Table Of ContentALTDEUTSCHE TEXTBIBLIOTHEK
Begründet von Hermann Paul
Fortgeführt von G. Baesecke
Herausgegeben von Hugo Kuhn
Nr. 70
EILHART VON OBERG
TRISTRANT
Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente
mit der gesamten Parallelüberlieferung
Herausgegeben von
Hadumod Bußmann
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN
1969
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1969
Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany
Satz : Karl Schenk Reutlingen-Sondelfingen
Druck: Karl Grammlich Pliezhausen
VORWORT
Sowohl die „Tristrant"-Ausgabe von Franz Lichtenstein (Straß-
burg 1877) als auch der diplomatische Abdruck der Fragmente
von Kurt Wagner (Bonn und Leipzig 1924) sind seit langem ver-
griffen und eine Rarität im Antiquariatshandel.Die äußerst kom-
plizierte Überlieferungslage dieses frühesten deutschsprachigen
Tristan-Epos, von dem nur Fragmente des 12. Jahrhunderts und
rund dreihundert Jahre jüngere Bearbeitungen erhalten sind, hat
bislang einer ,authentischen' Neuedition des gesamten Textes
schier unüberwindliche Schwierigkeiten entgegengesetzt.
Diesem Dilemma versucht die vorliegende Studien-Ausgabe zu
entgehen, indem sie den seltenen Vorteil nützt, die Gesamtüber-
lieferung eines mittelhochdeutschen Textes — zumindest aus-
schnitthaft — in allen noch belegbaren Stadien (frühe Fragmente,
späte Bearbeitungen, Rückübersetzung einer alttschechischen Be-
arbeitung und Volksbuch-Prosa) in einem synoptischen Druck
darbieten zu können. Erst wenn anhand dieses Textmaterials die
Verhaltensweise aller Textzeugen kritisch überprüft ist, lassen
sich die Maßstäbe ableiten, nach denen die übrige nicht altbe-
zeugte Überlieferung zu beurteilen wäre. Solche Vorarbeiten
sind nötig, um den dornenvollen Weg zu einer Neuedition des
gesamten Textes ebnen zu helfen. In diesem Sinne sind auch
Einleitung und Bibliographie darauf angelegt, das Fehlen eines
neueren Forschungsberichtes wettzumachen,indem sie möglichst
umfassend über das bisher in der Eilhart-Philologie Geleistete in-
formieren. —Aufgrund ihrer besonderen Anlage eignet sich diese
Ausgabe daher als Grundlage für textkritische, sprachgeschichtli-
che, stilistische und komparatistische Übungen ebenso wie für
VI Vorwort
Untersuchungen zur Uberlieferungs- und Wirkungsgeschichte
mittelalterlicher Texte.
Für die Wiedergabe des Textes wurden alle bekannten Quellen
herangezogen. Da die Mehrzahl der Fragmente durch Kriegser-
eignisse verschollen ist (Rr, M und St), muß sich jede Arbeit am
Text auf den von Kurt Wagner mit äußerster Akribie und Zuver-
lässigkeit veranstalteten diplomatischen Abdruck der Fragmente
stützen. Ohne seine minutiöse Beschreibung der Handschriften
(und ihrer Zerstörungen!) hätte der hier vorgelegte Versuch ei-
ner Ergänzung der fast zur Hälfte beschädigten Fragmenttexte
nicht gewagt werden dürfen. Für den Abdruck der Heidelberger,
Dresdener und Berliner Handschrift standen mir Mikrofilme zur
Verfügung, für den Prosatext eine Xerokopie des ältesten erhal-
tenen Druckes von 1484, sowie die Ausgabe von Alois Brand-
stetter (Tübingen 1966); die neuhochdeutsche Rückübersetzung
des alttschechischen „Tristram" stammt von Johannes Knieschek
(ZfdA 28, 1884, S. 261-358).
Die Ausgabe, in die Vorarbeiten und Ergebnisse meiner Münche-
ner Dissertation von 1967 eingegangen sind, ist auf Anregung
und unter der Obhut meines verehrten Lehrers Professor Hugo
Kuhn entstanden, dem ich für alle Hilfen sehr dankbar bin.
Gleichzeitig gilt mein Dank Professor Hans Fromm und meinen
Münchener Kollegen für viele klärende und ermutigende Gesprä-
che.Bei der Korrektur haben mich Frau Dr. Hella Frühmorgen-Voss,
Frau Dr. Ingeborg Glier und Herr Norbert Ott hilfreich unter-
stützt. Für die diffizilen Probleme des vierfachen Paralleldruckes
hat Herr Robert Harsch-Niemeyer großes Verständnis und viel
Geduld aufgebracht und die für die Altdeutsche Textbibliothek
ungewöhnliche Lösung des Zwillingsbandes gefunden. Ihm sei
ebenso Dank wie Herrn Rainer Zepf, der die vielfältigen druck-
technischen Schwierigkeiten zu meistern hatte.
München, Juni 1969 H.B.
EINLEITUNG
I.AUTOR UND WERK
Unter den Tristan-Dichtungen des Mittelalters nimmt Eilharts
Epos eine Schlüsselstellung ein: seine Übertragung fuhrt die Tri-
stan-Sage als literarischen Stoff in Deutschland ein, zugleich aber
bietet sie gegenüber den unvollendet gebliebenen oder nur frag-
mentarisch erhaltenen Zeugnissen von Béroul, Thomas von Bre-
tagne und Gottfried von Straßburg bis ins 13. Jahrhundert hinein
die einzige vollständige Fassung des Stoffes. Zur Erschließung
und Rekonstruktion der estoire, der vermutlichen Urfassung des
Tristan-Epos, ist Eilharts Text daher für die germanistische so-
wohl wie für die romanistische Forschung von zentraler quellen-
kritischer Bedeutung. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß
sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Eilhart weitgehend
unter der vergleichenden Vormundschaft der internationalen Tri-
stanforschung vor allem unter stoffgeschichtlichen Aspekten
vollzog (Bédier, Golther, Schoepperle, Ranke, Mergell u. a.). Bei
allen form- und stilgeschichtlichen Fragestellungen aber geriet er
meist allzu schnell in den Schatten Gottfrieds und mußte sich
dort mit der Rolle des schwächeren Vorgängers begnügen, dessen
angebliche Mängel als methodischer Ansatz willkommen waren,
um die künstlerische Souveränität des Nachfolgers nur umso
überzeugender nachzuweisen (Gombert, Piquet, Stolte, Jonin).
So sehr der „Tristan" Gottfrieds eine unvoreingenommene
Betrachtungsweise des Eilhart'schen Textes auf diese Weise ver-
stellt haben mag - eines Textes,dessen Wirkungskraft bis ins späte
Vili Einleitung
17. Jahrhundert durch die verschiedensten Drucke und Bearbei-
tungen den Gottfried'schen Nachhall weit überdauert hat -,so
empfindlich hat noch ein anderer Umstand zu der zurückhalten-
den Beschäftigung mit diesem Denkmal beigetragen: die Un-
durchsichtigkeit und Vieldeutbarkeit der Überlieferungssituation,
die auf Grund ihrer mangelnden Kontinuität - frühe Fragmente
und späte Bearbeitungen — allen textkritischen Bemühungenun-
lösbare Probleme aufgibt.
1. Stoff und Quelle
Trotz vielfaltig aufgewendeter philologischer Mühe und Kombi-
natorik liegen die Ursprünge der Tristan-Geschichte im Dunkel,
und die stemmatischen Ableitungen der ältesten, nicht erhalte-
nen Tristandichtungen,wie sie vor allem Bédier, Schoepperle und
Ranke versucht haben, stoßen in der jüngeren Forschung auf zu-
nehmende Skepsis.1 Allzu verschiedene Handlungsstränge, Ein-
zelepisoden und -motive, die zum Teil in jahrhundertelanger
mündlicher Tradition gelebt haben, sind in der Geschichte von
Tristan und Isolde zusammengeflossen und lassen sich nur in
sehr hypothetischer Weise in ein Herkunftsschema fixieren. Eine
vermutlich keltische Urfabel wird mit historisch-sagenhaften Er-
eignissen im 6. Jahrhundert zusammengebracht (Marcus - Mar-
ke), ein anderer Motivkreis knüpft sich an die historische Ge-
stalt ernes piktischen Königs des 9. Jahrhunderts (Drustan-Tri-
stan), dazu gesellt sich ein weltweiter Schatz von Erzählmotiven:
das Märchenmotiv von der Jungfrau mit den goldenen Haaren,
Brautwerbungsmotive von internationaler Verbreitung,2 altiri-
1 Zusammenfassend orientiert hierüber und verweist auf die wich-
tigste internationale Forschung: K. O. Brogsittcr, Artusepik. Stutt-
gart 1965, S. 90-107.
2 Th. Frings und M. Braun, Brautwerbung. 1. Teil. Leipzig 1947.
Stoff und Quelle IX
sches Erzählgut (immrama, aitheda, die Geschichte von Grainne
und Diermaid),^ außerdem mögliche Parallelen aus altindischen
(Listanwendungen gegen Marke), antiken (Theseussage,Sage von
Paris und Oenone), arabischen (Isalde 11) und persischen („Wîs-
rainin ')4 Stoffen.
Die Hauptfabel, so wie sie die Dichtung Eilharts bezeugt, er-
fuhr wohl um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Frankreich ihre
entscheidende dichterische Gestaltung, die maßgeblich wurde für
alle späteren Fassungen des Stoffes. Die Ambivalenz der Tristan-
Geschichte zwischen Schwankhaftem und Tragischem, zwischen
unreflektierter Stoffgewalt und psychologisierender Durchlässig-
keit findet ihren unmittelbaren Ausdruck in der Tatsache, daß
sich die Erzählung in zwei Versionen von sehr unterschiedlicher
Stillage durch die Jahrhunderte verbreitet hat: die spielmännisch
realistische, naiv welthaltige Darstellung von Béroul und Eil-
hart5 und die psychologisch vertiefte höfische Fassung des Tho-
mas von Bretagne,6 die in Gottfrieds von Straßburg sublimem,
höchste Reflexion und künstlerische Virtuosität bezeugenden
Werk ihre anspruchsvollste Form gefunden hat.
Die französische Vorlage Eilharts ist nicht erhalten, vermut-
lich stand sie der Quelle Bérouls nahe, der sich mehrfach auf eine
estoire beruft. Eilharts Verweise auf seine Vorlage sind spärlich
und vage: als ich daz (d. h. die Tristangeschichte) an dem buche
3 G. Schocpperlc, Tristan and Isolt. 2 Bde. Frankfurt/London 1913.
4 S. Singer, Arabische und europäische Poesie im Mittelalter. Abh.
d. Preuß. Ak. d. Wiss., philos.-hist. Kl., 1918, Nr. 13.
F. R. Schroedcr, Die Tristansage und das persische Epos „Wis und
Râmîn". GRM 42 (196Ì) S. 1-44.
5 Text, hrsg. von A. Elwert, mit Übersetzung von U. Mölk. München
1962; Eilhait von Oberge. Hrsg. von F. Lichtenstein. Straßburg
1877 (Quellen und Forschungen. 19); Eilhart von Oberg, Tristrant.
1. Die alten Bruchstücke. Hrsg. von K. Wagner. Bonn und Leipzig
1924 (Rheinische Beiträge 5).
6 Ausgabe von Β. H. Wind, Leiden 1950 und Genf/Paris 1960. Mit
ausführlicher Darstellung des Forschungsstandes.
χ Einleitung
vant heißt es im Prolog (V. 35), und ähnlich unverbindliche An-
merkungen finden sich noch gelegentlich, häufiger aber beruft er
sich auf mündliche Zeugen. Über das Verhältnis zu seiner Vor-
lage ist zu vermuten, daß er sich in textlicher Hinsicht so eng an
seine Quelle gehalten hat, wie es sein Verständnis ihm ermöglich-
te, denn die zahlreichen ungläubigen, auf Rechtfertigung bedach-
ten Kommentare des Erzählers zum Erzählten verraten eine ge-
wisse Unbeholfenheit gegenüber der Fabel und ihrer Sinnhaltig-
keit.
2. Sprache und Herkunft des Dichters
Von Hobergin her Eylhart / Hat uns diz buchelin getichtet (D).
Von Baubemberg Segehart (H), Von Oberengen Enthartte (B).
Auf diese Varianten des Autorenzitats in den späten Bearbeitun-
gen (V. 9446) gründet sich unsere Kenntnis des Dichters, dessen
Name sonst nur noch in einer Nachschrift zur Prosa (Filhart
von Oberet) auftaucht (siehe S. XXXIX). Seit E. Schröder ist
man geneigt, den Dichter mit dem zwischen 1198 und 1208 be-
urkundeten Braunschweiger Ministerialen gleichen Namens zu
identifizieren, obwohl diese Gleichsetzung im Hinblick auf die
räumliche und zeitliche Fixierung des Dichters mancherlei Wi-
dersprüche aufwirft, wovon im Zusammenhang mit der Datie-
rungsfrage noch zu reden sein wird (siehe S. XII). Unbestritten
ist allein die niederdeutsche Herkunft des Dichters aus Oberg, ei-
nem noch heute existierenden Dorf zwischen Braunschweig und
Hildesheim. Weitgehend ungeklärt aber ist die Bestimmung sei-
ner Sprache, die die heimatliche Herkunft fast ganz verleugnet.
Die zahlreich angestellten Untersuchungen haben zu sehr kontro-
versen Ergebnissen geführt.7
7 Eine übersichtliche Zusammenfassung dieses Wissenschaftsstreits
findet sich in der Einleitung von G. Cordes, Zur Sprache Eilhaxds
von Oberg. Hamburg 1939, S. 1-7.