Table Of ContentBEEICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU LEIPZIG
Philologisch-historische Klasse
Band 102 • Heft 5
WALTERBAETKE
ÜBER DIE ENTSTEHUNG
DER ISLÄNDERSAGAS
19 5 6
A K A D E M I E . V E R L A G • B E R L IN
Vorgetragen in der Sitzung vom 10. April 1954
Manuskript eingeliefert am 3. November 1955
Druckfertig erklärt am 5. September 1956
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin W 8, Mohrenstraße 39
Lizenznummer 202 • 100/91/56
Satz und Druck: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg, Bez. Leipzig
Bestell- und Verlagsnummer: 2026/102/5
Preis: DM5,50
Printed in Germany
THEODOR FRINGS
zum 70. Geburtstag
gewidmet
Inhalt
Seite
1. Wege und Aufgaben der Sagaforschung 5
2. Die Tradition 15
3. Die Geschichtlichkeit der Isländersagas 27
4. Geschichtswerk und Dichtung 49
5. Bericht und Saga 55
6. Die literargeschichtliche Stellung der Isländersagas . . . . 32
7. Die geschichtlichen Grundlagen der Sagakunst 99
1. Wege und Aufgaben der Sagaforschung
Mehr als bei anderen Literaturen hat bei den Isländersagas1
ihr Ursprung und der Prozeß ihrer Entstehung die Forschung
beschäftigt. HEUSLERS erste große Arbeit über sie trug den
Titel „Die Anfänge der isländischen Saga"2; KNUT LIEST0L
schrieb über „Upphavet til den islendske settesaga" (1929)3,
TURVILLE-PETRE über denselben Gegenstand in „Origins of Ice-
landic Literature" (1953); ihm ist ferner ein wichtiger Abschnitt
in SIGURDURNORDALS Buch „Snorri Sturluson"( 1920) gewidmet,
der in der berühmten Einleitung zu seiner Ausgabe der Egils saga
(lslenzkFornritBd.il) eine Fortsetzung und Vertiefung erfuhr.
Dazu kommen eine Anzahl von Zeitschriftenaufsätzen, die sich
mit demselben Problem beschäftigen.4 Trotzdem ist der Ur-
sprung der Isländersagas noch immer in ein merkwürdiges
Dunkel gehüllt. In der Frage, welche Verhältnisse zur Ent-
stehung dieser eigenartigen Literatur geführt haben, herrscht
in der Forschung nicht nur keine Übereinstimmung, sondern
auch wenig Klarheit. Unter den Antworten, die man gegeben
1 Wir meinen damit jene Gruppe der isländischen Sagas, die Leben und
Schicksale isländischer Bauern des 9.—11. Jahrhunderts in künstlerischer
Form darstellen. Dielsländer nennen sie Islendinga sggur oder xtlsggur: auch
in Deutschland und England werden sie zuweilen Familiensagas (Family
Sagas) genannt.
2 Abhandl. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1913, Phil.-hist. Kl. Nr. 9.
3 Auch in englischer Sprache erschienen unter dem Titel „The Origin of
the Icelandic Fiimily Sagas" (1930). Nach dieser Ausgabe wird in dieser Arbeit
zitiert (Origin).
4 A. BUGGE, Den islandske sagas oprindelse og trovserdighed, Nordisk Tid-
skrift (Letterst.) 1909, S. 409ff.; dt. Übers.: Entstehung und Glaubwürdigkeit
der isländischen Saga, Zeitschr. f. dt. Altert.51 (1909), S. 23ff.; EMIL OLSON,
Den isländska sagans ursprung, Nord. Tidskr. (Letterst.) 1918, S. 411ff. u. a.
6 WALTER BAETKE
hat, ist kaum eine, die eine wirklich geschichtliche Erklärung
bedeutete. Nicht einmal über die Zeit der Entstehung ist man
sich einig, vielmehr gehen die Ansichten darüber weit aus-
einander. Es gibt Forscher, die ihren Ursprung in der Haupt-
sache dem 10. Jahrhundert zuschreiben, während andere ihn
in das 13. Jahrhundert verlegen. Bei nicht wenigen bleibt diese
Frage in der Schwebe. Natürlich ist aber eine geschichtliche,
auch literargeschichtliche Beurteilung der Isländersagas un-
möglich, wenn man nicht weiß, welchem Jahrhundert sie an-
gehören. Literaturwerke erwachsen auf dem Grunde der ge-
sellschaftlichen und kulturellen Zustände einer bestimmten
Epoche; sie werden geschaffen von Menschen, deren Leben sich
im Zwange dieser Verhältnisse bewegt, und geben ihren An-
schauungen und Strebungen Ausdruck. Ihren Ursprung ver-
stehen heißt darum, sie aus den Verhältnissen ihrer Epoche
verstehen. Wenn diese für jede sachgemäße Beurteilung von
Literaturwerken grundlegenden Prinzipien auf die Isländer-
sagas bisher so wenig Anwendung gefunden haben, so hatte
das zunächst äußere Gründe. Alle Isländersagas sind anonym
überliefert; wir kennen von keiner mit Gewißheit den Ver-
fasser und können daher die Zeit ihrer Abfassung nicht un-
mittelbar bestimmen. Andererseits wissen wir wrenig über die
Zustände Islands in den ersten Jahrhunderten seiner Ge-
schichte, weil es, außer den Sagas selbst, wenig Quellen gibt,
die uns darüber Aufschluß geben könnten.
Aber diese Schwierigkeiten, die uns in ähnlicher Weise auch
auf anderen Literaturgebieten begegnen, erklären nicht alles. Tat-
sächlich hat die Sagaforschung sich um die Aufhellung der objek-
tiven Verhältnisse, die der Entstehung der Sagaliteratur zu-
grunde liegen, wenig bemüht. Es fehlt nicht angelegentlichen An-
sätzen in der früheren Literatur. Aber erst in den Arbeiten der
neueren isländischen Schule, besonders den Einleitungen zu den
Ausgaben der Sammlung „Islenzk Fornrit" sind ernstere An-
strengungen in dieser Richtung bemerkbar. Im übrigen haben
Fragen und Methoden der Folkloristik, der Sagen- und der
Über die Entstehung der Isländersagas 7
Motivkunde in der Sagaforschung eine größere Rolle gespielt
als echte geschichtliche Gesichtspunkte. Man war weithin ge-
neigt, die Isländersagas in die gewissermaßen zeitlosen „ein-
fachen Formen", wie Legende, Märchen, Volkssage u. ä. ein-
zureihen, bei denen die historische Fixierung von sekundärer
Bedeutung ist (oder scheint)1. Trotzdem der künstlerische
Charakter der Isländersagas offen zutage liegt und auch von
niemand bestritten wird, hat man sie von vornherein einer Be-
urteilung unterworfen, die grundsätzlich davon absah, sie als
literarische Schöpfungen zu betrachten.
Die Gründe für diese Einstellung liegen in der Auffassung,
die man von der Herkunft der in ihnen behandelten Stoffe,
ihrem Verhältnis zur isländischen Volksüberlieferung und
ihrem geschichtlichen Gehalt hatte.
Die Isländersagas bilden einen Teil der großen Sagaliteratur,
zu der auch historische Werke wie die Sagas von Olaf Tryggva-
son, von Olaf dem Heiligen, die Sverris saga und andere Königs-
sagas gehören. Zwischen der Anlage und dem Stil dieser Werke
und denen der Isländersagas bestehen wesentliche Übereinstim-
mungen; die Verschiedenheit des Stoffes bedingt natürlich ge-
wisse Unterschiede; aber allen Sagas sind gemeinsam eine Vor-
liebe zur biographischen Form (auch die Geschichte Norwegens
wird in Lebensgeschichten der einzelnen Könige gegeben), die
Neigung, Höhepunkte des Geschehens in dramatischen Szenen
mit geschliffenem Dialog einprägsam zu gestalten, die Ge-
pflogenheit, in die Erzählung Strophen einzufügen, die den Be-
richt bestätigen oder beleben sollen, u. a. m. Dazu kommt,
daß auch die Isländersagas in gewissem Maße die Form
historischer Berichte annehmen; sie geben sich als Erzählungen
wahrer Begebenheiten; die Handlung wird in einen geschicht-
lichen Rahmen gespannt; sie spielt in einer bestimmten Zeit,
manchmal werden die Regierungszeit eines Königs oder andere
Daten aus der Geschichte Islands oder Norwegens angegeben.
1 Vgl. ANDRÉ JOLLES, Einfache Formen, Halle 1929.