Table Of ContentLars Friedrich
Karin Harrasser
Céline Kaiser Hrsg.
Szenographien
des Subjekts
Szenographien des Subjekts
Lars Friedrich · Karin Harrasser
Céline Kaiser
(Hrsg.)
Szenographien
des Subjekts
Herausgeber
Lars Friedrich Céline Kaiser
Frankfurt am Main, Deutschland Ottersberg, Deutschland
Karin Harrasser
Linz, Österreich
Der Druck dieses Buches wurde aus Mitteln der DFG (Nachwuchswissenschaftlernetzwerk
„Szenographien des Subjekts“, KA 3820/1-1) finanziert.
ISBN 978-3-658-19207-5 ISBN 978-3-658-19208-2 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19208-2
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Lars Friedrich und Karin Harrasser
Gründungsszenen
Das Zelt des Aias . Zum Wechsel der Szene zwischen Sophokles
und Heiner Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Lars Friedrich
Das Drama der Politik . Antagonismus und Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Leander Scholz
Therapieszenen
Horizontale Szenographien . Das Krankenbett als Schauplatz
psychiatrischer Subjektivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Monika Ankele
Zur Magie der Szene . Martha Muchows Szenographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Katja Rothe
Die fiktive Bushaltestelle . Oder: Szenographien dementieller
Subjektivationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Céline Kaiser
V
VI Inhalt
Transgressionsszenen
Subjektivation im Gegenlicht . Szenen der Evidenzproduktion,
Ellis Island 1908 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Sarah Sander
Das fehlende Bild . Die filmische Szene und die Abwesenheit des
autobiographischen Subjekts bei Bewegtbildmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Robin Curtis
Szenen der schwindenden Souveränität . Alternative
Männlichkeitsbilder in der Performancefotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Adam Czirak
Theorieszenen
Subjektivierung als Intussuszeption. Mit Adorno und Chaplin
auf einer Party in Malibu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Karin Harrasser
Dividuationen – des Films, des menschlichen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Michaela Ott
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Einleitung
Lars Friedrich und Karin Harrasser
Um in eine „Szenographie der Subjektivität“ und damit in die beiden zentralen
Begriffe einzuführen, die in den Beiträgen dieses Bandes zusammengedacht werden,
scheint es sinnvoll, zunächst bei der Szenographie anstatt bei dem überdeterminier-
ten Terminus der Subjektivität anzusetzen . Was sich wie ein kühner Neologismus
anhört, ist im Griechischen nichts anderes als der Fachbegriff für Kulissenmalerei .
Der Begriff der Szenographie ist zum ersten Mal in einem Text belegt, der über 200
Jahre nach der Entstehung des griechischen Theaters entstanden ist und der durch
seinen Fokus auf einen dramatischen Handlungsbegriff die Aufführungsbedin-
gungen und -praktiken der griechischen Tragödie eher marginalisiert als betont
hat . In dem Teil seiner Poetik, der sich der Entstehungsgeschichte der Tragödie
widmet, vermerkt Aristoteles, dass Sophokles „den dritten Schauspieler und die
Bühnenbilder [skenographia] hinzugefügt“ habe (Aristoteles 1982, 1449a) . Dieser
knappen Erwähnung ist kaum zu entnehmen, dass die Einführung szenographi-
scher Kulissenmalerei mit einem fundamentalen Umbau des griechischen Tragö-
dientheaters einhergeht (vgl . Melchinger 1990 [1974], 25–36) . Denn das Theater am
Akropolishang, in dem Aischylos seine ersten Stücke aufgeführt hat, kennt noch
kein permanentes Kulissengebäude, das mit Bemalungen hätte versehen werden
können . Diese alte Bühne wurde vielmehr dominiert von Felsformationen (pagos)
auf der Ostseite, auf denen aber nur provisorische Bauten, wie bewegliche Zelte,
aufgeschlagen werden konnten .
Die Institutionalisierung eines festen Kulissengebäudes und damit die Mög-
lichkeit szenographischer Dekorationsmalerei ist erst in dem Moment gegeben,
in dem das gesamte Theater nach symmetrischen Grundsätzen und damit aus der
Beobachterperspektive des Zuschauers neu organisiert wird . Die Verlegung der
orchestra nach Norden geht einher mit der Errichtung eines Kulissengebäudes in
der Hintergrundmitte, so dass das ganze Theater gemäß einer zentralen Sichtachse
des bis zum Meer reichenden Zuschauerblicks ausgerichtet ist . Deswegen eignet
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den szenographischen Bühnenbildern nicht nur eine dekorative Funktion; die
Bemalungen der Gebäude folgen vielmehr den Gesetzen einer perspektivischen
Optik und stehen derart im Dienst einer einheitlichen raumplastischen Wirkung,
an der das gesamte Theater nach seinem Umbau orientiert ist (vgl . Melchinger 1990
[1974], S . 162–164) . Mit der spezifischen Funktion theatraler Szenographie steht
daher nicht weniger auf dem Spiel als die grundsätzliche Frage, ob das Theater der
griechischen Tragödie als eine vom Zuschauerblick beherrschte Raumorganisati-
on oder als ein Naturtheater zu verstehen ist, in dem der Zuschauer elementaren
Gewalten ausgesetzt ist und gerade durch die Ausrichtung des Theaters auf seinen
Blick sein Subjektstatus dezentriert wird . Als griechischer terminus technicus für
die Wissenschaft der Perspektive impliziert die szenographische Kunst der Blick-
und Raumorganisation also von Anfang an die Frage der Subjektkonstitution .
Eine der wenigen Stellen, die auf die griechische Kunst szenographischer Büh-
nenmalerei Bezug nehmen und zugleich ihren ambivalenten Perspektivbegriff ins
Spiel bringen, findet sich im Architektur-Lehrbuch des römischen Schriftstellers
Vitruv (ca . 80–15 v . Chr .):
Zuerst nämlich schuf Agatharchos in Athen, als Aeschylos eine Tragödie aufführte,
eine Dekoration [scaenam] und hinterließ darüber eine Schrift . Von ihm angeregt,
schrieben Demokrit und Anaxagoras über den gleichen Stoff, wie dem Blick der
Augen und der geradlinigen Ausdehnung der Strahlen, wenn eine bestimmte Stelle
als Mittelpunkt festgelegt ist, nach einem Naturgesetz Linien entsprechen müssen,
damit von der undeutlichen Sache her deutliche Bilder den Anblick von Gebäuden
bei den Bühnenmalereien [scaenarum picturis] wiedergeben und von dem, was auf
senkrechten und ebenen Oberflächen gemalt ist, das eine zurücktretend, anderes
hervortretend zu sein scheint . (Vitruv 1987, VII, 11 [praef .], S . 309)
Schon für die Aufführung einer Tragödie des Aischylos kamen nach diesem Zeug-
nis szenographische Bühnenbilder zum Einsatz, die durch Bemalung entfernter
Fassaden Effekte der Dreidimensionalität erzeugen konnten und derart Gesetze
perspektivischer Illusion zur Anwendung brachten . Über die Baugeschichte des
griechischen Theaters hinaus, wirft diese Vitruv-Stelle aber die Frage auf, ob die
Verweise auf die optischen Gesetze der Sehstrahlen wie auf den „Mittelpunkt“
bereits eine einheitliche Raumkonstruktion durch den Augenpunkt des Betrach-
ters implizieren und daher die erst in der Renaissance formulierte Geometrie der
Zentralperspektive schon für die Antike vorausgesetzt werden kann (vgl . Panofsky
1974, S . 106, S . 138f .) . Diese Ambivalenz des Perspektivbegriffs zwischen Optik und
Geometrie hat die europäische Theaterbühne und die Geschichte ihrer Architektur
tief geprägt . Wenn im Barock der Hintergrundprospekt der Bühne und damit die
gesamte Szene auf einen einheitlichen Fluchtpunkt entworfen wird (Sabbatini 1926
Einleitung 3
[1638], S . 46f .), so dient diese Anwendung zentralperspektivischer Technik nicht der
Konstruktion einer autonomen Ordnung, sondern dem Effekt eines Illusionsthea-
ters, das den Zuschauer/die Zuschauerin in die Tiefe des Raumes zieht, die Grenze
zwischen Schein und Wirklichkeit dekonturiert und dadurch die Sinne mit ihrem
Anspruch auf Wirklichkeitserfassung fortwährend derealisiert (Alewyn 1985, S . 79) .
Der mit der Perspektive eröffnete Spielraum zwischen Orientierungsgewinn und
Orientierungsverlust zeitigt dabei Rückwirkungen auf die ambivalente Art und
Weise, wie diese Technik bewertet und historisch situiert wird . So rekonstruiert
Charles Perrault innerhalb der Auseinandersetzung um die sogenannte Querelle
des Anciens et des Modernes die Geschichte der Malerei als Fortschritt ihrer Illusi-
onsmittel und reklamiert die Technik der Perspektive entsprechend als irreduzible
Errungenschaft der Moderne (vgl . Perrault 1964 [1688], I S . 209; I S . 219); doch
einmal zum Gegenstand der Querelle gemacht, bleibt fraglich, ob diese Verein-
nahmung der Perspektive als Modernitätsindikator nicht ihrerseits eine hybride
Illusion ist . Noch Lessing unterscheidet bezüglich dieses Streits zwischen einem
allgemeinen Perspektivbegriff, der für jede, also auch für die griechische Malerei
vorauszusetzen ist, und einer spezifischen Technik der Perspektive, die erst Künstler
der Neuzeit entwickelt haben . Besteht der allgemeine Begriff darin, „Gegenstände
auf einer Fläche so vorzustellen, wie sie sich in einem gewissen Abstande unserm
Auge zeigen“, so kommt es der modernen Perspektivtechnik darauf an, „mehrere
Gegenstände mit einem Teile des Raums, in welchem sie sich befinden, so vorzu-
stellen, wie diese Gegenstände, auf verschiedne Plane des Raums verstreuet, mit
samt dem Raume, dem Auge aus einem und eben demselben Standorte erscheinen
würden“ (Lessing 1990, S . 380f .) . Allein die Tatsache, dass ein einzelner Gegenstand
in der Ferne kleiner erscheint als in der Nähe, macht ein Gemälde also noch nicht
perspektivisch; perspektivisch im engeren Sinne ist ein Gemälde erst dann, wenn
die Koordinaten aller in ihm möglichen Gegenstände durch ihre Ausrichtung auf
einen einheitlichen Gesichtspunkt des Betrachters ausgerichtet und festgelegt sind .
Schwerlich anwendbar ist dieser Perspektivbegriff auf die griechische Szenographie
nicht deswegen, weil der Effekt „hervor-“ und „zurücktretender“ Gegenstände
nicht mit der Gesamtperspektive des Theaters verglichen werden kann, sondern
weil dieses Naturtheater nicht im geometrisch konstruierten, unendlichen und
homogenen Raum eines Zuschauerauges aufgeht .
Dieser Unterschied zwischen antiker und moderner Perspektive schwindet mit
der in der Romantik betriebenen Idealisierung griechischer Kunst . Insofern die
Griechen die Gesetze des „natürlichen Sehens“ praktisch umsetzten, ohne sich
um deren theoretische Begründung zu kümmern, bezeugt Lessings Vorbehalt
gegenüber einem antiken Begriff der Zentralperspektive für August Wilhelm
Schlegel eine völlige Verkennung des griechischen Genius, was zur Folge hat, dass
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sich in seiner Darstellung griechischer Bühnenmalerei antiker und moderner
Perspektivbegriff beständig miteinander vermischen . Deutlich wird dies, wenn
Schlegel angesichts mangelnder Quellen selbst in die Rolle eines Szenographen
schlüpft und ein Kulissenbild des griechischen Theaters zu entwerfen sucht: In-
dem er sich in die Mitte des Zuschauerraums versetzt, seinen Blick mit der Front
des Bühnenhauses einen rechten Winkel bilden lässt und derart den Augenpunkt
am Oberteil der Mitteltüre ausrichtet, konstruiert Schlegels Szenograph zunächst
nach streng geometrischen Grundsätzen einen zentralperspektivischen Raum aus
einem einheitlichen Gesichtspunkt (vgl . Schlegel 1967, S . 210f .) . Doch indem sich
die Arbeit des Szenographen andererseits darauf beschränkt, durch Berechnung
des Lichteinfalls auf seinen Kulissenbildern Schatten zu erzeugen und dadurch den
Effekt räumlicher Illusion zu steigern, ist er nicht so sehr an den Potentialen eines
nach geometrischen Gesetzen konstruierten Systemraumes als an den Möglich-
keiten optischer Täuschungen interessiert . Der moderne Blick auf die griechische
Kunst theatraler Szenographie mündet in einem Bild, in dem die Modernität dieses
Blickes wieder ausgestrichen ist .
Während Schlegels Verständnis des griechischen Theaters wesentlich am Ideal
einer „szenischen Plastik“ (Schlegel 1967, S . 58) der Darsteller und Darstellerinnen
orientiert ist und entsprechend das Problem szenographischer Perspektivmalerei
in seiner monumentalen Geschichte des abendländischen Dramas nur im Anhang
abgehandelt wird, erschließt sein eigener Rekonstruktionsversuch weniger das
perspektivische Wissen der antiken Kulissenmaler als die Tatsache, dass für die
Herausbildung neuzeitlicher Subjektivitätsmodelle die Technik der Zentralper-
spektive konstitutiv ist . Dies gilt paradigmatisch für René Descartes’ Discours de
la Méthode und damit einem Gründungstext der neuzeitlichen Subjektivitätsthe-
orie . Indem die radikale Infragestellung aller traditionellen Wissensbestände wie
Wissenszugänge nur den Zweifler selbst, der Zweifel an allen optischen Sinnes-
eindrücken nur den Schein des Sehens übrig lässt, fällt die Konzeption des carte-
sischen Subjekts zusammen mit der Konstruktion eines zentralperspektivischen
Augenpunkts, von dem aus sich eine Welt nach einheitlichen Ordnungskriterien
erst konstruieren lassen soll (vgl . Descartes 2013, 38f .; dazu Boehm 1969, S . 175) .
Doch wenn einzig die Techniken optischer Illusion nicht dem Verdacht ausgesetzt
sind, bloße Täuschungen zu sein, so bleibt das cartesische cogito auf eine Weise
von den szenographischen Verfahren seiner Selbstexponierung abhängig, die dem
Anspruch seiner autonomen Selbstgewissheit entgegenarbeitet . Mit der fingierten
Situation, sich hinter seinem Selbstportrait verborgen zu haben, um sich von dort
aus zu unterrichten, was die Betrachter des Bildes über ihn zu sagen haben (vgl .
Descartes 2013, S . 4), etabliert Descartes eine für seinen Selbstaneignungsdiskurs
verbindliche Modellszene, die das Subjekt durch seine Einsicht in Techniken op-