Table Of ContentUeber den
Urspr11dnegr S pratb•e
•
r
• Von
Dr. Anton Marty,
a. o. Profe••or der Philo•ophle an der k. k. Univer•itllt zu Czernowltz.
Wiirzburg,
A. S t u b e r ' s B u c h h a n d 1u n g,
1875,
t •
Vorwort.
Wenn von Seiten der Philosophie das Problem
des Sprachursprungs, worüber sie vor Zeiten lebhaft
nachgedacht, nach längerem Schweigen wieder auf-
. .
genommen wird, so dürfte dies der Mehrzahl der
Sprachforscher nicht unerwünscht kommen. Denn
fast allgemein ist jetzt die U eberzeugung, da~s psy
chologische Erwägungen hier eine ganz wesentliche
Rolle spielen. Mehrere Sprachforscher .sind bereits
selbst auf solche Erwägungen ausführlich einge
gangen und haben zum Theil (wie Steinthal und
neuestens der Däne Mad vig in Bezug auf Lotze)
ihre Berührung mit der •m odernen Psychologie mit
besonderem Nachdruck hervorgehoben. Immerhin
fehlt auch an den neueren Darstellungen gerade von
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IV
dieser Seite her noch Vieles; und diese Mängel zu
kennzeichnen und auszufüllen, habe ich mir hier
zur Aufgabe gemacht. Ich habe daher, sowohl im
kritischen als im positiven Theil mein Augenmerk
durchweg auf Punkte gerichtet, welche psycholo
gisches Interesse und psychologische Schwierigkeit
bieten, hier aber überall die Analyse so weit aus
geführt, dass man Klarheit und Verständlichkeit,
wie ich hoffe, nirgends vermissen wird. Eher muss
ich den Vorwurf des „Mangels an Tiefe" von sol
chen erwarten, welchen nur das tief genug scheint,
was man nicht recht verstehen kann. Mag das
•ü ber mich kommen! - nur, bitte ich, nicht etwa
in dem Tone, der neuerdings in unserer Streitfrage
von verschiedenen Seiten angeschlagen worden· ist
und ~tark an die Art erinnert, wie sich einst Jacobi
und Schelling „über die göttlichen Dinge" unter
hielten.
Die Philosophie selbst hat an dem vorliegenden
Problem vorzugsweise das Interesse, dass es ihr
einen der schönsten Fälle der Anwendung und Be
währung psychologischer Principien bietet. Noch
direkter würde sie eine andere Untersuchung über
die Sprache angehen: über den Einfluss, den nütz-
V
liehen, besonders aber auch den schädlichen, welchen
die Sprache auf unser Denken übt; um die darüber
gewonnenen Erkenntnisse fi.i.rd ie Logik und Meta
physik zu verwerthen. Allein ich habe. diese Frage,
sowie die weitere: wie die artikulirten Laute, nach
dem sie als Mittel der Mittheilung entstanden waren,
jenen Einfluss auf das einsame Denken gewannen,
hier überall bei Seite geschoben, um sie vielleicht
später einmal gesondert zu erörtern.
Diese Trennung der Untersuchung über den
Ursprung der Sprache und derjenigen über ihren
Einfluss auf das Denken ist eine Abweichung von
manchen neueren Behandlungen unseres Problems;
dass sie aber möglich und somit geboten war, möge
man aus dem Versuche selbst ersehen.
Da ich Mad vig's gedachte, will ich noch be
merken, dass dessen „Kleine philologische Schriften",
worin sich fünf längere Abhandlungen theils aus
drücklich theils beiläufig mit hiehergehörigen Fragen
beschäftigen, erst gegen Ende des Druckes meiner
Schrift erschienen. Aus dieser Publication geht
hervor, dass der verdiente Philologe sich längst
auch über allgemeinere Probleme der Sprachwissen
schaft und zwar in einer dem neueren Empirismus
VI
entsprechenden Weise ausgesprochen hat (d ie erste
Abhandlung .erschien im Dänischen 1835). Es ist
zu bedauern, dass seine nüchternen Anschauungen
die ganze Zeit her dem deutschen Publikum
µnbekannt blieben; sie hätten gewiss die durch
Hum b o 1d t angeregte Gährung beschleunigenh elfen.
Dies als Nachtrag zum historischen Theil meiner
Schrift. Im sachlichen Theil hätten mir seine
treffenden Aeusserungen über das •V erhältniss der
sprachlichen Bezeichnungen zu den Gedanken, über
den primären Zweck der Sprache als Mittel der
Mittheilung u. A. Gelegenl1eit geboten, zur Ver
gleichung auf sie hinzuweisen, und hätte ich nament
lich im § 4 des II. Kap. auf seine Untersuchung
„über Entstehen und Wesen der grammatischen
Bezeichnungen" Bezug genommen. Die Processe
freilich, denen wir hier besondere Aufmerksamkeit
schenkten, die Entstehung und allmälige Ausbildung
der Mittheilung überhaupt, eingehend zu betrachten
und· die dab_ei wirksamen Kräfte genau zu analy
si.ren, lag dem Philologen fern.
Göttingen, Juni 1875.
1 N H A L T.
Seite
Einleitung . 1
Historisch-kritisch'etJr 'eberblick.
§ 1. Uebersichtliche Darstelhmg der auf die Entstehung der
Sprache bezüglichen Meinungen, die in der alten Zeit und
in der neueren bis zum Aufblühen der vergleichenden
Sprachforschung zu Tage getreten sind . . . . . . . 4
§ 2. Die Humboldt'sche Anschauung vom Wesen und Ursprung
der Sprache (W. v. Humboldt, K. Heyse, Renan) . . . 10
§ 3. Discussion der gegenwärtigen Ansichten. Nativistische
und empiristische Richtung.
I. Darstellung nnd Kritik der nativistischen Theorien
(M. Müller, Steinthal, Lazarus, Wundt) . . . . 18
II. Zur Charakteristik der empiristischen Theorien
(Bleek, Whitney, Tylor, L. Geiger) . . . . 44
III. Orientirung über die einzuschlagende Richtung 68
PositiveD arstellung.
Erstes Kapitel.
Von der ersten Entstehung irgendwelcher Mittheilung unter den
Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 63
Z weite s Kap i tel.
Von der Ausbildung der Ausdrucksmittel zur Form der Laut-
sprache . . . . . . . . , , . . , . 78
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2 Einleitung.
Anderen betrachtete, was das menschliche Dasein llher das
thierisehe erhebt.
So viel Schiefes und Uebertriebenes nun auch diesen
Anschauungen anhaftet, so lass~n sie sieh doch in ihrer
Entstehung begreifen und bis zu einem gewissen Grade auch
rechtfertigen. Vorab ist ja in der That die reiche gegen
seitige Mittheilung, wie sie unter den Menschen durch
die Lautsprache stattfindet, der augenfälligste Ausdruck
ihres reicheren inneren Lebens, und nicht blos dies -
sie ist auch mit eine Quelle desselben. Jeder von uns
dankt den grössten Theil seiner intellectuellen und ethi
schen Bildung uncl ein reiches Mass seiner Lebensfreuden
dem Umstande, dass andere sich ihm mittheilten und ihn an
leiteten, auch ihnen entgegen sein aufkeimendes Seelenleben
zu erschliessen. Und es herrscht kein Streit dartiber, dass der
allseitige Austausch der Gedanken unter den gleichzeitig
lebenden Menschen und die stetige Ueberlieferung der Er
rungenschaften früherer Generationen an die späteren die
Hauptbedingung für den Fortschritt des gesammten Ge
schlechtes ist. Sofern nun die Lautsprache zu diesem
Verkehr ein bequemes und vollkommenes Mittel bietet,
fällt auf sie ein grosser Theil der Segnungen, welche der
Verkehr filr den Einzelnen und das Geschlecht in sich
birgt.
Dazu kommt, dass wenn auch fraglich ist, ob die
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Worte mit den Gedanken in einem anderen Zusammen
hang stehen, als dem der Association, und ob diese für den
Fortschritt des Denkens unentbehrlich ist, doch fast allge
mein zugegeben wird, dass diese •V erkettung der Gedanken
mit den sprachlichen Bezeichnungen ein vorzügliches Hülfä
mittel auch des einsamen Denkens ist.
So erscheint die Sprache jedenfalls in inniger Weise
mit der Entwicklung der gesammten menschlichen Kultur