Table Of ContentWerner Sesink
Psychoanalyse und Pädagogik
Eine pädagogische Einführung in die
psychoanalytische Entwicklungstheorie
D.W. Winnicotts
Vorlesungsskript
(erschienen unter dem Titel „Vermittlungen des Selbst“ im LIT-Verlag
Münster 2002; vergriffen)
Inhalt
Vorwort
5
1 | Psychoanalyse und Pädagogik –
eine Verhältnisbestimmung
7
1.1 Psychotherapie und Pädagogik 7
1.2 Psychoanalyse und Pädagogik 12
2 | Über Winnicott –
Leben, Werk und Person
19
3 | Der Weg zum „Ich bin“
23
3.1 Das „Material“ der Integration: „ererbtes
Potenzial“ und Umweltbedingungen 25
3.2 Sein und Reagieren 29
3.3 Ich und Es 33
3.4 Anlage und Umwelt 35
3.5 Das „Subjekt“ der Integration:
„Ich“ bzw. „Zusatz-Ich“ 37
4 | Verschmolzenheit und Trennung
41
4.1 Verschmolzenheit und Omnipotenzerlebnis 41
4.2 Trennung und Realitätsprinzip 44
Werner Sesink: Vermittlungen des Selbst
4.3 Der Weg der Integration:
Von der absoluten Abhängigkeit 46
zur relativen Unabhängigkeit
4.4 Meinen und Bedeuten
(Introjektion und Projektion) 47
4.5 Integration und Desintegration –
die Erwartung von Verfolgung 50
5 | Der Beitrag der Umwelt
zur Integration
53
5.1 Sein-lassen 53
5.2 Schützen 54
5.3 Halten 56
5.4 Behandeln 58
5.5 Realisieren 59
5.6 „Primäre Mütterlichkeit“ 60
5.7 „Versagen“ der Umwelt;
Ent-Anpassung; Ent-Täuschung 62
5.8 Zuverlässigkeit 64
6 | Kreativität und Spiel
65
6.1 Kreatives Sein 65
6.2 Übergangsphänomene
und Übergangsobjekte 68
6.3 Potenzieller Raum –
„der Ort, an dem wir leben“ 72
6.4 Spielen 77
6.5 Phantasieren 81
6.6 Symbolgebrauch 82
Inhalt
6.7 Wechsel zwischen Integriertheit
und Unintegriertheit 84
6.8 Zusammenspiel und Kulturgemeinschaft 85
7 | Wahres und falsches Selbst
87
7.1 Objektbeziehungen und Sozialbeziehungen 87
7.2 Ich und Selbst 88
7.3 Spiegelung 91
7.4 Wahres und soziales Selbst – Vermittlung 98
7.5 Falsches Selbst – Spaltung 103
7.6 Direkte (implizite) und
indirekte (explizite) Kommunikation 107
7.7 Alleinsein können 110
7.8 Integration des Ich und soziale Integration 114
7.9 Kulturelle Tradition 116
8 | Aggression, Verantwortungsfähig-
keit und antisoziale Tendenz
119
8.1 Wurzeln der Aggression 119
8.2 Ambivalenz 120
8.3 Verantwortung 124
8.3.1 Hemmung der Aggression 124
8.3.2 Überleben des Objekts 125
8.3.3 Wiedergutmachung 126
8.4 Deprivation und antisoziale Tendenz 128
8.5 Delinquenz als Zeichen von Hoffnung 131
8.6 Moralität 135
Werner Sesink: Vermittlungen des Selbst
9 | Pädagogische Bezugnahmen
137
9.1 Archäologie des Subjekts 138
9.2 Pädagogik als „fördernde Umwelt“ 144
9.2.1 Pädagogischer Bezug 145
9.2.2 Potenzieller Raum und Vermittlung 149
Literatur
153
Vorwort
Hiermit wird der zweite Band in der Reihe meiner Darmstädter Vor-
lesungen vorgelegt. Auch diesen Text habe ich bewusst in der Fas-
sung für den mündlichen Vortrag belassen, um die für eine Einfüh-
rung wünschenswerte Verständlichkeit nicht aufs Spiel zu setzen.
Meine Auseinandersetzung mit Winnicott hat vor fast zwanzig
Jahren begonnen, und bis heute hat seine Theorie der individuellen
Entwicklung für mich nichts an Faszination eingebüßt. In den mei-
sten meiner Veröffentlichungen wird man ihren direkten oder indi-
rekten Einfluss aufspüren können. In Vorlesungen und Seminaren
konnte ich zudem die Erfahrung machen, wie sehr auch die Studie-
renden der Pädagogik „gepackt“ werden von einer Theorie, die nicht
nur höchst überraschende und bereichernde Einsichten in die Bedin-
gungen, Wege und Formen der individuellen menschlichen Ent-
wicklung zu geben vermag, sondern zudem von einer so aufrichtig re-
spektvollen Haltung zum anderen Menschen getragen ist, dass auch
das Herz berührt wird.
Da in der pädagogischen Literatur zwar gelegentlich auf Winni-
cotts Einsichten Bezug genommen wird, eine umfassendere päd-
agogisch und bildungstheoretisch motivierte Darstellung seiner Ent-
wicklungstheorie aber fehlt, soll dieses Buch auch eine Lücke schlie-
ßen. Ich lasse dabei die ohnehin spärliche Sekundärliteratur beiseite
und konzentriere mich ausschließlich auf Winnicott selbst, den ich
in Zitaten ausführlich zu Worte kommen lasse, um seine eigenwillige
Vortragsweise wenigstens ansatzweise nacherlebbar werden zu lassen.
Es versteht sich, dass dennoch eine persönlich gefärbte Interpretation
vorgetragen wird, die zudem durch eine selektive Bezugnahme aus
pädagogischer Sicht geprägt ist, welche unvermeidlich auf Kosten des
Reichtums der Winnicottschen Gedankenwelt geht.
5
Werner Sesink: Vermittlungen des Selbst
Zu meiner Art, Winnicotts Theorie darzustellen, sind noch einige zu-
sätzliche Vorbemerkungen angebracht:
• Ich nehme keine Einordnung Winnicotts in die Geschichte der
psychoanalytischen Theoriebildung vor, teils um die Vorlesung
nicht mit Inhalten zu überfrachten, deren verständiger Nachvoll-
zug sich für die Zuhörenden außerordentlich aufwändig gestal-
ten würde, teils um meine Kompetenzgrenzen nicht unzulässig
zu überschreiten.
• Ich lese Winnicott als Pädagoge, nicht als Therapeut oder Psy-
chologe. Mein Interesse gilt jenen Aspekten seiner Theorie, die
für das Verständnis der pädagogischen Vermittlungsaufgaben
hilfreich sind.
• Meine Lesart ist eingebettet in ein übergreifendes bildungstheo-
retisches Konzept, das im Rahmen dieser Vorlesung selbst nicht
systematisch und umfassend vorgestellt und erklärt werden kann.
(Vgl. hierzu mein Vorlesungsskript „Bildungstheorie“, das eben-
falls in dieser Reihe erscheinen wird, vorläufig aber nur in einer
unfertigen Fassung als Download auf meiner Website zur Verfü-
gung steht: www.sesink.de)
Darmstadt, März 2002
Werner Sesink
6
1. Kapitel
Psychoanalyse und Pädagogik –
eine Verhältnisbestimmung
1.1 Psychotherapie und Pädagogik
Einen wichtigen Unterschied müssen wir gleich zu Beginn festhalten:
Die Psychoanalyse ist entstanden aus den Bedürfnissen der Psychia-
trie oder Nervenheilkunde. Ihre klinische Anwendung, die Psycho-
therapie, gehört deshalb in den Zusammenhang des Gesundheitswe-
sens. Die therapeutische Praxis, die aus Psychoanalyse resultiert, soll
zur Gesundheit führen. Ihr Ausgangspunkt ist ein Zustand des Pati-
enten, der als Krankheit interpretiert wird.
Die Pädagogik teilt mit der Psychotherapie weder das Ziel noch
den Ausgangspunkt. Ihr geht es um die Entwicklung eines Kindes
oder eines Menschen, ohne dass eine Voraussetzung gemacht werden
muss über seine Gesundheit. Ihr Ziel ist die Mündigkeit des erwach-
senen Menschen; ihr Ausgangspunkt ist die Unmündigkeit des Kin-
des. Diese aber ist ebensowenig eine Krankheit, wie Mündigkeit Ge-
sundheit bedeutet.
Soweit also haben beide Praxen zunächst einmal nichts miteinan-
der zu tun. Kinder und Heranwachsende sind keine Patienten der
Pädagogik. Das Wort „Patient“ kommt aus dem Lateinischen; es
heißt wörtlich übersetzt: Leidende/r. Damit wird etwas Entscheiden-
des angesprochen: Therapie soll individuelles Leiden verringern oder
beseitigen. Kinder werden jedoch nicht erzogen und gebildet, weil sie
an ihrer Unmündigkeit leiden. Sie werden erzogen und gebildet, weil
diese Gesellschaft bestimmte Ansprüche an sie hat, zu deren Erfül-
lung es nicht reicht, die Kinder in ihrer Entwicklung sich selbst zu
überlassen. Und sie lassen sich erziehen und bilden, weil sie neugierig
und wissbegierig sind; weil sie lernen wollen.
7
Werner Sesink: Vermittlungen des Selbst
Dennoch wird Pädagogik auch immer wieder in Zusammenhang
gebracht oder gar identifiziert mit Therapie. Warum?
Ich möchte drei Gründe anführen:
• Der Zustand des Kindes, seine Unmündigkeit, wird nicht sel-
ten als Mangel interpretiert. Er wird damit zumindest in die
Nähe einer Krankheit gerückt, der abgeholfen werden soll.
Das Maß des menschlichen Normalzustands wird vom Erwa-
chsenen genommen. Dessen – angebliche oder tatsächliche,
mehr oder weniger ausgeprägte – Mündigkeit rückt damit in
eine dem Maßstab der Gesundheit vergleichbare Position.
Kinder sind dann vor allem „noch nicht …“ (und deshalb:
defizitäre) Erwachsene. Nicht, was sie mitbringen, sondern
was ihnen fehlt, ist es dann, was das pädagogische Interesse
anzieht. Die Kinder werden sozusagen einer pädagogischen
„Behandlung“ unterzogen.
• Pädagogik rechnet in ihrer Praxis mit bestimmten „norma-
len“ Voraussetzungen, welche die Kinder mitbringen. Diese
Voraussetzungen werden bezeichnet als „Erziehungsfähigkeit“
und „Bildsamkeit“. Für Kinder, welche diese Normal-Voraus-
setzungen nicht mitbringen, ist dann eine „Sonder-Pädago-
gik“ zuständig. Diese Sonder-Pädagogiken weisen unter-
schiedliche Orientierungen auf.
In manchen Fällen bedeutet Sonder-Pädagogik nur, dass die
besonderen Voraussetzungen, welche diese Kinder mitbrin-
gen, auch besonders berücksichtigt werden; zum Beispiel:
Blindheit, Körperbehinderung, geistige Behinderung, Hoch-
begabung.
In anderen Fällen versteht sich die Sonderpädagogik aber
auch als eine Praxis, welche dem Normalitäts-Mangel durch
sonder-pädagogische „Behandlung“ abhelfen soll; so insbe-
sondere bei verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen
Kindern.
In den Sonder-Pädagogiken vermischen sich dann pädagogi-
8
1. Kapitel: Psychoanalyse und Pädagogik
sche und therapeutische Praxis. Dabei handelt es sich nicht
nur darum, beispielsweise körperbehinderten Kindern durch
Krankengymnastik eine medizinische Begleit-Therapie
zukommen zu lassen. Auch dies ist Bestandteil des Betreu-
ungskonzepts von Sonderschulen. Darüber hinaus aber geht
es großenteils darum, durch therapeutische Maßnahmen die
Erziehungs- und Bildungsfähigkeit der Kinder zu „verbes-
sern“, d.h. näher an das Normalmaß heranzuführen. Es han-
delt sich demzufolge auch um pädagogisch (nicht nur um
medizinisch) motivierte Therapie. Die „Krankheit“, die hier
therapiert werden soll, ist relativ bestimmt zu einer „Gesund-
heit“, welche pädagogisch definiert wird. Sie hat nichts mit
dem Wohlbefinden des betreffenden Menschen zu tun, son-
dern mit seiner Eignung für die übliche Pädagogik.
• Gegenwärtig nehmen die Klagen aus den pädagogischen
Institutionen zu, dass die Kinder immer seltener mit den
„Normal-Voraussetzungen“ dorthin kommen; dass immer
mehr Kinder in einer Verfassung dorthin kommen, welche es
schwierig bis unmöglich macht, noch normale Pädagogik zu
betreiben. Immer mehr Kinder gelten als „erziehungsschwie-
rig“ oder „verhaltensauffällig“, auch wenn sie nicht gleich in
die entsprechenden sonderpädagogischen Einrichtungen
abgegeben werden. Das heißt: Die Notwendigkeit von Son-
der-Pädagogik wird immer mehr „normal“. Und damit wird
auch der Ruf nach therapeutischen Maßnahmen zur Herstel-
lung der pädagogischen Normal-Voraussetzungen und so die
Vermischung von Pädagogik und Therapie immer „norma-
ler“.
Wenn diese Diagnose stimmt, dann ist allerdings etwas Merkwür-
diges eingetreten. Es sind ja nicht angeborene oder durch Unfälle er-
worbene Behinderungen, um die es hier geht. Sondern die diagnosti-
zierten Defizite resultieren aus Veränderungen der Lebensbedingun-
gen, welche diese Gesellschaft ihren Kindern und Jugendlichen
9
Description:analytische Psychotherapie auf die (heilenden) Kräfte der Selbster- kenntnis und Selbsttätigkeit des Patienten. Die Psychoanalyse ist ge- nau dieses