Table Of ContentBojan Godina Hrsg.
Systemisch finale
Intelligenz
Theoretisches Übergangskonzept
auf dem Weg von der Intelligenz
zur Weisheit
Systemisch finale Intelligenz
Bojan Godina
(Hrsg.)
Systemisch finale
Intelligenz
Theoretisches Übergangskonzept
auf dem Weg von der Intelligenz
zur Weisheit
Herausgeber
Bojan Godina
Friedensau, Deutschland
ISBN 978-3-658-20580-5 ISBN 978-3-658-20581-2 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20581-2
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Inhaltsverzeichnis
1 Einführung ..................................................................................... 7
2 Systemisch finale Intelligenz als Übergangskonzept
zwischen Intelligenz und Weisheit .............................................. 17
3 Probleme intelligent lösen ........................................................... 75
4 Paradigmenwechsel in der Erforschung der Gesundheit und
Krankheitsentstehung .................................................................. 87
5 Leistung in der Schule – Mythos und Wirklichkeit .................. 103
6 Sozial-kommunikatives und persönliches Lernen im
digitalen Zeitalter aus systemisch-finaler Sicht ......................... 123
7 Individuelle Kompetenzentwicklung bei Fachkräften der
Frühpädagogik ........................................................................... 141
8 Interdisziplinär-systemischer Zugang im Sport – Das
Verständnis biopsychosozialer Systeme und
interdisziplinärer Zielförderung ................................................ 157
9 Hans Jonas' Verantwortungsethik und die Komplexität
des 21. Jahrhunderts .................................................................. 167
10 Intelligenz, Denkstufen und Weisheit ....................................... 181
11 Kulturübergreifende Unternehmensveräußerung – Fallstudie
zur systemisch-finalen Entscheidungstheorie ........................... 197
12 Methoden und Ergebnisse der Heidelberger systemisch-
multikausalen Forschung ........................................................... 211
13 Ausblick .................................................................................... 249
14 Autorenverzeichnis .................................................................... 251
1 Einführung
Bojan Godina, Psychologische Beratung Friedensau
Spätestens nach der weltweiten Bankenkrise 2008, der Britisch-Petrol-
Ölkatastrophe 2010, dem Reaktorunfall 2011 in Fukushima, dem
Volkswagen-Abgasskandal 2015 haben sich Sichtweisen und Perspek-
tiven verändert. Selbst das bestehende psychologische Intelligenzkon-
zept mit seiner linear einfach überschaubaren Struktur muss neu hin-
terfragt werden.
Hinter den genannten Krisen und Katastrophen stehen Konzerne,
deren Denkleistungen und Erfindungen beachtlich sind. Britisch Petrol
hat von der Firma Transocean die Ölbohrplattform Deepwater Hori-
zon geleast, diese hatte kurz zuvor den Ölbohrweltrekord aufgestellt.
Volkswagen ließ eine derart intelligente Software entwickeln, mit der
zwischen 2008 und 2014 weltweit die Industrie, die Verbraucher und
die Abgasprüfstellen erfolgreich und ahnungslos getäuscht werden
konnten; von den verbalen Verschleierungsbegründungen ganz zu
schweigen.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese intelligenten Super-
Erfindungen auf Dauer gut für die Gesellschaft sind? Lösen sie unsere
Probleme nachhaltig, verbessern sie unsere Welt oder stürzen sie uns
in noch größere Probleme und Krisen? Die Antwort liegt für jeden
vernünftigen Menschen auf der Hand. Sollten solche und ähnliche
Leistungen überhaupt noch als intelligent bewertet werden? Oder pro-
vokativer gefragt: Wie intelligent oder verantwortungsbewusst ist un-
sere Sicht auf Intelligenz? Ist es noch zeitgemäß, sich ein Problemlö-
sekonzept zu leisten, dass schnelle, aber damit nur partielle, lineare,
einzielige, monokausale und kurzfristig greifende Leistungen als das
Idealmaß der Denkleistung definiert werden, obwohl wir global gese-
hen zunehmend an negativen Langzeitfolgen so gelagerter intelligen-
ter Denkleistungen leiden?
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
B. Godina (Hrsg.), Systemisch finale Intelligenz,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20581-2_1
8 Bojan Godina
In der letzten Bankenkrise konnten wir sehen, wie schnell das globale
Finanzsystem in eine ernsthafte Krise stürzen kann. Im Skandal der
deutschen Autohersteller wird man durchaus präzise die Milliarden-
zahlungen an USA, europäische und deutsche Behörden oder die Ge-
samtkosten für Rückrufe, Nachbesserungen an den manipulierten
Dieselfahrzeugen berechnen können. Viel schwieriger wird es abzu-
schätzen sein, wie sehr der Abgasskandal oder das Kartell der gehei-
men Absprachen der fünf großen Autohersteller nicht nur VW, Audi,
Porsche, Daimler und BMW, sondern der ganzen deutschen Wirt-
schaft und dem Gütesiegel „Made in Germany― letztendlich schaden
wird.
Es ist kein leichtes Unterfangen, die Vermehrung solcher kurzfris-
tig erfolgreicher und langfristig zerstörender intelligenter Leistungen
zu identifizieren, geschweige denn sie durch bessere Einsicht zu ver-
meiden. Es wird nicht reichen, im Nachhinein darauf massiv mit
Strafmaßnahmen zu reagieren, sondern es wird notwendig sein, mit
zahlreichen Ansätzen die prinzipielle Bewertung solcher intelligenter
Leistungen und ihre kurzfristige Gewinnmaximierung neu zu struktu-
rieren. Der vorliegende Ansatz der Systemisch finalen Intelligenz
(SFI) seitens der Denkpsychologie und der pädagogischen Anwen-
dung soll helfen, das Problem frühzeitig zu erfassen.
Die wichtigste Frage wird dabei sein: Wie können wir diese Er-
findungen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit bewerten und attribuieren?
Wie können wir die „intelligente― kurzfristige Gewinnmaximierung
von VW oder BP als intelligent beschreiben, wenn man den dadurch
später entstandenen langfristigen Schaden aufrechnet?
Einseitig und kurzfristig intelligente Leistungen dürften in unserer
vernetzten Welt nicht mehr wie vor 100 Jahren das Attribut „intelli-
gent― erhalten, wenn wir unsere globalisierte Welt und ihre heutigen
Probleme betrachten. Im Fall von BP hätte man intelligenterweise
systemische und finale Fragen stellen müssen: Wie steht es mit den
Fragen der Ethik gegenüber der Bevölkerung und Umwelt in Florida
und im Golf von Mexiko, die langfristig Schäden nach einer potenziell
möglichen Ölkatastrophe tragen werden? Diese Fragen und Verglei-
Einführung 9
che machen deutlich, dass der kurzfristig intelligente Gewinn nicht im
Verhältnis zu den systemisch langfristigen Verlusten stehen kann.
Was noch schwieriger zu sein scheint, ist die wissenschaftstheore-
tische Einsicht, dass es an der Zeit wäre, schon im Kern – sowohl für
unsere Denkpsychologie als auch unser Bildungssystem – zeitgemäße-
re Maßeinheiten für außerordentliche Denkleistungen zu entwerfen,
als das bisherige Intelligenzkonzept aufweist. Zweifelsohne ist unser
bisheriges Intelligenzkonzept dank seiner hundertjährigen Forschung
so ausgereift und valide wie nie zuvor. Die Kritik und Fragen stellen
sich nicht bezüglich der Qualität des bestehenden Intelligenzkonzep-
tes, sondern in ihrer inhaltlichen Problemdefinition.
Die Welt und ihre Probleme haben sich in den letzten 100 Jahren
deutlich verändert, weshalb es auch notwendig geworden ist, das In-
telligenzkonzept zu erweitern. Die gesellschaftlichen Herausforderun-
gen und globalen Problemfelder wie zum Beispiel Klimaveränderung,
Energiefragen, politischer Radikalismus und Flüchtlingsproblematik
sind mit einfachen linearen bzw. monodisziplinären Ansätzen nicht
einmal erfassbar, geschweige denn lösbar. Aber sollte das Umdenken
nicht im Kern des Denkens beginnen?
Ja sicher, das Umdenken sollte die Disziplinen, Bereiche und Ak-
teure integrieren, die Denkentwicklungen von Beginn an prägen. Pä-
dagogen, Psychologen, Eltern und vor allem Kinder benötigen heute
ein theoretisches Grundkonzept, das schon im Vorschulalter damit
beginnt, komplexere Problemdefinitionen zu liefern und sie mit sys-
temischen und auch ethischen Langzeitfolgen zu verbinden. In diesem
Buch wird das theoretische Grundkonzept dazu entwickelt und in un-
terschiedlichen Anwendungsbereichen diskutiert.
Wissenschaftstheoretisch wurde ich für diese Problematik und Al-
ternativen schon in meiner Forschungszeit 2003 bis 2007 an der Uni-
versität Heidelberg sensibilisiert. In meiner Forschung zu systemisch
komplexen medial-marketingstrategischen Manipulationsmethoden
habe ich die neuere Forschungsrichtung zum komplexen problemlö-
senden Denken von Dietrich Dörner und Joachim Funke kennenge-
lernt. Zur gleichen Zeit erhielt ich erste Einblicke in die bahnbrechen-
den Forschungen der Heidelberger prospektiven Gesundheitsstudien
10 Bojan Godina
von Grossarth-Maticek und seiner Mitarbeiter, die seit einigen Jahr-
zehnten versuchen, in die Gesundheitsforschung systemisch-
komplexes Problemlösen einzubeziehen, um langfristige Prozesse
erfassen und steuern zu können. Zunehmend verdichtete sich die
Überzeugung, dass sowohl die bestehenden theoretischen Intelligenz-
konzepte als auch viele Forschungsansätze die Realität heutiger komp-
lexer Problemlagen kaum erfassen können.
Auf der anderen Seite ist in der Denkpsychologie in den letzten
25 Jahren langsam, aber stetig eine alternative Entwicklung in Rich-
tung der Weisheitsforschung zu beobachten, die menschliche Denk-
leistungen durch andere inhaltliche Kriterien kategorisiert. Ähnlich
wie es schon seit Jahrtausenden in den unterschiedlichen Weisheits-
traditionen der Fall war, liegt der Fokus der psychologischen Weis-
heitsforschung vor allem auf dem großen Ganzen (System), der Ba-
lance zwischen den grundlegenden Entitäten, den Langzeitfolgen (Fi-
nalität) menschlichen Handelns auf seine Existenz, Ethik, das persön-
liche Glück und gute Leben des Einzelnen und der Gesellschaft.
So lobenswert die neueren Entwicklungen in der psychologischen
Weisheitsforschung diesbezüglich sind, erscheinen sie mir theoretisch
dennoch etwas abgelöst von der vorherrschenden Intelligenzfor-
schung, die auch ihre historische und inhaltliche Relevanz besitzt. Mit
dem Konzept der Systemisch finalen Intelligenz soll – in einer auf das
wesentlichste konzentrierten Art – die Kluft zwischen dem vorherr-
schenden Intelligenzkonzept und der Weisheitsforschung ein Stück
geschlossen werden. Dieses Sammelwerk soll eine noch fehlende his-
torische, wissenschaftstheoretische und anwendungsorientierte Brücke
zwischen den beiden Denkforschungsrichtungen bauen, um letztend-
lich den großen gesellschaftlichen Herausforderungen besser begeg-
nen zu können. Meine Hoffnung darüber hinaus ist, dass es als Nebe-
neffekt auch Innovation, Kreativität und neue Visionen diesbezüglich
bei den Lesern fördern wird.
Die hierbei mitwirkenden Autoren kommen sowohl aus der psy-
chologischen Denkforschung als auch aus unterschiedlichen wissen-
schaftlichen Disziplinen und Anwendungsfeldern, wie Gesundheit,
Bildung, Medien, Wirtschaft, Sport, Philosophie und Religion. Die
Einführung 11
Kennzeichen ihrer Forschungen und praktischen Anwendungen sind
in diesem Sinn systemisch-final, werteorientiert und transdisziplinär.
Anhand verschiedenster Disziplinen und Anwendungsfelder soll
verdeutlicht werden, dass in unserer Welt systemisch-finales Denken
als eine Mindestanforderung für intelligentes, verantwortliches und
auch weisheitliches Denken definiert werden kann.
In meinem einführenden Grundsatzartikel versuche ich nach ei-
nem kurzen historischen Einblick in die Entstehungszeit der Intelli-
genztests die gegenwärtigen globalen Problemfelder aufzuzeigen, die
sich im Gegensatz zur Industrialisierungsphase deutlich gewandelt
haben und von daher auch veränderte Intelligenzkonzepte benötigen.
Bestehende Kritikpunkte und neuere Alternativkonzepte werden auf-
gegriffen, um die Systemisch finale Intelligenz als notwendiges Bin-
deglied zwischen dem bestehenden Intelligenzkonzept und der psy-
chologischen Weisheitsforschung zu positionieren. Neben den syste-
misch-finalen Aspekten wird vor allem auf die ethischen Problemas-
pekte hingewiesen, die in der Gegenwart zunehmend Bedeutung ge-
winnen. Ein an den Menschenrechten orientiertes minimalistisches,
wertehierarchisches Modell wird dabei in die Diskussion eingeführt.
Der Heidelberger Denkforscher Joachim Funke weist in seinem
Beitrag auf die hohe Komplexität der meisten realen Probleme hin.
Problemlösendes Denken wird in seinem Ansatz aus den Struktur-
merkmalen komplexer Probleme entwickelt. Es wird dabei deutlich,
dass Nichtlinearität, Vielzieligkeit und die damit verbundene schlechte
Voraussagbarkeit einfache linear-strukturierte Denkleistungen über-
fordert. Die Vielzieligkeit stellt dabei eine Hauptproblematik dar, da
sie zu Wertekonflikten beiträgt. Anhand der Heidelberger richtung-
sweisenden Forschungen zum Klimawandel und PISA wird ausge-
führt, dass man problemlösendes Denken lernen und fördern kann. Ein
Plädoyer für weisheits- und werteorientierte Intelligenzforschung und
ein optimistischer Ausblick runden den Artikel ab.
Am Beispiel der Heidelberger prospektiven epidemiologischen
Gesundheitsforschung versuchen Jun Nagano und Bojan Godina zu
verdeutlichen, wie Gesundheit und Krankheit systemisch-final erfasst
und gesteuert werden können. Diese Forschung integriert somatische