Table Of ContentNorman M. Naimark
Stalin und der Genozid
Ausdem Amerikanischen
von Kurt Baudisch
Suhrkamp Verlag
Dieamerikanische Originalausgabe erschienunter demTitelStalin’sGenocides
imJahr2010beiPrinceton UniversityPress.
©Princeton UniversityPress
BibliografischeInformation derDeutschenNationalbibliothek.
DieDeutscheNationalbibliothek verzeichnetdiesePublikation
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überhttp:/ldnb.d-nb.de abrufbar.
DieserTextbasiertaufeinemVortrag,denNorman M.Naimark
imRahmender»Stanford-Suhrkamp Lecture«am3.Dezember2009
inderBerlinerRepräsentanzdesSuhrkamp Verlagesgehaltenhat.
ErsteAuflage 2010
©derdeutschen AusgabeSuhrkamp VerlagBerlin2010
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Satz:TypoForum GmbH, Seelbach
Druck: CPI—Ebner &Spiegel, Ulm
PrintedinGermany
ISBN978-3-518-42201-4
123456—151413121110
Stalin und der Genozid
Inhalt
Einleitu..n..g..................................... 9
1.DieDiskussiounmdenGenozid.................... 22
2.DerWerdegangeinesVölkermörders................ 37
3.DieEntkulakisieru..n..g......................... 57
4.DerHolodomo..r............................... 75
5.DerAngrifafufdieVölker......................... 84
6.Der»GroßTeerror«.............................. 103
7.StalinsundHitlersVerbrechen..................... 124
Schlußfolgerun.g..e..n............................ 134
Danksagu..n..g................................... 141
Anmerkung..e..n................................. 144
Einleitung
In diesem schmalen Buch, das eigentlich ein erweiterter Essay
ist,sollbegründet werden, weshalb StalinsMassenmorde in den
dreißiger Jahren des 20.Jahrhunderts als»Genozid« klassifiziert
werden sollten. Daswird dadurch erschwert, daß esim Falleder
Sowjetunion keineneinzelnenAktvonGenozidgegebenhat,son
dern vielmehr eine Seriemiteinander zusammenhängender Ak
tionen gegen »Klassenfeinde« und »Volksfeinde« —Bezeichnun
gen für verschiedene angebliche Gegner des Sowjetstaates.Auch
fanden diemassenhaften Tötungen aufunterschiedlichste Weise
statt: Zum einen gabesMassenerschießungen, zum anderen die
Verbannung in die »Sondersiedlungen« und in den GULag.Dort
fandenHunderttausende nichtnur wegenderungewöhnlichhar
ten Haftbedingungen und Verhörmethoden den Tod, sondern
kamen auch aufGrund der furchtbaren Transportbedingungen,
der Unterbringung, der Ernährung und der Zwangsarbeitums
Leben.
Diesozialenund nationalen Kategoriender angeblichen Fein
de der UdSSRänderten sich im Laufe der Zeit; das trifft auch
auf die Rechtfertigungen für die Aktionen gegen Bevölkerungs
gruppen und Ausländer in der Sowjetunion zu.Stalinund seine
Handlanger begründeten dieblutigen Tatenmit den Lehrendes
Marxismus-Leninismus-Stalinismus und setzten ihren Willen
mit polizeilichen, gerichtlichen und außergerichtlichen Mitteln
durch. Sowohl Parteiinstanzen alsauch staatliche Behörden wa
renbeteiligt, alsStalindiedurch diebolschewistische Revolution
geschaffenen Macht- und Kontrollmittel nutzte, um gegen tat—
sächliche und potentielle Gegner vorzugehen. Dabei spielte es
keine Rolle,ob diese real existierten oder nur eingebildet waren.
Unter Stalins Herrschaft in den dreißiger und frühen vierziger
Jahren starben vieleMillionen unschuldiger Menschen, die ent
weder erschossen wurden, verhungerten oder den Tod in Haft
und Verbannung fanden. Esist höchste Zeit, diesem wichtigen
KapitelseinenPlatzinderGeschichtedesGenozidseinzuräumen.
Esgibtberechtigte wissenschaftliche und sogar moralische Be
denken gegeneinesolcheErörterung. Nicht nur Historiker und
Journalisten sehenindem Begriff»Genozid«einenAusdruck,der
hauptsächlich dazudient, den Holocaust —alsoden Massenmord
der Nationalsozialisten an den Juden —zu bezeichnen, der nicht
vermengt werden solltemit dem Mord an Sowjetbürgern in den
dreißiger Jahren.Vorallem deutsche und jüdische Wissenschaft
ler werden wohl darauf beharren, daß die Ermordung von fast
sechs Millionen Juden durch das NS-Regimeein historisch ein
maligesVerbrechenwar,das mit anderen Massenmorden in der
Neuzeit nicht vergleichbar ist.DiesesVerbrechen, eine Kombina
tion ausHitlersRassenwahnund traditionellen christlichenanti
semitischen Motiven,warindenAugenvielerWissenschaftlerein
beispielloser Völkermord.1AllerdingsstelltsichdieFrage,obnicht
auch dieMordeanZigeunern (Romaund Sinti),Homosexuellen
und geistig Behinderten Züge eines Genozids trugen —ganz zu
schweigenvom Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen,
Polenund anderen.
Das Problem liegt in der im Dezember 1948angenommenen
»Conventiononthe Preventionand Punishment oftheCrimeof
Genocide« (Konvention über dieVerhütung und Bestrafungdes
Völkermordes) der Vereinten Nationen (UN), die den Mord an
ethnischen, nationalen, rassischenund religiösenGruppen inden
Mittelpunkt rückt und, wenn auch nicht explizit,sozialeund po—
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litischeGruppen ausschließt—und damit dieHauptopfer derblu
tigen Kampagnen Stalins.EinigeWissenschaftlerbetrachten den
ukrainischen Hungertod in den Jahren 1932/33oder die Deporta—
tion der sogenannten »bestraften Völker«im Jahre 1944isoliert,
um Stalin des Genozids bezichtigen zu können. Andere bezeich
nen das »Massaker von Katyn«, bei dem 22000 polnische Offi
ziere und Staatsbeamte im Frühjahr 1940hingemetzelt wurden,
alseinen typischen Genozid Stalins. Aber wenn diese einzelnen
blutigen EreignissealsVölkermord eingestuft und andere nicht
berücksichtigt werden, besteht die Gefahr, daß der genozidale
(meint »genozidähnliche«) Charakter des sowjetischen Systems,
in dem in den dreißiger Jahren eher systematisch alssporadisch
gemordet wurde, verschleiertwird.
Einweiterer Einwand gegendie Bezeichnungder stalinistischen
Massenmorde alsGenozidergibtsichausdemspeziellenCharakter
einerethnischenund nationalen Identität.DieMenschheitbesteht
aus erstaunlich vielen Völkern, von denen jedes einen eigenen
Charakter hat —sogar wenn dieser »erfunden« ist, wie Benedict
Anderson esformuliert hat. DieserCharakter verdient einen be
sonderen Schutz. Die Entwicklung des Begriffs»Genozid« hing
eng mit dieser Idee zusammen. Trotzdem schützt die Völker
mordkonvention derVereintenNationen auchreligiöseGruppen,
obwohl diese anders —man könnte sagen: »schwächer« —wahr
genommen werden als ethnische oder nationale Gruppen. So
wurden Juden und Armenier als»Völker«umgebracht, nicht als
religiöseGruppen, obgleich ihre Religionwieeine Volkszugehö
rigkeit gesehen wurde, wie es zum Teilauch bei den serbischen
Angriffen auf die bosnischen Muslime in den neunziger Jahren
des20.Jahrhunderts geschah.AberderSchutzethnischer und na
tionaler Gruppen sollteden von politischen oder sozialenGrup
penvordemselben furchtbaren Verbrechennicht überflüssigma
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chen. Die Opfer und ihre Nachkommen würden schwerlichdie
moralischen, ethischen und rechtlichen Unterschiede zwischen
der einen Form von Massenmord und der anderen begreifen,
geschweigedenn diehistorischen.
Zugleich meinen vieleBeobachter, wenn die potentiellen Op
ferkategorien des Genozidbegriffs erweitert und sozialeund po
litische Gruppen mit einbezogen würden, verlöre dieser seine
historische und rechtliche Bedeutung. Gewiß wird der Begriff
vonverschiedenen,manchmal nur losedefinierten Gruppen von
Menschen, diesichalsOpfer einesGenozidssehen,ungenau und
unverantwortlich verwendet.AbergeradedasungeheureAusmaß
des systematischen Massenmordes —den die politische Führung
eines Staatesabsichtlich an einer Zielgruppe innerhalb oder au
ßerhalb der Grenzen diesesStaatesbegeht —reicht aus, um einen
Genozidvonverwandten FormenwiePogromen,Massakernund
terroristischen Bombenanschlägen zu unterscheiden. Wird die
Massenvernichtung sozialer und politischer Gruppen beim Ge
nozid berücksichtigt, kann dies zu einem tieferen Verständnis
dieses Phänomens führen; es verringert nicht seine historische
Bedeutung. BeimGenozid —besonders im Falledesukrainischen
Hungertodes in den Jahren 1932/33—überlappen sich häufig die
sozialen,nationalen und ethnischen Kategorien.Manchmal wer
den, wie im Falledessowjetischen Angriffsauf die sogenannten
Kulaken,diesozialenund politischen Kategoriender Opfer »eth
nisiert«. Dies geschieht, um der Gesellschaftden Angriff plausi
blerzumachen. ÜberGenozid alseinProdukt kommunistischer
Staaten —von Stalins Sowjetunion über Macs China bis PolPots
Kambodscha —,indenen Millionen von Bürgern in Massenmord—
kampagnen getötetwurden, kann und sollteneben analogenFäl
lenvonVölkermord,deranMinoritäten verübtwurde,gründlich
nachgedacht werden.
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