um sie vorbeireiten zu lassen.
Es waren zehn Männer auf schwarzglänzenden Hengsten, die sich offensichtlich
auf dem Weg nach Granada und zu dem herrlichen rotleuchtenden Palast der
Alhambra befanden. Ihre Gürtel, an denen kurze Krummsäbel hingen, waren
juwelenbesetzt, und um den seidenen Tarbusch, die topfförmige
Kopfbedeckung, hatten sie bestickte Schärpen geschlungen.
Einer der Männer ritt der Gruppe ein wenig voraus. Als er sich auf Saritas Höhe
befand, zügelte er sein Pferd, und die anderen taten es ihm nach. Alle
betrachteten das Mädchen am Straßenrand.
Muley Abul Hassan, der Emir von Granada, saß entspannt auf seinem Hengst
und ließ die Zügel locker auf den Hals des Tieres fallen. Er wußte nicht, weshalb
ihn die Fußgängerin zum Anhalten veranlaßte; wie immer war er seinem Instinkt
gefolgt und gab jetzt seiner Neugier nach.
Die junge Frau wirkte zerbrechlich und kräftig zugleich. Mit zwei Händen
konnte man ihre Taille umspannen. Ihre Brüste unter dem Mieder waren klein
und fest. Ihre Hüften rundeten sich hübsch unter ihrem orangefarbenen Rock,
den sie über ihren Waden hochgeschürzt hatte. Sie war so schlicht und
nachlässig angezogen wie das armselige Landvolk, aber anders als dieses wirkte
sie weder verhungert noch verschüchtert.
Fest und mit leicht erhobenem Kinn stand sie da. Der Emir fand, daß sie etwas
Wildes, Ungezähmtes an sich hatte.
Ihre Augen, dunkelgrün wie Smaragde, waren furchtlos auf ihn gerichtet. Ihre
Lippen waren voll und fest. Eine kleine Schwellung befand sich auf der
Unterlippe. Sommersprossen sprenkelten die schmale, gerade Nase, und ihre
Wangen waren von der heißen Sonne gerötet. Ihr dichtes, wirres Haar leuchtete
wie Feuer. Muley Abul Hassan hatte noch keine Frau gesehen, die dieser hier
glich.
„Wie heißt du?" fragte er auf spanisch.
Sarita antwortete nicht. Der Mann faszinierte sie. Seine Augen unter den
geschwungenen schwarzen Brauen waren dunkel, und sein Blick war der eines
Adlers. Seine Haut schimmerte wie dunkles Gold. Er trug einen makellos
getrimmten Oberlippenbart, und sein Mund war scharfgeschnitten. Schwarzes
Haar ringelte sich unter dem Tarbusch und der Schärpe hervor.
Insgesamt machte der Mann den arroganten Eindruck eines Menschen, der sich
selbst und seine Bedeutung niemals in Frage zu stellen brauchte.
Er ist ein Mann vom Schlage Tariqs, dachte Sarita, obwohl ihn etwas
Wesentliches von diesem unterscheidet. Sie hätte nur nicht sagen können, was
das war.
Der Emir wiederholte seine Frage, und Sarita erwachte aus ihrer merkwürdigen
Trance. Sie schüttelte heftig den Kopf, überquerte vor seinem Pferd die schmale
Straße und verschwand in den grünsilbernen Tiefen des Olivenhains.
Der Emir schaute ihr nach. „Versuche, etwas über sie herauszufinden", sagte er
über die Schulter hinweg in arabischer Sprache und setzte sein Pferd wieder in
Bewegung.
Die seltsame, fast wortlose Begegnung hatte Sarita erschüttert. Ohne sie wirklich
anzufassen, hatte der Mann nach ihr gegriffen und sie berührt...
Dieser Gedankengang nahm sie so gefangen, daß sie vergaß, sich dem Lager von
der Rückseite her zu nähern; statt dessen kam sie direkt von der Straße her
heran.
Wagen und Zelte standen ordentlich im Kreis. Die Feuer der Kochstellen waren
gelöscht. Die Pferde grasten außerhalb des Lagers, und die Wachhunde trotteten
gelangweilt umher. In der Nacht würden sie wach und alarmbereit sein und
jeden Räuber, ob Tier oder Mensch, verbellen und angreifen.
Die Frauen, noch ein wenig träge nach der Siesta, kamen gemächlich ihren
häuslichen Pflichten nach. Die Vorbereitungen für das Abendessen würden erst
nach Sonnenuntergang beginnen, und so genossen sie die ruhige Zeit, die ihnen
bis dahin verblieb. Sie saßen in kleinen Gruppen beieinander, versorgten die
Säuglinge oder widmeten sich ihren Näharbeiten.
Kleine Kinder tollten lachend, kreischend und miteinander rangelnd zwischen
den Wagen, Zelten und den Erwachsenen umher. Niemand beachtete sie. Ihre
älteren Geschwister, die ebenfalls noch von den ihnen zukommenden Arbeiten
befreit waren, standen in schwatzenden Gruppen oder in verschwörerisch
flüsternden Paaren beeinander. Letztere wurden genau, aber unauffällig von den
Frauen überwacht.
Sarita trat auf die Lichtung hinaus und fühlte sich plötzlich ihrem Schicksal
ausgeliefert.
Die Männer des Stammes hatten sich vor Tariqs Wagen versammelt. Sandro
erzählte, und da die anderen lachten, war es wohl etwas Amüsantes. Er
versuchte, die Zuhörer mit seiner Geschichte zu fesseln, bis Sarita sich
unbemerkt unter die anderen Frauen mischen konnte.
Bevor sie dies jedoch tun konnte, drehte sich Tariq um, als hätte er ihre
Anwesenheit gespürt, und kam langsam auf sie zu. Ein erwartungsvolles
Schweigen senkte sich über das Lager.
Die Männer des Stammes Raphael waren sämtlich groß, breitschultrig und
kräftig, doch Tariq übertraf sie alle. Die Sonne des Mittelmeers hatte sein
ohnehin dunkles Gesicht tief gebräunt, seine Augen waren eisblau, und ein
rotgoldener Bart umgab seine schmalen Lippen. Tariq war ein gefährlicher
Mann. Die Aufgaben als Stammesführer erledigte er allerdings gut und wurde
dafür von allen respektiert.
„Wo warst du?" Breitbeinig, die Hände auf die Hüften gestützt, stand er vor
Sarita.
Trotzig hob sie das Kinn und begegnete seinem Blick. „Ich befinde mich im
heiratsfähigen Alter, Tariq. Es wird mir doch sicherlich gestattet sein, zu gehen,
wohin ich will."
Noch vor einem Jahr hätte ihr eine so unverschämte Antwort einen Schlag mit
dem Handrücken ins Gesicht eingetragen; so pflegte Tariq die Halbwüchsigen
des Stammes in ihre Grenzen zu verweisen. In den letzten Monaten hatten sich
die Dinge indessen gewandelt.
Tariq ließ sich kaum noch von dem reizen, was Sarita sagte, obwohl ihr bewußt
war, daß er sie mehr beachtete als ihre Altersgenossinnen. Das lag sicherlich an
dem kürzlichen Tod ihres Vaters, denn es war üblich, daß der Stammesführer
Witwen und deren Kinder unter seinen besonderen Schutz nahm.
Auch jetzt blieb Tariq ruhig, sah jedoch Sarita noch eindringlicher an.
Diejenigen, die Augen-und Ohrenzeugen dieser Szene wurden, hielten
unwillkürlich den Atem an.
Zu jedermanns Überraschung berührte Tariq mit einer Fingerspitze sanft Saritas
Lippen. „Woher kommt das?"
„Ich bin über einen Stein gestolpert und habe mir beim Fallen auf die Lippe
gebissen", antwortete sie kühn, obwohl eine düstere Vorahnung sie innerlich
erschaudern ließ.
Tariq betrachtete sie weiterhin finster. „Geh zu deiner Mutter", befahl er dann.
„Sie hat dich schon gesucht, denn sie will dir etwas sagen." Damit drehte er sich
um und kehrte zu der Männergruppe zurück. Der ganze Stamm schien
aufzuatmen, und jedermann wandte sich erleichtert wieder seinen eigenen
Tätigkeiten zu.
Sarita, die das Gefühl drohenden Unheils nicht loswurde, ging zu dem Wagen
ihrer Mutter und bereitete sich auf eine Strafpredigt vor. Lucia war wegen ihres
aufbrausenden Temperaments gefürchtet, obwohl sie, wenn man sie nicht
ärgerte, im allgemeinen heiter und friedlich war.
Der Wagen war klein, aber wesentlich besser als ein Zelt, wie seine Besitzer
fanden. In einem Karren schlief man auf solidem Holz, die Seitenwände waren
verhältnismäßig zugdicht, und die Leinenplane schützte vor Regen. Es gab ein
kleines Kohlebecken, das in frostigen Nächten wohlige Wärme spendete, eine
Stange zum Aufhängen der wenigen Kleidungsstücke sowie Regalbretter und
Haken für die häuslichen Besitztümer.
Zu Lebzeiten von Saritas Vater Esteban, der ein geschickter Zimmerer gewesen
war und damit sein Geld verdient hatte, war in der Mitte des Wagens ein
Vorhang gespannt worden, der Saritas Schlafplatz von dem ihrer Eltern getrennt
hatte. Das gewährte selbstverständlich nur scheinbar eine Privatsphäre, und wie
ihre Altersgenossen, so hatte auch Sarita schon sehr jung erfahren, was zwischen
Mann und Frau vorging. Seit Estebans Tod jedoch teilten sie und Lucia sich den
großen Strohsack und auch sonst alles in ihrer im allgemeinen
freundschaftlichen Gemeinschaft.
Als Sarita jetzt jedoch in den Wagen kletterte, fühlte sie sich nicht ganz wohl.
„Mutter? Tariq hat gesagt, du hättest mich gesucht."
„Da bist du ja! Wo warst du denn nur?", fragte Lucia erregt, schien jedoch nicht
böse zu sein. „Ich habe überall nach dir gesucht. Warum hast du nicht Siesta
gehalten?"
„Ich hatte Bauchschmerzen", log Sarita. „Wahrscheinlich habe ich irgend etwas
Ungutes gegessen." Weshalb war ihre Mutter nur so nervös? Ihr Gesicht war
gerötet, und Haarsträhnen hatten sich unter dem Kopftuch gelöst. Der kostbare
karmesin-, smaragd-und türkisfarbene Stoff, den sie in den Händen gehalten
hatte, war ihr aus den Fingern geglitten. Sarita erkannte den Stoff: Es handelte
sich um das Hochzeitskleid ihrer Mutter.
Plötzlich nahm Lucia ihre Tochter in die ausgebreiteten Arme und lachte
überglücklich. „Oh, ich bin überwältigt, Kind! Was für Neuigkeiten! Dein Vater
wäre so stolz!"
„Worauf denn, Mutter?" Das Gefühl drohenden Unheils wurde immer stärker.
„Kannst du dir das nicht denken?" Lucia faßte sie bei den Händen. „Mein
allerliebstes Kind — es ist Tariq! Er war vorhin bei mir. Du wirst doch
sicherlich gemerkt haben, wie er dich bevorzugt. Nun ja, ich hatte es selbst nicht
bemerkt. Ich dachte nur, er wollte uns seinen männlichen Schutz bieten — doch
nein, du sollst ihn heiraten, Sarita!
Du wirst die Frau des Stammesführers!"
„Nein!" rief Sarita entsetzt und wütend zugleich. „Wie kannst du so etwas
sagen? Du weißt ja, wie es zwischen mir und Sandro steht! Wie kannst du
erklären, daß ..."
Lucia schlug ihr ins Gesicht. „Erwähne Sandro nie wieder! Bist du verrückt?
Tariq hat gesprochen. In drei Tagen findet die Hochzeit statt. Alle wissen es
inzwischen. Die Vorbereitungen werden morgen beginnen."
„Nein!" schrie Sarita wieder. Sie hatte den Eindruck, sich in einem schrecklichen
Alptraum zu befinden. „Damit kannst du doch nicht einverstanden sein! Ich
zumindest bin es auf keinen Fall."
„Närrin!" Lucia schüttelte sie bei den Schultern. „Tariq benötigt mein
Einverständnis nicht. Er ist der Führer, und er hat gesprochen. Du wirst heute
nacht zu ihm gehen und damit die Verlobung bestätigen."
Sarita schwieg. An sich konnte eine Heirat nicht ohne das Einverständnis beider
Parteien stattfinden.
Erfahrungsgemäß war es jedoch undenkbar, daß sie Tariq als Ehemann ablehnte.
Sie würde aus dem Stamm vertrieben werden und damit schutzlos der Welt
ausgeliefert sein, die nicht viel Federlesens mit heimatlosen Herumtreiberinnen
machte. Prostitution oder Tod, das waren die einzigen Alternativen, und welches
Mädchen würde so etwas gegen die Ehre eintauschen, die Braut des
Stammesführers zu werden?
Sarita dachte an die berauschenden Augenblicke der großen Leidenschaft, die sie
mit Sandro verbracht hatte. Wie konnte sie so tun, als hätte es diese Liebe nie
gegeben? Wie konnte sie ihr heißes Verlangen nach ihrem heimlichen Geliebten
verleugnen?
Nein, sie konnte es nicht. Tariq war zwar ein gefährlicher Mann; dennoch war er