Table Of ContentDieter Birnbacher
Tod
Grundthemen Philosophie
Herausgegeben von
Dieter Birnbacher
Pirmin Stekeler-Weithofer
Holm Tetens
Dieter Birnbacher
Tod
ISBN 978-3-11-053344-6
ISBN (PDF) 978-3-11-053449-8
ISBN (EPUB) 978-3-11-053352-1
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Inhalt
1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen 1
2 Wann ist ein Mensch tot? Todesdefinition und Todeskriterien 7
2.1 Einleitung 7
2.2 Von welcher Instanz ist eine Entscheidung über die Todesdefinition zu
erwarten? 10
2.3 Semantische Kriterien 17
2.3.1 Biologizität 17
2.3.2 Symmetrie 19
2.4 Pragmatische Kriterien 20
2.4.1 Einheitlichkeit 20
2.4.2 Eindeutigkeit 25
2.4.3 Ermöglichung der Organentnahme vom Hirntoten 27
2.5 Drei Explikationen des Todesbegriffs in der Diskussion 29
2.6 Welche Explikation erfüllt die Kriterien am besten? 36
2.7. „Irreversibel“ oder „endgültig“? Die Kontroverse um die
Organentnahme vom non-heart-beating donor 39
3 Der gute Tod 47
3.1 Was kann „gut“ in Bezug auf den Tod heißen? 47
3.2 Die Frage nach dem Ob: Ist Unsterblichkeit wünschenswert? 52
3.3 Die Frage nach dem Wann: Der „richtige“ Todeszeitpunkt 59
3.3.1 Ist der Wunsch nach einem Ende des Lebens notwendig
irrational? 59
3.3.2 Freiwillige Lebensbeendigung 67
3.3.3 Die „natürliche Lebensspanne“ 73
3.4 Die Frage nach dem Wie des Todes 76
3.4.1 Sterbensideale 76
3.4.2 Das Ideal des „natürlichen“ Todes 79
4 Ärztliches Handeln in Todesnähe 85
4.1 Ärztliches Handeln und das Wann und Wie des Todes 85
4.2 Das Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht
in der letzten Lebensphase 89
4.3 Andere Formen der Respektierung von Sterbewünschen 93
VI Inhalt
5 Kann man den eigenen Tod überleben? 105
5.1 Die Endgültigkeit des Todes 105
5.2 Begriffliche Probleme der Fortexistenz über den biologischen Tod
hinaus: Zeitliche Lücken und Identität 109
5.3 Weiterleben ohne Identität? 116
5.4 Ist eine rein geistige Fortexistenz möglich? 119
5.5 Kann man auf eine persönliche Fortexistenz hoffen? 123
6 Leben im Schatten des Todes 127
6.1 Der endliche Lebenshorizont 127
6.2 Der Tod und die Emotionen 134
6.2.1 Emotionen und andere Gefühle 134
6.2.2 Emotionskritik 137
6.3 Emotionskritik: Todesfurcht 143
6.3.1 Erlebnisbezogene Todesfurcht 144
6.3.2 Nicht-erlebnisbezogene Todesfurcht 149
6.3.3 Kreatürliche Todesfurcht 155
7 Der tote Körper 159
7.1 Der menschliche Leichnam – Person oder Sache? 159
7.2 Pietät 162
7.3 Pietät und Bestattung 169
Literatur 175
Namenregister 181
Sachregister 185
1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle
Tendenzen
Der Tod ist nicht nur eines der ältesten Themen der Philosophie. Viele Philoso-
phen haben in ihm auch das wichtigste Motiv für das Philosophieren insgesamt
gesehen. „Der Tod ist der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget der
Philosophie“, schreibt Schopenhauer im zweiten Band von Welt als Wille und
Vorstellung, „schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden.“
(Schopenhauer 1988, III, 528 f.)
Diese Einschätzung ist alles andere als überraschend. Das Phänomen des
Todes fordert wie kein anderes das philosophische Thaumazein heraus, das Sich-
Wundern und Stellen grundlegender Fragen. Ein Grund ist der auffällige Kon-
trast zwischen Trivialität und Dramatik des Todes. Auf der einen Seite gehört die
Tatsache, dass der Mensch sterblich und die ihm gewährte Zeit endlich ist, zu
den bestverbürgten Tatsachen überhaupt. Nichts könnte trivialer sein. Auf der
anderen Seite bleibt für den Einzelnen die Unausweichlichkeit seines Todes ein
skandalon, eine Quelle von Unruhe und Verstörung. Wir hängen die meiste Zeit
über am Leben. Die Gewissheit, sterben zu müssen, steht dazu in einer krassen
Dissonanz.
Dass der Tod die Philosophen immer wieder fasziniert hat, hat noch weitere
Gründe. Einer davon ist der die Vorstellung vom Tod umgebende begriffliche
Nebel. Aus der Sicht des Individuums ist der eigene Tod etwas Dunkles, Uner-
gründliches, Unvorstellbares. Das Denken des eigenen Todes – nicht des Ster-
bens – prallt wie von einer Wand ab. Wir erliegen alle gelegentlich der Versu-
chung, uns vorstellen zu wollen, „wie es ist, tot zu sein“. Gleichzeitig erkennen
wir das Paradoxe und Unmögliche dieses Gedankens. Wenn tot zu sein u. a.
bedeutet, das Bewusstsein endgültig verloren zu haben, fehlt es zwangsläufig an
der in der Frage vorausgesetzten Subjektivität. Insofern unterscheidet sich die
Frage, wie es ist, tot zu sein, radikal von der bekannte Frage Thomas Nagels, wie
es ist, eine Fledermaus zu sein. Auf beide Fragen gibt es offensichtlich keine sinn-
volle Antwort. Aber bei der zweiten Frage sind die Gründe dafür erkenntnistheo-
retischer Art: Wir können uns in eine Fledermaus nicht hineinversetzen. Bei der
ersten Frage besteht die Unmöglichkeit aus logischen Gründen.
Das verweist auf eine weitere Besonderheit des Todes: die Tatsache, dass das
Bild, das wir uns vom Tod machen, sich radikal verändert, je nachdem, welche
Perspektive wir ihm gegenüber einnehmen, eine der Ersten, Zweiten oder Dritten
Person. Wie uns der Tod als Phänomen gegenübertritt, hängt von dem Blickpunkt
ab, von dem aus wir uns ihm nähern. Prägnant und in einem einzigen Satz hat
diesen Unterschied wiederum Schopenhauer benannt:
DOI 10.1515/978-3-11-053449-8-001
2 1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen
Auf seinen eigenen Tod blickt Jeder als auf der Welt Ende, während er den seiner Bekann-
ten als eine ziemlich gleichgültige Sache vernimmt, wenn er nicht etwan persönlich dabei
beteiligt ist (Schopenhauer 1988, II, 392).
Mit dem „je eigenen“ Tod endet das eigene Erleben, sogar die Möglichkeit des
Erlebens. Was nach unserem Tode geschieht, liegt außerhalb unseres Erfah-
rungshorizonts. Soweit unser erfahrungsmäßiger Zugang zur Welt betroffen ist,
ist es gleichgültig, ob wir zugrunde gehen oder die Welt; beide Male endet das
Verhältnis zur Welt, das wir während unserer Lebenszeit, wenn auch mit Unter-
brechungen, aufrechterhalten. Dagegen ist für uns der Tod anderer, wenn wir zu
ihnen in keiner affektiven Beziehung stehen – und sofern nicht auffällige Todes-
umstände dazukommen – eine mehr oder weniger triviale Angelegenheit. Dass
fortwährend Menschen sterben, die wir nicht kennen, ist eine Binsenwahrheit,
die uns kalt lässt. Im Gegensatz dazu gehört der Tod Nahestehender – aus der
Zweite-Person-Perspektive – zu den Ereignissen, die uns am heftigsten und nach-
haltigsten erschüttern. Auch diejenigen, die dem eigenen Tod gelassen gegen-
überstehen, sind gegen diese Erschütterungen nicht gefeit. Während man sich
durch Klarheit des Denkens eine Haltung „stoischen“ Gleichmuts gegenüber dem
eigenen Tod aneignen kann, ist es vielfach schwer, sich mit der Kraft des Verstan-
des gegen die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu wappnen. Sie
scheint weniger zähmbar als die Todesfurcht und durchbricht mit elementarer
Wucht gelegentlich noch die am sorgfältigsten ausgedachten Rationalisierungen.
Der Tod ist nicht nur ein stets wiederkehrendes, sondern auch ein übergrei-
fendes Thema der Philosophie. Es berührt nahezu alle philosophischen Einzel-
disziplinen, insbesondere Anthropologie, Ethik und Metaphysik. Es ist zugleich
eines der Themen, dessen philosophische Behandlung im Zeitverlauf die radi-
kalsten Wandlungen erfahren hat und weiter erfährt. Während viele der Aus-
sagen über den Tod, die wir etwa in der Philosophie des Hellenismus finden,
heute noch ebenso gültig sind wie vor mehr als 2000 Jahren, haben sich andere
überlebt oder sind Gegenstand von Kontroversen geworden. Ursächlich dafür ist
einerseits der medizinische und technische Fortschritt, der es erlaubt hat, den
Tod weit über seine jahrtausendealten Grenzen hinaus zeitlich zu verschieben,
andererseits die tiefgreifenden sozialen Veränderungen in der westlichen Welt
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auch die seit längerem anhaltende Aktualität der Themen Tod und Sterben
in Wissenschaft und Öffentlichkeit verdankt sich wesentlich dem medizinisch-
technischen Fortschritt. Die Fortschritte der Medizin haben – zusammen mit der
sukzessiven Verbesserung der Lebensverhältnisse auch in den rückständigsten
Regionen der Erde – dazu geführt, dass der Tod nach einer sehr viel ausgedehn-
teren Lebensspanne als in allen uns bekannten historischen Epochen eintritt.
1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen 3
Zugleich haben sie bewirkt, dass zuvor immer häufiger eine längere Phase der
Multimorbidität und des Verfalls der geistigen Kräfte durchlebt wird. Die von der
Geriatrie eröffnete Vision einer compression of morbidity, einer Verkürzung der
Krankheitsphase am Lebensende, ist bisher unerfüllt geblieben. Ein anderes in
der modernen Medizin und ihren zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten
begründetes neues Phänomen ist das nahezu vollständige Verschwinden der
Todesursache „Altersschwäche“. Der Tod ist heute überwiegend „medikalisiert“.
Nur noch in seltenen Einzelfällen sterben Menschen in den Industrieländern an
den mit der Alterung einhergehenden „natürlichen“ degenerativen Prozessen
statt an den Folgen einer Erkrankung oder eines Unfalls.
Noch weitgehender sind die Veränderungen, die die Entwicklung der Medizin
und der Medizintechnik für das traditionelle Bild des Todes mit sich gebracht hat.
Herkömmlich galt der Tod als das Paradigma eines kontingenten, im Kern „natür-
lichen“ und vom Menschen nur in engen Grenzen steuerbaren Geschehens. Je
mehr die Medizin in dieses Geschehen eingreift, desto weniger ist klar, was mit
einem „natürlich“ eintretenden Tod noch gemeint sein kann. In gewisser Weise
ist ein mit den Mitteln der Medizin und der Zivilisation zeitlich nach hinten ver-
lagerter Tod ein „künstlicher“, vom einem naturwüchsigen sehr weit entfernter
Tod. Einige Theoretiker haben daraus die Konsequenz gezogen, dass der Begriff
eines „natürlichen“ Todes damit gänzlich unanwendbar geworden ist (vgl. z. B.
Illich 1981, 238 f.). Will man nicht so weit gehen, sieht man sich vor die Aufgabe
gestellt, neue und unausweichlich strittige Kriterien dafür anzugeben, was in
Bezug auf den Tod heute als „natürlich“ und „unnatürlich“ gelten kann.
Ein anderer Aspekt der zunehmenden „Verkünstlichung“ des Todes ist die
Tatsache, dass der Tod zunehmend zu einem Gegenstand bewusster Steuerung
geworden ist. Nicht nur die Modalitäten des Sterbens sind gestaltbar geworden,
auch der Todeszeitpunkt gehört immer öfter zu den Fragen, die nicht von der
Natur, sondern durch menschliche Entscheidungen – des Sterbenden selbst oder
Anderer – beantwortet werden. Das Diktum mors certa, hora incerta, nach dem
der Tod sicher und der Todeszeitpunkt unsicher ist, gilt nur noch mit Einschrän-
kungen. Am weitesten geht in dieser Hinsicht die Praxis der aktiven Sterbehilfe
in den Benelux-Ländern. Sie ermöglicht durch die vorgreifende Datierung die am
weitesten gehende Ausschaltung von Kontingenz. Zugleich erlaubt sie, nicht nur
die Bestattung, sondern bereits das Sterben – ähnlich wie in vergangenen Zeiten
der Großfamilie – zu einem gemeinschaftlich begangenen Ereignis zu machen.
Aber auch in den Ländern, in denen keine aktive Sterbehilfe praktiziert wird, ist
der Tod vielfach das Ergebnis einer Entscheidung, in der Hauptsache die Ent-
scheidung, die Bemühungen um eine weitere kurative, auf Heilung ausgerich-
tete Behandlung abzubrechen. Bei Todkranken ist dies in Deutschland bereits
in mehr als 40 % der Fall. Je grenzenloser die Möglichkeiten der Medizin sind,
4 1 Einleitung: Tod und Sterben – Aktuelle Tendenzen
das Lebensende hinauszuzögern, desto mehr tritt an die Stelle eines natürlichen
Geschehens eine Entscheidung darüber, wann die Grenzen des Erträglichen und
Zuträglichen erreicht sind und die Lasten des Weiterlebens die Chancen überwie-
gen.
Dieser Wandel von der Widerfahrnis zur Gestaltung, von der Kontingenz
zum Arrangement, von der Heteronomie zur Autonomie hat weitreichende
Folgen: Neben natürlichen Gegebenheiten bestimmen zunehmend Wünsche,
Leitvorstellungen und Normen das Wann und Wie von Sterben und Tod. Wie die
Medizin dem Menschen im Bereich der Fortpflanzung neue Wahlmöglichkeiten
erschlossen hat, erschließt sie ihm auch im Umfeld des Todes neue Möglichkei-
ten der Selbstbestimmung. Die Selbstverständlichkeit des natürlichen Todes wird
abgelöst durch Wertungen – Wertungen des Patienten (wie und unter welchen
Umständen will er sterben?), der ärztlichen Profession (wann besteht eine Indi-
kation für lebenserhaltende Maßnahmen, wann nicht mehr?), der Angehörigen
(wollen sie den Kranken sterben lassen?) und nicht zuletzt der Gesellschaft ins-
gesamt (etwa bei Entscheidungen über die solidarische Finanzierung medizini-
scher Maßnahmen).
Die Folgen des medizinischen Fortschritts haben nicht nur das herkömmli-
che Bild des Todes verändert, sie haben auch den Begriff des Todes nicht unbe-
einflusst gelassen. Dadurch, dass es möglich geworden ist, die herkömmlich mit
dem Tod verknüpften Merkmale: Aufhören der Atmung, Aufhören des Kreislaufs,
Aufhören der Gehirntätigkeit zeitlich „auseinanderzudividieren“ und mithilfe
eines Beatmungsgeräts Atmung und Kreislauf trotz Ausfalls der Gehirntätigkeit
aufrechtzuerhalten, ist nicht mehr offensichtlich, wo genau die Grenze zwischen
Leben und Tod verläuft. Wir sind uns heute der Begriffe von Leben und Tod und
dem, was sie voneinander trennt, nicht mehr so sicher, wie es unsere Vorfah-
ren waren. Diese Grenze ist nicht mehr unabänderlich, weil von der Natur vor-
gegeben. Die Konsequenz daraus ist, dass es auch hier wieder einer – ausdrück-
lichen oder unausdrücklichen – Entscheidung darüber bedarf, mithilfe welcher
Merkmale die Grenze zwischen Leben und Tod gezogen werden soll. Darüber,
wie diese Entscheidung zu treffen ist, herrscht bisher, u. a. auf dem Hintergrund
abweichender kultureller Todesvorstellungen, keine Einigkeit. Die internatio-
nal weitgehend übereinstimmenden rechtlichen Definitionen des Todes werden
längst nicht von allen, für die sie formell gelten, geteilt.
Mit den Realitäten des Todes haben sich auch die Einstellungen zum Tod
verändert, teilweise infolge dieser Veränderungen, vor allem aber aus anderwei-
tigen Ursachen. Die wichtigste unter diesen ist der sich in nahezu allen Indus-
trieländern vollziehende Trend zur Verabschiedung mythischer und religiöser
Denkweisen und die zunehmende Dominanz säkularer, an einem naturalisti-
schen Weltbild orientierter Vorstellungen von Leben und Tod. Die furchterregen-