Table Of ContentGisela Brünner · Gabriele Graefen (Hrsg.)
Texte und Diskurse
Gisela Brünner · Gabriele Graefen (Hrsg.)
Texte und Diskurse
Methoden und Forschungsergebnisse
der Funktionalen Pragmatik
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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© 1994 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1994
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Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden
Gedruckt auf säurefreiem Papier
ISBN 978-3-531-12489-6 ISBN 978-3-663-11619-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11619-6
Inhalt
Gisela Brünner I Gabriefe Graefen
Einleitung:
Zur Konzeption der Funktionalen Pragmatik ............................. 7
I. Zur Methodik
Jochen Rehbein
Theorien, sprachwissenschaftlich betrachtet ......................... 25
Konrad Eh/ich
Funktionale Etymologie ....................................................... 68
II. Textanalysen
Christoph Sauer
Handlungsverkettung.
Zum "Spiegel der Woche" in der NS-Besatzungszeitung
"Deutsche Zeitung in den Niederlanden" ............................... 85
Rüdiger Weingarten
Zur Stilistik der Wissenschaftssprache:
Objektivitäts- und Handlungsstil ........................................ 11 5
Gabriefe Graefen
Wissenschaftstexte im Vergleich.
Deutsche Autoren auf Abwegen? ...................................... 136
Michael Becker-Mrotzek
Schreiben als Handlung.
Das Verfassen von Bedienungsanleitungen ......................... 158
111. Diskursanalysen
Reinhard Fiehler
Formen des Sprechens mit sich selbst ................................ 179
Katharina Meng I Susanne Schrabback
Interjektionen im Erwachsenen-Kind-Diskurs ....................... 1 99
6 Inhaltsverzeichnis
Richard Watts
Male vs female discourse strategies:
Tabling conversational topics ............................................ 218
Angelika Redder
"Bergungsunternehmen" -
Prozeduren des Malfeldes beim Erzählen ............................. 238
Ruth Wodak
Formen rassistischen Diskurses über Fremde ...................... 265
IV. Analysen institutioneller Kommunikation
Konrad Eh/ich I Jochen Rehbein
lnstitutionsanalyse. Prolegomena zur Untersuchung
von Kommunikation in Institutionen ................................... 287
Gisela Brünner
"Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen
kaufen?"
Interaktive Anforderungen und Selbstdarstellung
in Verkaufsgesprächen ..................................................... 328
Armin Koerfer
Interkulturelle Kommunikation vor Gericht.
Verständigungsprobleme beim fremdsprachlichen
Handeln in einer kommunikationsintensiven Institution ......... 351
Georg Friedrich
Zur Funktionalen Pragmatik der Kommunikation
im Unterricht sehgeschädigter Schüler ................................ 374
Ortrun Hanna I Martina Liedke
Textrezeption zum Zwecke der Reproduktion.
Der Handlungszusammenhang von Rezeption und Weiterver
arbeitung am Beispiel fremdsprachlicher Textwiedergaben .... 386
Tom Koole I Jan ten Thije
Der interkulturelle Diskurs von Teambesprechungen.
Zu einer Pragmatik der Mehrsprachigkeit ............................ 41 2
Die Autorinnen ................................................................ 435
Einleitung:
Zur Konzeption der Funktionalen Pragmatik
Giseta Brünner I Gabriefe Graefen
Der vorliegende Band soll einen Einblick in das Spektrum von Arbeiten
geben, die in letzter Zeit in der Funktionalen Pragmatik und in ihrem
Umkreis entstanden sind - einen Einblick also auch in das Spektrum der
thematischen Interessen, der Fragestellungen und der bisher gewonnenen
Ergebnisse. Zugleich verdeutlicht die Zusammenstellung, mit welchen
Kategorien und methodischen Verfahren gearbeitet wird und welche Arten
von Ergebnissen durch funktionalpragmatische Analysen zu gewinnen
sind. Es wird dabei ebenfalls deutlich werden, wo unbeantwortete Fragen
und Desiderate gesehen werden, welche Richtungen die theoretische und
empirische Arbeit im weiteren nehmen wird und welche Anwendungsper
spektiven bestehen.
Im folgenden werden Grundgedanken und zentrale Kategorien der
Funktionalen Pragmatik in notwendiger Kürze dargestellt. Wissenschaft
liche Traditionen, die die Funktionale Pragmatik aufgreift oder zu denen
sie sich kritisch verhält, werden angeführt, können aber ebenfalls nur
kurz charakterisiert werden.
Die Ausdrücke "Diskurs" und "Text" im Titel des Bandes benennen zwei
zentrale Begriffe der Funktionalen Pragmatik, zwischen denen systema
tisch zu unterscheiden ist. Die Vermittlung dieser Distinktion fällt aller
dings häufig nicht ganz leicht, weil innerhalb der Sprachwissenschaft, be
sonders der Textlinguistik, jahrzehntelang ein häufig widersprüchlicher
und insgesamt diffuser Gebrauch der beiden Ausdrücke verbreitet war
(vgl. Ehlich 1993, 18 ff.).
Unter Diskurs sind Einheiten und Formen der Rede, der Interaktion,
zu verstehen, die Teil des alltäglichen sprachlichen Handeins sein können,
die aber ebenso in einem institutionellen Bereich auftreten können. Münd
lichkeit ist zwar keine alle Formen diskursiven Handeins kennzeichnende
Eigenschaft (vgl. z.B. "computer conversations", cf. Murray 1989), ist
8 G. Brünner I G. Graefen
aber sehr wohl der charakteristische Fall. Systematisch gesehen gehört
zum Diskurs die Kopräsenz von Sprecher und Hörer ("face-to-face-Inter
aktion"); diese kann aber z.B. auf eine zeitliche Kopräsenz (am Telefon)
reduziert sein. Zugleich läßt sich auch die Gesamtheit der Interaktionen
zwischen Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (z.B. Arzt
Patient, Wissenschaftler, Politiker - Bürger) oder innerhalb eines ausge
wiesenen gesellschaftlichen Bereiches (z.B. der Lehr-Lern-Diskurs in
Schulen und anderen Ausbildungsinstitutionen) zusammenfassend als Dis
kurs bezeichnen. Die konkreten Formen und Abläufe von Diskursen sind
Gegenstand der Diskursanalyse.
Der Ausdruck Text mag unproblematisch erscheinen: Er gehört zum
klassischen Repertoire der Philologien wie auch der Literatur- und
Sprachwissenschaft. Von der Erarbeitung eines systematischen, alle Dis
ziplinen übergreifenden Textbegriffs kann dennoch nicht die Rede sein.
Im Zusammenhang einer Theorie des sprachlichen Handeins ist es eine
wesentliche Bestimmung des Textes, daß das sprachliche Handeln, das
sich im Text materialisiert, aus der übergreifenden gemeinsamen Sprech
situation ebenso herausgelöst ist wie das rezeptive Handeln des Lesers -
wobei die Gemeinsamkeit in einem systematischen, nicht historischen Sin
ne zu verstehen ist. Die sprachliche Handlung gewinnt im Text die Quali
tät von Wissen, das der Überlieferung dient und für eine spätere Verwen
dung gespeichert wird; die Sprechsituation läßt sich von daher als eine
"zerdehnte" Sprechsituation begreifen (vgl. Ehlich 1983, 32). Das Merk
mal der Schriftlichkeit, das im alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks als
konstitutiv, heute häufig als fast gleichbedeutend mit "Text" gilt, ist also
kein notwendiges Merkmal eines Textes. Die Tradition der mündlichen
Überlieferung von Wissen und kulturellen Gehalten in Form von Texten
existierte und existiert noch heute in mündlichen bzw. mündlich gepräg
ten Kulturen.
Vielen Leserinnen und Lesern sind die beiden einzelnen Bestandteile des
Namens "Funktionale Pragmatik" vertraut. Pragmatik ist allerdings ein
Begriff, der in seiner Geschichte einige Veränderungen erfahren hat (für
einen Überblick vgl. Rehbein 1988). Charles Morris' Definition von
Pragmatik als "Wissenschaft von der Beziehung der Zeichen zu ihren
Interpreten" (193811972, 52) ist häufig zitiert worden. In den siebziger
Zur Konzeption der Funktionalen Pragmatik 9
Jahren wurde an dieses Verständnis in dem Sinne angeknüpft, daß es der
Pragmatik um die konkrete Verwendung von Sprache, auch um die
Bedingungen der Verwendung gehen müsse. Eine Loslösung von der Zei
chentheorie geschah aber nur partiell, größtenteils um den Preis einer er
neuten Reduktion des Gegenstandsbereiches.
Aufgrund der Abbrüche und Widersprüche in der Entwicklung der
Sprachwissenschaft generell ist es nicht erstaunlich, daß sich bis heute
kein einheitliches Erscheinungsbild der Pragmatik feststellen läßt. Das
Problem ist weniger, daß es unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte und
-richtungen gibt; Kontroversen treten da auf, wo Pragmatik als eine wei
tere, zu den traditionellen Bereichen der Sprachwissenschaft hinzutretende
"Dimension" verstanden wird. Die Frage nach den Funktionen sprach
licher Einheiten bzw. des sprachlichen Handeins wird zwar häufig für
zentral erklärt, sie wird aber kaum systematisch und analytisch auf die
Arten, Strukturen und Elemente der sprachlichen Handlungen bezogen,
sondern bleibt oft ein äußerlicher Zusatz.
Auch die Verwendung von funktional zur näheren Kennzeichnung einer
linguistischen Teildisziplin tritt hier nicht zum erstenmal auf: Neben der
"Funktionalen Grammatik", etwa bei Admoni (z.B. 1966) oder als Theo
rie der "Funktionalen Satzperspektive", kennt man die Prager Schule auch
als "Funktionale Linguistik"; die Namen M.A.K. Halliday (z.B. 1985)
und Sirnon S. Dik (z.B. 1978/1981) stehen zudem für eine britische und
eine niederländische Variante von "Functional Grammar".
Man hat es hier mit Arbeitsrichtungen zu tun, die nicht nur im Falle
der Prager gern mit der leicht abwertenden Metapher "Schule" bedacht
werden. Ob auch im Falle der "Funktionalen Pragmatik" von einer Schule
gesprochen werden kann, sei dahingestellt. Wir verstehen darunter eine
spezifische Analyseweise, der eine handlungstheoretische Auffassung von
Sprache zugrunde liegt. Was die in diesem Band repräsentierten Autorin
nen und Autoren (und darüber hinaus einen größeren Kreis von Sprach
wissenschaftlerlnnen) eint, ist kein vorgegebener Kanon an Inhalten und
Methoden. Es ist vielmehr das gemeinsame Interesse an einer grundlegen
den Erneuerung sprachwissenschaftlicher Vorgehensweisen und eine Kri
tik an einer gängigen Wissenschaftspraxis, die zu folgenreichen Verkür
zungen und Verzerrungen in der Wahrnehmung und Analyse ihres Gegen-
10 G. Brünner I G. Graefen
standes geführt hat. Die einzelnen Aufsätze sind als Beiträge zu diesem
gemeinsamen Anliegen zu verstehen.
Zunächst steht die Funktionale Pragmatik in Opposition zur strukturali
stisch geprägten Linguistik, der es um die Beschreibung des sprachlichen
Systems geht. Diese Opposition schließt keineswegs aus, daß Resultate
strukturalistisch orientierter Untersuchungen aufgegriffen und weiterge
führt werden. Die Begrenztheit der Saussuresehen Fragestellung wird je
doch unter verschiedenen Aspekten deutlich. Eine Reduktion liegt darin,
daß mit der Sprache ein Mittel der Kommunikation abgetrennt und dabei
nonverbale, paralinguistische und andere Formen der Kommunikation ig
noriert werden. Darüber hinaus -und dies ist noch gravierender - löst die
an Saussure orientierte Linguistik die Sprache bzw. das Sprechen auch aus
den ernpraktischen Bezügen des sprachlichen Handeins heraus, mit der
Konsequenz verengter Fragestellungen und vorschneller Verallgemeine
rungen (vgl. Brünner 1987). Der wichtigste und folgenreichste Einwand
ist, daß die gesellschaftlichen Zusammenhänge ignoriert werden, in denen
die kommunikativen Formen und die sprachlichen Mittel für spezifische -
wiederum gesellschaftlich bestimmte - Zwecke entwickelt wurden und
weiterentwickelt werden. Diese Geformtheit sprachlicher Mittel wird auch
in neuerensprachwissenschaftlichen Untersuchungen oft übersehen.
Die Kategorie des Zwecks fällt nicht mit der des (individuellen) Ziels
zusammen. Sie ist eine für die Funktionale Pragmatik wesentliche Kate
gorie. Zwecke stellen das zentrale strukturierende Element sprachlicher
Handlungsprozesse dar. So prägen gesellschaftlich entwickelte Zwecke
besonders die komplexeren Formen des sprachlichen Handeins (z.B. Dis
kursarten und sprachliche Handlungsmuster) sowie die lexikalischen Mit
tel. Aber auch hinsichtlich der phonologischen, morphologischen und
syntaktischen Mittel, die eine Sprache ihren Sprechern zur Verfügung
stellt, läßt sich eine Zweckbestimmtheit nachweisen, die Ehlich (1982) als
"sprachinterne" von den "sprachexternen Zwecken" abgrenzt (vgl. auch
Ehlich in diesem Band). "Sprachintern" bezieht sich auf die innere Orga
nisation der sprachlichen Mittel, auf den Aufbau und Formenbestand ei
ner Sprache. Die Struktur, die sich hier ermitteln läßt, ist nicht selbst
zweckhaft, sondern Resultat der Funktionen, die die jeweiligen Einheiten
im und für das sprachliche Handeln haben. Daran zeigt sich eine allge-