Table Of ContentSandra Maria Geschke (Hrsg.)
Straße als kultureller Aktionsraum
Sandra Maria Geschke (Hrsg.)
Straße als
kultureller
Aktionsraum
Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle
zwischen Theorie und Praxis
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1.Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH,Wiesbaden 2009
Lektorat:Katrin Emmerich / Sabine Schöller
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Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16212-6
Inhaltsverzeichnis
Renate Girmes
Vorwort.................................................................................................................9
Sandra Maria Geschke
Einleitung ...........................................................................................................11
I. Den Straßenraum sinnlich erschließen
Maria Elisabeth Hiebsch, Fritz Schlüter und Judith Willkomm
Sensing the Street
Eine sinnliche Ethnogarphie der Großstadt .......................................................31
II. Die Straße als Bühne kommunikativ bespielen
Sebastian Schröer
Die HipHop-Szene als ‚Kultur der Straße’? ......................................................61
Kai Jakob
Street Art
Kreativer Aufstand einer Zeichenkultur im urbanen Zwischenraum .................73
Kathrin Fahlenbrach
Protest-Räume – Medien-Räume
Zur rituellen Topologie der Straße als Protest-Raum ........................................98
David Sittler
Die Straße als politische Arena und Medium der Masse
St. Petersburg 1870-1917 .................................................................................111
6 Inhaltsverzeichnis
III. Interventionen in straßenräumliche Kreisläufe medial repräsentieren
Bastian Lange
Die Straße als ‚dritter Ort’
Performanzen und Publics in der Berliner Kreativwirtschaft
als Ausdruck eines flexiblen und situativen Urbanismus .................................143
Hans-Jürgen Schulke
Sport findet Stadt – Verdrängung und Vereinnahmung eines Kulturguts ........163
Silke Roesler
Street. Sex. City.
Zur identitätsstiftenden Funktion der Straße
in der TV-Serie ‚Sex and the City’ ..................................................................172
Sandra Maria Geschke
Zwischen Stillstand und Aufbruch
Medial gestützte Überlegungen zum produktiven Umgang
mit dem Warten als straßenräumliche Aktionsform ........................................183
Thomas Düllo
Schwellenzauber und Aufmerksamkeitsstrategie
Das Versprechen der Straße .............................................................................200
Matthias Keidel
Asphalt-Denker
Flaneure auf den Spuren des Zeitgeistes
bei Jochen Schimmang und Richard Wagner ..................................................224
IV. Den Lebensraum Straße verantwortungsvoll gestalten
Martin Peschken
Blühende Steintäler, ausgetrocknete Flussläufe
Überlegungen zu Atmosphären städtischer Straßen ........................................239
Martin Mangold
BuddyGuide – Your travelling Companion
Ein Projekt zur Ermöglichung von Orientierung
im kulturellen Raum in Essen ..........................................................................257
Inhaltsverzeichnis 7
Thomas Hauck
Phantasmagorie der Straße ...............................................................................264
Annett Zinsmeister
Fassadenräume .................................................................................................278
Henry Mertens
Palast der Provinz – eine Hommage ................................................................285
Angaben zu den Autorinnen und Autoren .......................................................301
Vorwort
Renate Girmes
Menschen werden zu dem, was sie sind, durch das, was sie erleben und tun. Ihre
Erfahrungen mit sich und ihrer Umgebung sind prägend – im guten und im we-
niger erträglichen Sinne. Dass die Straße, auf der man aufwächst, und die Stra-
ßen, die man kennt und nutzt, diese prägende Kraft auch besitzen, erscheint ein-
leuchtend und ist doch so kaum Thema. Das vorliegende, von Sandra Maria
Geschke konzipierte und herausgegebene Buch zielt auf diese Betrachtungs- und
Reflexionslücke. Seine Beiträge führen durch ihre vielen verschiedenen Betrach-
tungsweisen und -hinsichten, das Potenzial der Straße als prägende Kraft für ihre
Nutzer vor Augen und sie zeigen zugleich, welch vieldimensionaler Aktions-
raum die Straße für Menschen sein und werden kann.
Umgebung erzieht, sagt man. Das Buch von Sandra Maria Geschke belegt,
dass auch die Straße erzieht. Es zeigt deutlich, dass die Straße als ein Bildungs-
raum ‚gelesen’ werden kann, weil sich hier beispielhaft alle die Tätigkeiten be-
obachten und vollziehen lassen, die von Menschen grundsätzlich ergriffen wer-
den können und müssen. Es freut mich natürlich, dass es Sandra Maria Geschke
erfolgreich gelingt, eine Ordnung in die pluralen Autorenbeiträge durch eine
Bündelung der Tätigkeitsherausforderungen, die von Straßen ausgehen, zu brin-
gen. Auch wenn die Straße natürlich keine Bildungseinrichtung ist, so wird sie
doch mit diesem Buch und seiner Ordnung als Ort relevanter Bildungsprozesse
erkennbar, weil sie die relevanten Bildungsaufgaben1, sich etwas erkennend und
teilnehmend zu erschließen, zu interagieren und kommunizieren, im herstellen-
den Tun Welt neu gestalten und Lebensprozesse und -kreisläufe in Gang zu hal-
ten, sichtbar werden lässt. Das Buch zeigt, dass die Straße mehr oder weniger
entwicklungs- und lernförderliche Gelegenheiten gibt / geben kann, diese sich
stellenden Aufgaben zu bearbeiten beziehungsweise bei ihrer Bearbeitung zuzu-
sehen. Die Straße wird so als Ort und Angebot für informelle Lernprozesse er-
sichtlich, womit sich zugleich zeigt, dass die Straße als ein zentrales Element des
städtischen Raums überhaupt, aber eben auch als Lern- und Bildungssetting sehr
unterschiedliche Qualitäten aufweisen kann.
1 Vgl.: Girmes 1997 und 2004
10 Renate Girmes
Insofern stellt sich das vorliegende Buch als ein wichtiger und anregender Bei-
trag zu mindestens zwei Diskursen dar: den des informellen Lernens und dem
einer nutzer- und partizipationsinteressierten Stadtentwicklung.
Stadt ist Didaktik, heißt es in ‚Collage City’ von Colin Rowe und Fred
Koetter.2 Dass die Straße anregend oder langweilig, vielfältig oder fade, ermuti-
gend und ertüchtigend oder abweisend und eher lähmend erlebt werden kann,
und was diese Qualitäten bestimmt und ausmacht, kann man von den vielen im
Buch versammelten Beiträgen lernen. Das ist interessant und lohnend für zivil-
gesellschaftlich relevante Akteure und Institutionen gleichermaßen. Für sie lässt
sich mit dem Buch besser verstehen, dass zivile Gesellschaft auch in Abhängig-
keit zur Qualität ihrer städtischen Räume und eben ihrer Straßen entsteht.
Dass man die prägende Kraft der Straße genauer einschätzen und nutzen
kann und sollte, scheint mir die entscheidende Botschaft zu sein, um die es
Sandra Maria Geschke und den Autorinnen und Autoren ihrer Beiträge geht. Für
die dazu erforderliche erschließende, aber auch konstruktiv entwickelnde Arbeit
ist mit dem vorliegenden Buch in meinen Augen ein gelungener Anfang ge-
macht, dem ein breites Publikum zu wünschen ist.
Literatur
Girmes, Renate (2004): [Sich] Aufgaben stellen. Professionalisierung von Bildung und
Unterricht. 1. Auflage Seelze (Velber): Kallmeyer
Girmes, Renate (1997): Sich zeigen und die Welt zeigen. Bildung und Erziehung in post-
traditionalen Gesellschaften. Opladen: Leske + Budrich
Rowe, Colin / Koetter, Fred (1997): Collage City. 5. erw. Aufl., Basel, Boston, Berlin:
Birkhäuser
2 Rowe und Koetter bezeichnen „Stadt als didaktisches Mittel“ per se, da sie „nicht anders sein
kann“. (Rowe / Koetter 1997: 176f.)
Straße als kultureller Aktionsraum – eine Einleitung
Sandra Maria Geschke
1 Wahrnehmungsweisen des spät- respektive postmodernen
Straßenraumes
Es ist schon paradox: Die Straße ist ein offenes Buch und zugleich ein Geheim-
nis. Es gibt keinen gesellschaftlichen Raum, der vergleichbar heterogen oder
handlungsreich ist, denn im Unterschied zum Privatraum ist die Straße ein Raum
der Öffentlichkeit, der von jedem Bürger betreten, beeinflusst und auf diese
Weise mitgestaltet werden kann.
Versucht man, sich der Straße als Phänomen gesellschaftlichen Lebens zu
nähern, kann man dies dementsprechend aus zahlreichen Richtungen und mit den
unterschiedlichsten Intentionen tun. Ein kurzer Blick in die textuellen Beschäfti-
gungen mit dem Straßenraum soll dies zunächst schlaglichtartig deutlich ma-
chen.1
Bereits in den 1960er Jahren untersuchte Kevin Lynch das Bild der Stadt in
seinem gleichnamigen Werk unter detaillierter Betrachtung der einzelnen Ele-
mente, aus denen sich ein Stadtbild zusammensetzt.2 Straßen stellte er hierbei als
Bewegungskanäle dar, die das Umgebungsbild besonders stark prägen bezie-
hungsweise eine kognitive Herstellung desselben erst möglich machen. Städti-
sche Erkundungen vollziehen sich demgemäß in den allermeisten Fällen mittels
eines Hindurchbewegens durch diese Kanäle und das Erstellen eines Stadtbildes
in diesem Zusammenhang aus der perspektivischen Wahrnehmung aller übrigen
Umgebungselemente in relationaler Anordnung zum passierten Straßenraum.3
Als „vorherrschende Elemente der Stadt“4 werden die existierenden Straßen für
Menschen mit guter Stadtkenntnis in hierarchischer Weise mental kartographiert.
Das unbewusste Erstellen einer Straßenrangfolge, die je nach eigener Bedürfnis-
1 Die hierbei als Referenzgrößen dienenden Werke und deren Verfasser stellen nur einen mini-
malen Auszug dessen dar, was in den letzten 50 Jahren diskursiv in Verbindung mit dem Stra-
ßenraum referiert wurde.
2 Lynch wandte sich dabei den drei us-amerikanischen Städten Boston, Jersey City und Los
Angeles zu, befragte Stadtbewohner zu ihrem eigenen Stadtbild und ließ ausgebildete Beob-
achter die einzelnen Städte zu Fuß erkunden.
3 Vgl.: Lynch 2001 (1965): 60f.
4 Ebenda: 63
12 Sandra Maria Geschke
struktur und Wahrnehmungsweise zu einem anderen städtischen Bild führen
kann, wird jedoch begrenzt durch die Struktur des stadtspezifischen Wege-
systems. Die Verkehrsdichte, kulturelle oder konsumtive Angebote in einer Stra-
ße, ihre räumliche Breite oder Enge, charakteristische Fassaden respektive ihre
Nähe zu repräsentativen Stadtelementen verleihen Straßen Identität und Kontinu-
ität.5 Auch Richtungsqualitäten sind bei Lynch ausschlaggebende Kriterien zur
Bewertung des Straßenraumes als Teil des städtischen Geländes.
Diese bildräumliche Kraft schreibt auch der Pädagoge Otto Friedrich Boll-
now dem städtischen Straßennetz zu, wenn er behauptet: „Die öffentlichen Stra-
ßen (…) erweisen sich (…) als das Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch sich im
Gelände fortbewegt.“6 Damit gehört „die Verbindung von einem Ort zum ande-
ren“ zur Funktion der Straße, die sich jedoch erst in Verbindung mit anderen
Straßen, einem so genannten Straßennetz, realisieren lässt. Aus dieser straßen-
räumlichen Aufgabe, Distanzen zu überbrücken und Verbindungen herzustellen,
erschließt Bollnow – in Übereinstimmung mit Lynch – dass die Straße ein wich-
tiges Mittel zur Raumerschließung sei, ihn dabei aber auch verändere.7 Diese
Veränderung umschreibt er anhand zweier Raumbegriffe: den ‚homogenisierten
Raum’ und den ‚exzentrischen Raum’ – beides Raumtypen, die als Ergebnis der
Existenz von Straßen anzusehen seien. Betont der ‚homogenisierte Raum’ die
Eigenschaft anonymer Öffentlichkeit auf der Straße, so zielt der bei Bollnow von
Linschoten übernommene Begriff des ‚exzentrischen Raumes’8 auf die Endlo-
sigkeit der Straße. Jene unmittelbare Anknüpfung einer Straße an die nächste
bringt Bollnow in einen symbolischen Bezug. Sie lässt ihn den Weg als Sinnbild
des fortstrebenden menschlichen Lebens beschreiben.9
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre stellte Hans-Jürgen Hohm in einem
Sammelband zur Straße erstmals ein Beitragsspektrum aus soziologischen, theo-
logischen, politologischen sowie empirisch kulturwissenschaftlichen Zugangs-
weisen zum Straßenraum zusammen, welches sich der straßenräumlichen Zwi-
schenzone10 über die dort zu verzeichnenden Rollenübernahmen der handelnden
Personen zuwandte. Neu war hierbei, dass nicht die Straße im Kontext stadtfor-
schungsbezogener Fragestellungen ins Blickfeld gerückt wurde, sondern selbst
Anlass und damit Kernkontext der Betrachtungen war. Dies lag nicht zuletzt an
einem parallel zu verzeichnenden wachsenden Interesse an gesellschafts- und
kultursoziologischen Studien, die gleichsam auch als Wegbereiter für eine ver-
5 Vgl.: ebenda: 64-68
6 Bollnow 2004 (1963): 96f.
7 Vgl.: ebenda: 97, 100 sowie 101ff.
8 Linschoten: 260 zitiert bei Bollnow 2004: 103f.
9 Vgl.: Bollnow 2004: 104
10 Als Zwischenzone bezeichnet Hohm vor allem Fahrrad- und Fußgängerwege. (vgl.: Hohm
1997: 10)