Table Of ContentHANDBUCH DER
ALLGEMEINEN PATHOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON
F. BaCHNER E. LETTERER F. ROULET
SIEBENTER BAND
REAKTIONEN
ZWEITER TElL
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· HEIDELBERG· NEW YORK
1967
OBEREMPFINDLICHKEIT
UNO IMMUNITAT
BEARBEITET VON
E. E. FISCHEL· E. LETTERER
F. SCHEIFFARTH . L. ZICHA
REDIGIERT VON
F. ROULET
MIT 179 ABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· HEIDELBERG· NEW YORK
1967
ISBN-IS: 978-3-642-88649-6 e-ISBN-IS: 978-3-642-88648-8
DOl: 10_10071978-3-642-88648-8
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© by Springer-Verlag, Berlin. Heidelberg 1967
Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1967
Library of Congress Catalog Card Number 56-2297
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Titel-Nr. 5653
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Die Morphologie der immuuopathischen Reaktionen. Von Professor Dr. ERICH LETTERER,
Tubingen. Mit 172 Abbildungen 1
I. Begriff und Wesen der Allergie 1
II. Die Substrate der Allergie 11
1. Die Zelle. . . 12
2. Das Gewebe . . . 15
a) Die GefaBe ... 16
b) Grundsubstanzen und paraplastische Substanzen (Fasern) 18
c) Neurale Elemente 19
3. Die Organe. . . . . . . . . . . . 21
4. Der Organismus. . . . . . . . . . 22
III. Klassifikation und Qualitaten der Reaktion 23
IV. Die Morphe der Reaktionen . . . . . . . 32
A. Die Reaktionen der freien Einzeizelle. . 32
a) Zum Begriff der freien Einzelzelle 32
b) Die Erythrocyten. . . . . . 34
c) Die Leukocyten . . . . . . 36
d) Die Lymphocyten . . . . . 47
e) Die Monocyten (Makrophagen) 47
f) Die Spermatozoen . . . . . 49
g) Freie TumorzeIlen, isolierte Organzellen und Infusorien . . . . . . 50
h) Immunitat und Uberempfindlichkeit von Infusorien (Paramaecium) . 54
i) Der Zellverband als Zell-oder Gewebekultur 54
B. Die Reaktioncn der Gewebe. . . . . . . . . 58
1. Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
a) Fibrocyten, Histiocyten, Makrophagen, RHS (Reticulohistiocytares
System) . . . . . . . . 60
b) Plasmazellen. . . . . . 62
c) Mastzellen. . . . . . . 69
2. Grundsubstanzen und Fasern . 71
a) Grundsubstanz. . . . . . 71
b) Die Fasern ....... 94
3. Die Endstrombahn und ihre AAR im Histion 112
Vasculare und cellulare Reaktion . . . 115
1. Vasculare Reaktion im Histion . . 116
2. Die cellulare Reaktion im Histion . 130
3. Die primar granu lierende Reaktion 152
C. Die Organe und ihre Reaktion. . . . . . . . . 159
a) Lunge. Der Asthmaanfall als Beispiel einer hyperergischen Organreaktion 161
b) Das Herz als Manifestationsort allergisch-hyperergischer Organreaktionen 168
c) GefaBe als Organe der Biut-und Lymphfiihrung und -verteilung 181
d) Das Blut als Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
e) Die Rea,ktion der Niere als Organ. . . . . . . . . . . 190
f) Die Haut als Organ und Substrat allergischer Reaktionen 199
g) Autoallergische Organreaktionen . . . . . . 203
h) Autoallergische Krankheiten des CNS und NS 207
D. Die Reaktionen des Gesamtorganismus . . . . . 209
V orbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . 209
a) Morphologie des anaphylaktischen Schocks. 211
b) Die Serumkrankheit . . . . . . . . 215
c) Infekt- und Infektionskrankheitsallergie. . 216
VI Inhaltsverzeichnis
Seite
d) Die generalisierten Mesenchymreaktionen (Rheumatismus und Adjuvans-
krankheit) . . . . . . . . . . . . . . 218
e) Die Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion . 222
f) Das generaIisierte Shwartzman-Phanomen 225
Literatur 226
The immunochemical basis 01 hypersensivity and immunity. By EDWARD E. FISCHEL,
M. D., New York 254
Preface 254
Introduction 254
Antibodies . 256
Antigens. . 258
The fate of antigen in the unimmunized animal 260
Immunological methods - in vitro tests. . . 261
Qualitative immunological procedures . . . . 261
Quantitative immunochemical methods . . . 262
Physicochemical aspects of antigen-antibody interaction 264
Cross reactions . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Allergy and immunity - biological considerations 266
Anaphylaxis . . . . . . . . . . . . . . 268
The Arthus reaction. . . . . . . . . . . 275
Serum sickness . . . . . . . . . . . . . 280
Antigen metabolism in the sensitized animal 281
The anamnestic response. . . . . . . . 282
The behavior of complement in vivo. . . 283
Delayed or tuberculin-type reactions. . . 285
Biological specificity of immune reactions 289
Modifying the immune response. . . . . 290
Isoantibodies and Autoantibodies . . . . 292
Resume of serological factors in cliuical allergy and immunity 295
Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
11lediatoren des anaphylaktischen Schocks und der hyperergischen Entziindung. Von
Professor Dr. F. SCHEIFFARTH und Dr. L. ZWHA, Erlangen. Mit 7 Abbildungen 317
Einleitung . . . 317
A. Schockgifte . 319
1. Histamin . . . . . ... 319
1. Vorkommen und Speicherung des Histamins in Geweben und Korperfliissig-
keiten. . . . . . . . . 319
2. Histaminbildung . . . . . . . . . . . 321
3. Freisetzung des Histamins . . . . . . . 322
a) EinfluB oberflachenaktiver Substanzen 323
b) Mono- und dibasische Substanzen 323
c) Hochpolymere Verbindungen und Fette 324
d) Proteolytische Aktivierung ..... . ...... ..... 324
e) Physikalische Theorie, kompetitive Verdrangung des Histamins und Zell-
zerstorung. . . . . . . . . . . . . . . 326
f) Enzymatische Histaminabspaltung . . . . . . . . . 327
4. Wirkungen des Histamins . . . . . . . . . . . . . . 327
5. Biologische Inaktivierung und Gegenregulation . . . . . 330
6. Die Bedeutung des Histamins fUr hyperergische Prozesse . 334
II. Serotonin. . . . . . . . . 336
1. Vorkommen und Bildung 336
2. Freisetzung. . . . . . . 340
3. Wirkungen des Serotonins 341
4. Biologische Inaktivierung und Gegenregulation 345
5. Anaphylaxie und Serotonin. . . 347
III. Adenylsaurederivate . . . . . . . 349
B. Biologisch aktive Eiweif3-Spaltprodukte . 350
I. Anaphylatoxin . . . . . . 350
1. Geschichte . . . . . . . 350
2. Bildung und Aktivierung . 3151
Inhaltsverzeichnis VII
Seite
3. Physikalische und' chemische Eigenschaften. . . . . . . . . . 352
4. Effekte und Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . 353
5. Die Rolle des Anaphylatoxins bei anaphylaktischen Reaktionen . 354
II. Kinine . . . . . . . . . . . . 355
1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 355
2. Vorkommen und Aktivierung. . . . . . . . 356
3. Pharmakologische Wirkungen. . . . . . . . 358
a) Effekte auf Organe mit glatter Muskulatur 358
b) Permeabilitat und Diapedese. . . . . . . 359
c) Kreislaufwirkungen. . . . . . . . . . . 359
d) Reizwirkungen auf sensible Receptoren . . 359
4. Abbau, Ausscheidung und Hemmung der Kinine 360
5. Die Rolle der Kinine im lebenden Organismus. 361
III. Slow reacting substances . . . . . . . . . . . . 363
IV. Substanz P . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
C. Die Bedeutung der neurovegetativen Tonuslage fUr anaphylaktische Reaktionen 365
I. Acetylcholin. . . . . . . . . . . . . . . . 365
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 365
2. Vorkommen und Bindung von Acetylcholin . 366
3. Bildung von Acetylcholin. . . . . . . . . 367
4. Cholinacetylase . . . . . . . . . . . . . 367
5. Freisetzung. . . . . . . . . . . . . . . 370
6. Wirkungsmechanismus und pharmakologische Effekte des ACh 371
7. ACh-Abbau und Gegenregulation, Cholinesterase 374
II. Vagotonin . . . . . . . . 377
D. Gegenregulatorische Faktoren . . 377
I. Sympathicoadrenales System 377
1. Katecholamine . . . . . 377
2. Angiotensin. . . . . . . 379
II. Das Hypophysen-Ncbennierenrindensystem 380
1. Adaptationssyndrom. . . . . . . . . 380
2. EinfIuB von Glucocorticoiden auf Bindegewebe und die an der Entziindung
beteiligten Zellsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
III. Die Bedeutung des Bindegewebes im anaphylaktischen Schock sowie bei der
hyperergischen Entziindung. . . . . . . . 384
IV. Die Friihphase der Permeabilitatssteigerung . 385
SchluBfolgerung und Epilog 386
Literatur 387
N amenverzeichnis 415
Sachverzeichnis . 450
Die Morphologie der immunopathischen Reaktionen.
Von
ERICH LET1'ERER, Tlibingen.
Mit 172 Abbildungen
I. Begriff und Wesen der Allergie.
EinKapitel, das im Rahmen der Reizbeantwortung die morphischen Grundlagen
der Allergie als Immunopathie zum Thema hat, sollte zu Beginn sagen, was man
unterAllergie zu verstehen beabsichtigt: Bekanntlich weichen die Begriffsinhalte,
die dem Wort Allergie zugeordnet werden, nicht unerheblich voneinander ab.
Wir sagen hier ausdrlicklich Begriffsinhalt und nicht Wesen der Allergie, denn
wir wissen in mancherlei Richtung bis heute nicht, ob das, was wir als Inhalt des
Begriffes Allergie zu limitieren bereit sind, V orstellung oder Wissen bedeutet. In
der Tat ist es viel weniger interessant zu wissen, was der Einzelne liber Allergie
denkt und welches auf Grund seiner Erfahrung und der daraus abgeleiteten Vor
stellung sein Begriffsinhalt ist, sondern welches das Wesen des Phanomens Allergie
liberhaupt ist.
Die Erfahrung liber die Existenz des Phanomens der Allergie ist alt, alter als
der aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts stammende Name Allergie!. Was
wir heute als allergische Erkrankung bezeichnen, ist in der Symptomatik be
kanntes Erfahrungsgut der Kranken und der Arzte zugleich, denn schon im
Altertum war die Unvertraglichkeit gewisser Pflanzenstoffe und Nahrungsmittel
fUr manche Menschen mit der Folge krankhafter meist katarrhalisch-exsudativer
Symptome bekannt2• In ihrer besonderen Eigenart wurden diese Krankheiten
nur deshalb besonders auffallig, weil die groBere Mehrzahl aller anderen Menschen
bei Kontakt mit den gleichen Stoffen vollig verschont blieb. Man findet solche
Zustande als Idiosynkrasie (Ptolemaus) oder Idiosynkrisie, als Idiopathie3,
auch als Antipathie bezeichnet; wir lesen, daB sie vornehmlich fUr konstitutionell
bedingt angesehen wurden 4 und eine individuelle nicht erklarbare Dberempfind
lichkeit gegenliber bestimmten Stoffen, wie Pflanzen, Blliten, Nahrungsmitteln
usw. zu erkennen gaben. Bei der Schwierigkeit, den erst im Laufe des Lebens
eintretenden, zumeist stillen und symptomlos bleibenden Erwerb solcher Dber
empfindlichkeiten zu erkennen, lag nichts naher, als die Krankheit - wie ge
sagt - fUr konstitutionell bedingt anzusehen. Aber TH. G. ROOSE schreibt 1801,
Abkiirzungen:
AAR (AARR) = Antigen-Antikiirper-Reaktion.
Ag (Agg) = Antigen
Ak (Akk) = Antikiirper
AAK (AAKK) = Antigen-Antikiirper-Komplex (die Wiederholung des letzten Buchstabens
der Abkurzungsformel bedeutet den Plural)
------
1 V. PIRQUET 1906, 1906a und b, 1908.
2 SCHADEWALDT 1958, 1960, 1962, SCHUMACHER 1940, 1958, GALEN, S. SCHADEWALDT 1958,
1962, OBTULOWICZ 1959_
3 GALEN, siehe 4_ 4 SCHADEWALDT 1958, 1962.
Handbuch d. aUg. Pathologie, Bd. VII!2. 1
2 E. LETTERER: Die Morphologie der immunopathischen Reaktionen.
Idiosynkrasien seien unerklarliche Veranderungen im Bau und in der Mischung
der Organe des Korpers, besonders des Nervensystems, die angeboren oder er
worben sein konnen. Die einfache Beobachtung hatte also doch schon zu der
Meinung gefiihrt, daB solche idiosynkrasische Zustande auch zu erwerben seien.
Mit der Entwicklung der experimentellen Pathologie kommt es zum ersten
entscheidenden Fortschritt, als P. PORTIER und CH. R. RICHET 1902 die von
ihnen als Anaphylaxie bezeichnete, erworbene Vberempfindlichkeit gegeniiber
bestimmten Giften in ihren Experimenten an Hunden durch wiederholte Injek
tionen von Aktiniengift fanden. Anscheinend in ihren Erwartungen getauscht,
mit wiederholten kleinen Giftgaben ein Tier gegen dieses Gift unempfindlich,
also immun machen zu konnen, weil wiederholte parenterale Verabreichung
erhOhte und katastrophenartig ablaufende Giftwirkungen zur Folge hatte,
nannten sie diese Erscheinung Anaphylaxie (Schutzlosigkeit), wahrend sie eine
Schutzwirkung erwartet hatten. 1903 sprach ARTHUS bei ahnlichen Versuchen
an Kaninchen von der Anaphylaxie generale und 1904 und 1906 stellten TH.
SMITH und R. OTTO an mit Pferdeserum vorbehandelten Meerschweinchen die
gleiche Erscheinung der Anaphylaxie fest. Ais Experimentator hatte E. v.
BEHRING (1923) das gleiche Prinzip gefunden, wenn er an Tieren, die gegen Tetanus
immunisiert worden waren, durch Einverleibung kleiner Mengen desselben
Toxins deren Tod feststellend, von paradoxer Reaktion sprach und dies spater als
eine "toxopathische Disposition" bezeichnete. Es konnte den Forschern von damals
noch nicht bekannt sein, daB der Organismus auf dem Weg zur Giftfestigkeit,
d. h. der Immunitat, gesetzmaBig ein Stadium der Dberempfindlichkeit gegen
iiber dem angewandten Gift durchlauft, und daB diese nur der Ausdruck des
noch nicht vollendeten Erwerbes dieser Giftfestigkeit istl.
Es ist das Verdienst C. v. PIRQUETS2, die wahren Zusammenhange als erster
intuitiv erfaBt zu haben. Hat er sie auch noch nicht in der eben umrissenen Form
ausgesprochen, so war er es doch, der in der ersten Publikation zu diesem Thema
schrieb: "Immunitat und Dberempfindlichkeit konnen aufs innigste miteinander
verbunden sein." Unter Hinweis auf HAMBURGER3, daB die spezifische Anderung,
die ein Tier nach einer experimentellen Erkrankung erleidet, fast ebenso oft eine
erhOhte Empfindlichkeit wie eine erhOhte Widerstandsfahigkeit sei, fordert
v. PIRQUET ein neues allgemeines, nichts prajudizierendes Wort fiir diejenige
Zustandsanderung, die der Organismus durch den Kontakt mit einem organischen
lebenden oder leblosen Gift erfahrt.
Die- klare Zusammenschau fiihrt ihn, den Kliniker und Experimentator zu
der AuBerung, daB Tetanus und Diphtherietoxin, Bakterien, Organextrakte
und EiweiBsubstanzen sowie die das Heufieber erzeugenden Stoffe unter dem
Gesichtspunkt der erworbenen Oberempfindlichkeit zusammengehoren.
"Der Geimpfte, der luisch oder tuberkuliis Infizierte, der mit Serum Behandelte verhiilt
sich gegeniiber dem nicht Behandelten anders als ein Individuum, welches mit dem be
treffenden Agens noch nicht in Beriihrung gekommen ist; er ist deshalb noch weit entfernt,
unempfindlich zu sein. Alles, was wir von ihm sagen kiinnen, ist, daB seine Reaktionsfiihigkeit
geiindert ist."
Fiir diesen allgemeinen Begriff der veranderten Reaktionsfahigkeit schlagt
v. PIRQUET den Ausdruck Allergie vor. Stoffe, welche den Organismus durch
ein- oder mehrmaliges Einverleiben zu einer Anderung seiner Reaktion diesem
Stoff gegeniiber beeinflussen, sollen auf seinen Vorschlag Allergene heiBen. Zu
diesen rechnet er zahlreiche EiweiBkorper, die Erreger von Infektionskrank
heiten, Gifte der Insekten, die des Heufiebers, die Urticaria erzeugenden Sub-
1 LETTERER 1959a, S. 658. 2 v. I'IRQUET 1906, KALL6s U. KALL6s-DEFFNER 1951.
3 HAMBURGER 1905.
Begriff und Wesen der Allergie. 3
stanzen der Pollen, Erdbeeren und Krebse, sowie eine Reihe organischer Sub
stanzen. Gleichwohl wird in einer weiteren Veroffentlichung1, in welcher aus
fiihrlich auf den Allergiebegriff eingegangen ist, yom Autor darauf hingewiesen,
daB bestimmte Beziehungen und Reaktionen zwischen gebildeten Antikorpern und
dem injizierten Antigen fiir die Auslosung der Allergie bestehen miissen. Aus
seinen eigenen und gemeinsamen Arbeiten mit SCHICK2 entwickelt er die Vor
stellung, daB antikorperartige Substanzen das Antigen als korperfremden Stoff
gewissermaBen verdauen und die Verdauungsprodukte giftige Wirkungen ent
falten. Abgesehen yom eigentlichen Wirkungsmechanismus der Antigen-Anti
korper-heaktion werden also die Erscheinungsformen der Allergie hier schon auf
bestimmte Reaktionsfolgen zwischen Antigen und Antikorper zuriickgefiihrt.
v. PIRQUET1 bezeichnet die zeitliche Verschiebung der Reaktionen als den Kern
seiner Theorie. Die Reaktionsiinderung iiuBert sich in einer zeitlichen Anderung,
d. h. in der Reaktionsgeschwindigkeit, in einer quantitativen Anderung der Reak
tionsgrofJe und schlie13lich in einer qualitativen Anderung der Reaktionsart
gegeniiber dem Normalzustand. In der genannten ersten ausfiihrlichen Veroffent
lichung zur Allergie gibt v. PIRQUET1 eine auch fiir unsere heutige Sicht besonders
wichtige Einteilung: Er spricht von den drei Gruppen, zeitlich, quantitativ und
qualitativ veriinderter Reaktionsfiihigkeit und rechnet zur ersteren die ver
stiirkte Reaktion als Uberempfindlichkeit oder paradoxe Reaktion v. BEHRINGs3
oder als Anaphylaxie PORTIERS und RICHETS4, die abgeschwiichte Reaktions
fiihigkeit hingegen wird als Unterempfindlichkeit und die aufgehobene als Un
empfindlichkeit oder Immunitiit bezeichnet. Wir diirfen annehmen, daB mit
dieser Aufteilung der Allergie und insbesondere in der Klassifizierung der quanti
tativen und qualitativen Anderungen der Reaktionsfiihigkeit v. PIRQUETS 5
Konzeption in erster Linie auf die Beziehungen zwischen Antigen und Antikorper
ausgerichtet war.
Mit der Klassifizierung der veriinderten Reaktionsfiihigkeit in zeitlicher,
quantitativer und qualitativer Hinsicht wird aber erstmals der Blick auf die
Phiinomenologie von Reiz und Reizbeantwortung gelenkt und mit deren Priizi
sierung ausgesprochen, daB erworbene Anderungen in der Reizbeantwortung
nicht a priori Krankheit zu bedeuten haben, sondern als Naturphiinomen be
trachtet werden wollen, das erst unter einer bestimmten Konstellation seiner
bedingenden Umstande zur Krankheit wird 6. Historisch gesehen liegt hier die
groBe Stunde der Allergie, insofern als sie als Phiinomen und nicht nur als Krank
heit erkannt wurde, als Naturerscheinung der Reizbeantwortung, als Gesetz
einer erwerbbaren Andersempfindlichkeit der Substrate organismischen Lebens
in der Folge eines wiederholten qualitativ gleichgebliebenen Reizes7• Die
hier wirksam werdenden biotechnischen Mechanismen aber konnen unter be
stimmten Konstellationen krankhafte Reaktionen, Schiiden und sogar den Tod
bewirken. Sie sind also nicht a priori krankhaft, nur ihre zeitliche Einordnung
und ihr meist auch quantitativ gewandeltes Verhalten innerhalb des Reak
tionsgeschehens bringt die Moglichkeit zu krankhafter Symptomatik mit
sich. An keine Stelle paBt der Satz VIRCHOWS 8 besser als hier: "Was wir Krank
heit nennen, ist nur eine Abstraktion, ein Begriff, womit wir gewisse Erschei
nungskomplexe des Lebens aus der Summe der iibrigen aussondern, ohne daB in
der Natur eine solche Sonderung bestiinde."
Mit der Prazisierung des Begriffes Allergie als einer erworbenen veranderten
Reaktionsweise (erworbene Andersempfindlichkeit) des Organismus wurde es
1 v. PIRQUET 1905, 1906, 1908. 2 SCHICK 1906, 1959. 3 v. BEHRING 1893.
4 PORTIER und RICHET 1902. 5 v. PIRQUET 1908a und b. 6 LETTERER 1958c.
7 LETTERER 1959a und c. 8 VIRCHOW 1854.
1*
4 E. LETTERER: Die Morphologie der immunopathischen Reaktionen.
aus der Sache heraus unumganglich, eine Abgrenzung und neue Begriffsfassung
gegeniiber dem Begriff der Idiosynkrasie zu finden.
Wir haben oben vermerkt, daB die Erscheinungen, die wir heute als allergische
Krankheiten schlechthin bezeichnen, schon im Altertum bekannt waren und
unter anderem als ldiosynkrasien bezeichnet wurden. Dieser auf den Vorstel
lungen einer humoralen Pathologie aufgebaute Begriff wollte darunter eine eigen
tiimliche individuelle Mischung der Safte verstehen, auf Grund deren es zu ab
wegigen bzw. andersartigen Reaktionen gegeniiber bestimmten Stoffen und
Umweltfaktoren komme, welche dem Gesamtkollektiv der Menschen sonst nicht
eigen sind. Wie schon gesagt, konnte man nach dem damaligen Stand der Er
fahrung das Wissen iiber die Moglichkeiten, Andersempfindlichkeit zu erwerben,
nicht voraussetzen, und so liegt es in der Natur der Sache, daB man die ldio
synkrasie als "gegeben", d. h. als konstitutionell betrachtete. Damit ist schon
zwischen der idiosynkrasischen und der allergischen Andersempfindlichkeit die
grundsatzliche Unterscheidung gezogen. Zwar handelt es sich in beiden Fallen
urn veranderte Reaktionsbereitschaft, urn eine Diathese, die zu iiberwertigen und
damit in der Regel krankhaften Reaktionssymptomen fiihren kann. Jedoch ist
sie im ersten Fall konstitutionell bedingt, im zweiten erworben, wie wir ja auch
in der allgemeinen Atiologie die Begriffe der erworbenen und der konstitutionellen
Disposition kennen.
Wir verstehen also unter Idiosynkrasie die Tatsache, daB der Einzelne, ge
messen am Durchschnitt eines groBen Kollektivs von Menschen von vornherein,
also schon zum ersten Male in abnormer und zwar iiberwertiger Weise reagiert.
Seine Andersempfindlichkeit ist a priori vorhanden. Verschiedene Individuen
reagieren in diesem Fall auf den gleichen Reiz in verschiedener Weise, der eine
iiberhaupt nicht, der andere mit krankhaften Symptomen. 1m anderen Falle,
dem der Allergie, reagiert der Einzelne auf den wiederholten, aber gleichen Reiz
in abnormer Weisel.
Es unterliegt keinem Zweifel, daB wir uns mit den Erscheinungen und Be
griffen der Idiosynkrasie und der Allergie auch heute noch in einer sich dauernd
wandelnden Situation befinden. Denn wenn man in friiheren Zeiten die Moglich
keit zum Erwerb einer Andersempfindlichkeit iiberhaupt nicht erkennen konnte,
so haben sich in unseren Tagen mit einer exakteren Analyse manche der fiir
primar gehaltenen konstitutionell idiosynkrasischen Andersempfindlichkeiten
dennoch als erworben herausgestellt. Dies gilt vor allem fiir die Moglichkeiten der
diaplacentaren Dbertragung von Antikorpern, die im Experiment erwiesen ist2,
womit das Neugeborene eine angeborene Allergie besitzt, die fiir dieses Individuum
eigentlich als ldiosynkrasie zu gelten hat. Daher stand DOERR auf dem Stand
punkt, daB jeder Idiosynkrasie die spezifische Sensibilisierung gegeniiber einem
bestimmten Allergen vorausgehe. Aus der einfachen Tatsache aber, daB nicht
alle Menschen, die unter gleichen Lebensbedingungen den gleichen Stoffen, wie
z. B. einem bestimmten Bliitenstaub ausgesetzt sind, idiosynkrasisch werden,
sondern immer nur Einzelne, wird gefordert, daB zur Entstehung der Idiosynkrasie
bzw. zur Entwicklung einer Sensibilisierung eine individuelle Anlage, eine
Diathese, gehore. Diese aber sei vielfach erblich. Die Erfahrungen, welche die
Erbbiologie und -pathologie auf Grund exakter Stammbaumuntersuchungen
gemacht hat3, sowie die vielfachen klinischen und anamnestischen Erfahrungen
auf diesem Gebiet zeigen die UnumstoBlichkeit dieser Beobachtung. Worin fiir
den Menschen die konstitutionelle und individuelle Anlage letzthin besteht, liiBt
sich bislang nicht entscheiden.
1 LETTERER 1959c. 2 DOERR 1944. 3 HANHART 1957.