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HANDBUCH DER STAATS- UND
WIRTSCHAFTSKUNDE
S t a a t s
kunde
<.erfter :Sand
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
ISBN 978-3-663-15234-7 ISBN 978-3-663-15797-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-15797-7
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J n lj alt s ver} e i n i s
Wefen uncJ ~ntwicflung cJes Staates. Von 0eg.1jofrat
Prof. Dr. R. ScgmicJt, Ceip]ig.
Völferrecgt uncJ Völferouno. Von (/jeg. ljofrat Prof.
Dr. Cl. meurer, WürJourg
(/jefcpicpte Oer Staatsteeorien. ~On Prof. Dr. m. ~al)er,
(/jraJ.
Staat uno Voll. Von Prof. Dr. R. ~aun, ljamourg.
Staat uno (/jefe[lfcgaft. Von PrioatcJoJent Dr.lj.fje[(er,
S:eipjig.
Verfa!fungsleoen cJes fluslamJes. Von Qjeg. fjofrat
Prof. Dr. fl. mencJelsfogn 13artgo!Ol), Elanlenefe,
Der Vertrag von Verfailles. Von Direftor Dr. ~. Rofen·
oaum, ljamourg
lDefen unb <Entmicklung bes Staats.
Don Rid}arb Sdjmibt.
.Jn~alt. lDtftn bts Staats. I. aiemeinfame Bebingungen bes Staatslebens. 1. Begriff,
Dafeinsbebingungen, lDirfungsfreis, aufgabe unb lDefen bes Staats. Der Staat als
~öd}fter menfcf)Iid}er Derbanb. lDo~nfiiJ unb aiebiet als natürlid}e :Oorbebingung bes Staats.
Das menfcf)licf)e l)anbeln als (Entfte~ungsgrunb bes Staats. Der Staat als fulturfcf)affenbe
mad}t. Der Staat als lDa~rer bes Recf)tes. Die redJtlid}e Selbftbinbung bes Staats. macf)t•
feite unb Recf)tsfeite bes Staats in iqrer lDed}feimirfung. Das lDefen bes Staats: Staats.
gemalt ober Staatsnolf? lDirfiicf)feits• ober aiebanfenbing? 2. airunbtätigfeiten bes Staats
(Dermaltung; Red}tsflflege, aiefeiJgebung, Regierung) unb lDertibeen bes Staatslebens (S::eiftungs•
fä~igfeit, Sreiqeit, aierecf)tigfeit, (Einqeit, aileid}qeit). Die ftaatlicf)en airunbtätigfeiten. Die
Dermaltung. Die Jbeen ber <Drbnung unb Sid}erqeit. Die Jbee ber Srei~eit. So3ialifierung
unb Jnbiuibualfflqäre. Der Scf)uiJ ber prinatfp~äre gegen unberecf)tigttn Staatseingriff:
bie Red)tsllflege. Die .Jbee ber (Einqeit. Die ffiefeMebung. Die Jbee ber ffierecf)tigfeit.
Die Regierung. Die Jbee bes Dolfsmillens. Die ffileid}qeitsibee. Die .Jbee ber Derfaffung.
"<Drganifd)e" ober "mecf)anifcf)e" natur bes Staats? airen3en ber uerai!gemeinernben Be•
trad}tung bes Staats. - II. <Drganifationsformen unb S::ebensgeftaltungen ber Staaten in
iqrer mannigfaltigfeit. 1. Staatlicf)e Sonberbilbungen unb ftaatsbilbenbe Kräfte. Be•
fd}ränfter lDert einer Jbealftaatsleqre. analtJfe unb Kritif ber qiftorifd} gegebenen (Ein3el•
ftaaten als 3iel ber flOlitifcf)en lDiffenfcf)aft. Staats• unb ftaatsrecf)tsbilbenbe Kräfte ber
Parteien. 2. Ricf)tunggebenbe aiebanfen inner~alb ber parteibilbung. Die uninerfalgefcf)icf)t•
lid}e (Entmidlung ber Staaten in iqrer abqängigfeit non ber parteibilbung. Die Derfaffungs•
bilbung in i~rer ab~ängigfeit nom parteileben.
I. ~tmdntame Uebingungen unb Uditigungsformtn bes Staatslebens.
1. 8egriff, lllirlungslrds, unb tuefen bes Staats.
naftinsbe~tngungen, o;run~lage
Der Staat als ~öd}fter menfcl}licl}er t>erbanb. Der Staat ift eine Sorm bes menfd}·
Iidjen 3ufammenlebens, bes gefeUfd}aftiid}en ober fo3ialen Dafeins ber menfdjen im weiteften
Sinn, eine Sorm menfd}lid}er Dergefelifd}aftung ober !lffo3iation, fur3: ein menfd}Iid}er
l>erbanb.
Diefe tDefenseigenfd}aft teilt ber Staat 3unäd}ft mit 3a~Ilofen anberen tebenserfd}einungen
in benen ebenfalls ber menfd}Iicqe tl:rieb 3ur l>erbanbsbUbung, 3ur <Drganifation ober !tffo•
3iation 3ur Verwirflidjung gelangt - mit ben l>erbänben bes Blutes: Samilie, Sipve -,
mit ben Derbänben bes Religionslebens: geiftlidjer Brüberfd}aft, l<itd}e, Sefte -, mit ben
l>erbänben bes Berufs• ober tDirtf d}aftslebens: Rittetorben, bäuetlid}er Siebiungsgenoffen·
fdjaft, fjanbwedef3unft, taufmännifd}er (J')ilbe, grol)tapitaliftifd}em trtuft, arbeitergewedfd}aft,
mit biefen Derbänben allen teilt ber ftaatlidje l>erbanb bas elementare l<enn3eid}en, baß
fidj in i~m eine Diel~eit non menfd}en 3u ein~eitlid}em fjanbeln im Dienft gemein•
famer 3wecfe 3Ufammenfd}IiefJt, unb 3mar in ber Weife, baß ein3elne beuor3ugte
rnitglieber ber (J;emeinfd}aft als bie 3Um gemeinnü\}igen fjanbeln berufenen
"<Drgane", b. f. mörtlidj: tDed3euge, unb bamit 3ugleidj als beftimmenbe <Drgane,
als "Be~errfd}er" ober "(J')ewaltträger", aus ber Die~eit ~etllorlreten.
aber bie unmittelbare ftnfd}auung leqtt, ba!) ber Staat fidj aus ben übrigen Derbänben
ober <Drganifations• unb !lffo3iationsformen als ber fdjledjtqin übenagenbe, als ber
nornel}m fte I}erausqebt. <Er bedörpert bie tonftantefte unb bamit bie oqne weiteres als
tuidjtigfte erprobte l>erbanbsbilbung im menfdjlidjen <ttbenleben. Damit ift nid}t gefagt,
~al) er immer unb unter allen Derqältniffen ben ftädften, einflußreid}ften l)erbanb batfteiit.
Das Jntereffe bebeutfamer Sonbergruvpen ber menfdjlidjen Beuölterung tann 3eitw eife unb
lteuliners fianbliud) ber Staats• unb tolrtfcltaftsfunbe I, 1 1
2 R. Sd}mibt: IDefen unb (Entwidlung bes Staats
oft auf lange 3eitfpannen anbeten Derbanben eine größere mad)t über il)re flngel)örtgen
einräumen. Dem Waffentragenben ftbligen bes mittelalters liegt bie ftanbesgenöffifd)e rittet•
lid)e Derbrüberung, bem gläubigen l<atqolifen bie römifd)e IDeitfird)e, bem amerifanifdjen
ober fran3öfifd)en Sabriffapitän bas l<artell ber inbuftriellen Unternel)mungen, bem Jn,
buftriearbeiter bie fo3ialiftifd)e Jnternationale meit niiqer als ber Staat. flber für bie menfdJ·
Iid)e <iiattung in il)rer a>efamtl)eit ift unb bleibt bie ftaatrid)e Q)rganifation in einer
Dorrangsftellung. Sie qat bas naturgeorbnete Streben unb bie natürlid)e Säl)igfeit, fiel) auf
bie tänge immer uon neuem als bie allen anbern Verbanben überlegene, l)öd)fte butdj•
3Ufe\}en. Jnnerl)alb bes l<ulturfreifes, aus bem unfer l)eutiges l<ulturleben mittelbar !)er.
oorgegangen ift, mirb biefe roal)rl)eit 3uerft uom altgried)ifd)en <iieift erfaßt. Die Stab!·
republif, "Polis" (rroXt~). bie in ber Blüte3eit bes a>ried)entums 3ur bleibenben ffirunb·
form bes ftaatlid)en tebens mirb, rücft für bie l)ellenifd)e, befonbers bie attifd)e tebens• unb
roeitanfd)auung fd)led)tl)in in ben mittelpunft bes irbifd)en menfd)enfd)icffals. Don qier an
batiert im Denfen <turopas bie Dorftellung, baß für alle gefellfd)aftlid)en Dinge bie "ftaat.
Iid)en Dinge", Ta Politika (nxrroXmKa), bie "politif" maßgebenb finb, als felbftuerftänb·
Iid)e a>runbuorftellung.
mo~n~tj unb C5tbiet als natflrlidlt Uorbebingung bes Staats. Das natürlid)e Über·
gemid)t bes ftaatlid) en l)erbanbes über alle anbeten menfd)Iid)en Derbänbe erflärt fidi 3U•
niid)ft aus ber menf d}Iid) um faffenben ftrt, ber flll gem einl)eit feiner <En tfte qungs•
bebingungen.
Der ftaatlid)e 3ufammenl)alt ift bas <Er3eugnis bes 3ufammenlebens ber
menfd)en im Raum, alfo berjenigen tebenstatfad)e, bie für ben menfd}en bie fd)led)tl)in
3entrale bebeutet. Ruf ben IDol)nfit be3iel)en fiel) unwillfürlid) unb mit innerer not•
menbigfeit irgenbmie alle äufjeren unb inneren <Erlebniffe unb l)anblungen bes menfd)en.
Diefes moment aber, bas bem menfd)en ben mitte lpunft feiner <E!iften3 unb ben RidJt•
punft für bie U:otaiitiit feiner tebensbe3iel)ungen giebt - ber a; em ein b efi tl biefes moments,
nid)t eine ein3eine Jntereffengemeinfd)aft er3eugt ben [rieb 3u bem 3ufammenfd)luß, ben
ber entwideite Sprad)gebraud) als "Staat" benennt unb berin älteren Derl)iiltniffen nid)t un•
be3eid)nenb als "Stabt" (Polis) ober "tanb" (Terra) ober aud) als "<iiemeinmefen" fd)led)tl)in
(Koin6n, Respublica) d)arafterifiert wirb. Unb nur bie l<el)rfeite biefer <E!'tenfitiit ber Be•
3iel)ungen ift bie Jntenfitiit ber IDirfung, bie bie a>emeinfamfeit bes flufentl)alts ober
rooqnfi~es auf bas uerbanbsbilbenbe Dermögen bes menfd)en ausübt. Der [rieb 3u ftaat•
Iid)em 3ufammenfd)Iuä fe\}t fiel} mit unentrinnbarem 3mange burd). nur fold)e Beuölfe•
rungen, bie bünn uerftreut auf unwirtlid)em Steppen•, IDüften•, meeresfüftenboben fiten
(nod) iu moberner 3eit <Esfimos, Seueriänber, Bufd)miinner) unterliegen il)m nid)t. So wie
fiel} aber ein Voltsturn in gemiffer Did)te ber 3aql entmicfelt, erwad)t ber Drang 3ur Staats•
biibung mit naturnotmenbigfeit, oqne Rüdfid)t barauf, auf weld)er !l)irtfd)afts. ober über•
l)aupt l<ulturftufe fiel} bas Dolfstum bewegt. ftud) Völfer, bie als Jäger ober l)irten il]re
Si\}e in ausgebel)nten roalb· ober Weibe· ober oafenburd)3ogenen IDüftenfliid)en med)feln,
organifieren fiel) in "Stämmen" ober "Oölferfd)aften"; unb biefe finb nid)t mefensuerfd)ieben
uon ben Staatsgebilben fefjl)after, in ftcferbau unb !)anbei burd) il)ren Si~ bauernb uerbunbener
Dölfer. ftnbererfeits ift bie a>emeinfd)aft bes !l)oqnfi~es, bes ffiebietsbefi~es für fiel} airein
genügenb, um ben ftaatlid)en 3ufammenfd)luf3 3u begrünben. fllferi:·::.IJS roirb in
ber Regel 3Wifd)en ben mitgliebern einer fefil)aften menfd)engruppe nod) ein. 3WCite pet•
fönlid)e 3ufammengeqörigfeit butd) <iiefd)led)tsuerbinbungen, 3eugungen un~ :••ehurtm, eine
Blut~ ober flbftammungsgemeinf d)aft fiel) aushUben, bie man l)eute meift als .,1~ affengemein•
fd)aft" be3eid)net. flber Raffe ift 3u feiner 3eit unb auf feinem l<ulturftanb etmas Primäres, feft
I. ffiemeinfame Bebingungen unb Betätigungsformen bts Staatslebens 3
abgegten3tes unb Unveränberlid}es. Die <Entwicflung ber menf d}qeit bewegt fiel} feit unuor•
benflid}er Deit in einer nie abreifienben Kette von lDanberungen, Derfd}iebungen, Spaltungen
unb neumifd}ungen, bie bie 3u einem gegebenen 3eitpunft 3Ufiillig gegebenen Raffen immer
neu geftalten, unb bas, was biefe Deränberungen bewirft, ift ebenfalls immer .mieber ber
Raum, bie nad}barfd}aftlid}e Berüqrung ber lDoqnfit}e.
Jn tt>aqrqeit ift alfo bas tanb ber alleinige Saftor, ber eine menfd}envielqeit,
aud} eine fold}e von urfprünglid} gan3 verfd}iebenartiger flbftammung, 3um Staate 3U•
fammenfd}lieflt. Der rid}tige Kern ber "Raffentqeorie" ift nur ber, bafi bas Dufammen•
leben im tanbe aufier bem ftaatlid}en 3ufammenqang einer menfd}envieii}eit (iqrer or•
ganifatorifd}en Cfinqeit) aud} nod} ein anberes, ben geiftigen Dufammenqang ber13ewoqner,
bie tulturelle <Einqeit ber burd} ll)oqnfit{nerbunbenen menfc!Jen er3eugt unb förbert.
3wifd}en menfd}en netfd}iebener t\bftammung ru1t bie 1Demeinfc!Ja1t bes Bobens 3Ufammen·
wirfenb mit gemeinfam~n Sd}iäfalen bie IDemeinfd}aft ber Sprad}e, Sitte, .!S.eligion unb
anberer mannicJ>faitiger Jutereffen bes gefellfd}aftlid}en, gefd}iiftlid}en, Iiterarifd}en tebens
qeruor, b. q. bas, was abgefd}Ioffen unb, ben Beteiligten, wie ben Draußenfteqenben bewu{Jt
geworben als nation, nationalität, Dolfstum be3eid}net wirb. Der CII}arafter bes
Bobens ber Befieblung, feine 1rud}tbare ober wirtfd}aftlid} unergiebige, feine gleid}•
förmfge ober burd} IDebirge ober Seen 3erriffene natur muß mit notwenbfgfeit ftets fowoql ber
Staatsbilbung, wie ber nationalbilbung bes bewoqnenben Dolfs eine beftimmenbe Rid}tung
geben. <Ebenfo unb nod} verftärft wirft bas t>erqältnis eines ffiebfets 3u ben nad}barlänbern,
bie fd}arfe flbgren3ung burd} unwegfame IDebirge ober grofle meere ober lDüften unb Steppen
ober bie <Dffenqeit unb teid}f3ugänglid}feit feiner 1Dren3en für Jnuafionen ober folonifierenbes
<Einwanbern. Je nad}bem bas IDebiet ber f\usbilbung eines DUfammengeqörigteitsgefüqls
3Wifd}en feinen Bewoqnern fd}wäd}ere ober ftärfere fjinberniffe entgegenfet}t, wirb es Jeic!Jter
ober fd}werer, mit bfd}twerbenber Bevölferung einen 3ufammenqalt, eine Jntereffengemein•
fd}a1f für bie let}tere 3u ef3eugen -, aud} 3Wifd}en Bewoqnern, ble aus <Elementen feqr uer•
fd}iebener flbftammung, Sprad}e, Sitte, Religion befteqen. Die Derfd}iebenf)eit ber "Raffe" wirb
burd} bie a>emeinfd}aft bes ffiebiets jebenfalls infoweit überwunben, bafi eine ftaatlid}e <Drgani•
fation, bieflusbllbung qerrfd}enberffiewalten für bie gemeinfamenBebürfniffe,aud} als "natio•
nalitiitenftaat" möglid} wirb. flber ber natürlid}e ffiang ber Dinge ift es lbtmer gewefen
unb wirb es bei unbefangener tebensauffaffung immer bleiben, bafi bas IDebfet fogar Kraft
genug qat, bie 1Degenfii1Je 3Wifd}en ben getrennt• ober gemifd}traffigen Beftanbteilen feiner
Bewoqnerf d}aft aus3ugieid}en unb fie 3u einer neuen m i f d} n a ti o n 3ufammen3uf d}weiflen. roo
bas auf lange 3eit ober für bie Dauer n i d} t gelingt, müffen gan3 beftimmte trennenbe <Einflüffe
am Werte fein, bie ber t>erfd}mel3ung ober t\ffimilation entgegenwirten unb in ben beteiligten
IDruppen ben lD i I Ie n qernonufen, fiel} getrennt 3U !)alten: planmiifiige agitatorif d}e Sd}ärfung
bes religiöfen, bes Raffenfanatismus unb bergt. aber Jbeen unb Doftrinen, bie eine fold}e
trrennung 3ur bauernben 13efd}riinfung bes Staats auf eine ein3 i ge Raffe eines «Debiets
fteigern woiien, finb unter allen Umftänben ungefunb unb ausfid}tslos. <Ein "blofl
n öu i f d} er" Staat I ber eine beftimmte Sd}id}t ber Bewoqner feines IDebiets I etwa bie r~
mitifd}er flbfun1f ober bie fd}war3er fjautfarbe planmäfiig aus feinem t>erbanb fern3uqalten
qat, ift eine fd}iefe Jbee. nur uorbeugenb (etwa burd} Cfinwanberungsbefd}ränfung) fönnte
ber Staat qier einwirfen.
So ift überqaupt bie gan3e, qeute vor allem bei bemofratifd} gefinnten poUtifern le
benbige Dorfteilung abwegig, als fei bie tieffte meid} bare a>runblage ber Staatsbilbung
bas Dolf. Der Begriff bes Dolfes wirb feinerfeits erft burd} bas tanb möglid}. Denn
nur ber abgegren3tel!eil ber<Erboberfläd}e, abgegren3t entweber burd} bie natürlid}e
Konfiguration ober unter Umftänben burd} 3Ufällige gefd}id}tud}e Vorgänge, mad}t aus ber
1*
4 R. Sd}mibt: lDefen unb lfntmidlung bes Staats
Ioderen unb flüffigen l>ieff)eit von menfd]en ein "t>olf", unb gerabe bie t>errour3elung ber
[atfacqe ber Staatsentftequng im Boben, in biefem fonftanteften unb in feiner <Einwirfung
nacqqaltigften Saftor bes CErbenlebens, ift es, mas ben ft a a t li cq en t>erbanb über alle
anberen t>erbanbsbilbungen empori)ebt. Diefe burcq bie <Erfai)rung umuiberleglid] erwiefene
<Erfcqeinung, ba{J innerqalb Jängerer 3eiträume ber ftaatlicqe t>erbanb ein natürlicqes
Übergemid]t über fämtlicqe :privaten!) erb änbe irg enbw ei ci) er flrt beqauptet (vgl. o.),
iqre <Deftaltung, iqren IDirfungsfreis, eventuell bie illöglicqfeit iqrer <E~iften3 von fiel)
abqängig mad]t, brücft bie Staatslei)re in bem fl~om aus, baß bem Staat bie fd]led]tqin
oberfte <Dewalt, bie suprema potestas, supremitas, "Souveränität", mefenseigen ift.
Sie ift ber ausflu{J ber IDefenseigenfd]aft bes Staats als bes Boben•, IDoqnfitJ• ober
<Debietsverbanbs ber menfcq.en.
anes c»efagte beutet 3ugleid] barauf I)in, baß es innerlid] gan3 begrünbet ift, wenn ber
Spracqgebraud) altertümlicqer, naiver 3eiten mie ber bes europäifcqen mtttelalters bas Verbanbs·
mefen, <Demeinwefen, bas mir I)eute "Staat" nennen, als "tanb", "terra"·, "pagus" (c»au),
"pays" be3eid)net1). Der Begriff "Staat" in unferem Sinn bilbet fiel) erft in ber Re·
naiffance aus. Der römifcq•lateinifcqe Spracf)gebraucq oertvenbet status {3uftanb) nur für
ein3elne Seiten bes politifd]en tebens, bie t>erfaffungsform (status rei publicae) ober
ben öffentlid)en l}ausqaltsplan (status activorum et passivorum, qeute "<Etat") u. a.
<Erft im Jtalienifcf)en bes 16. Jq., gan3 fpe3iell bei macqiaoelli, wirb ber ausbrucf verall•
gerneinert unb auf bas <Demeinmefen fd]lecqtqin übertragen. Der "stato" geqt in bas fran•
3öfifcqe "etat", in bas englifcqe "state", bas beutfcqe "Staat" über.
~as menfcl}Ud)e l}an&eln als ~ntftel}ungsgrunb &es Staats. Der na t ü r Ii d) e Vor.
gang, baß eine irgenbmelcqe c»ruppe ber menfcqlicqen <Dattung auf bemfeiben Boben 3ur tebens•
unb Jntereffengemeinfcf)aft 3Ufammengefüqrt mirb, ift nicqt bie ein3ige t>orbebingung ber
<Entftei)ung ober bes Beftei)ens eines Staates. Selbft bas Bewußtfein ber Jntereffen•
gemeinfcqaft 3tuifcf)en ben 3ufammenlebenben genügt ba3u nid)t. IDie von Einfang an
in benBegriff eingefcf)loffen (S.l), geqört 3ur Staatse~iften3 aud) ein geiftig•menfd)lid)er
Beitrag, bie <Entfaltung von frätigfeiten bes t>erbanbs im gerneinfamen
Jntereffe feiner <Dlieber.
<Erft wenn biefe "mecqanifd]e" Seite bes Staats 3ugleicq mit ber "organifd)en" Seite bes
Staats ins auge gefaät mirb, wenn ber Staat neben feiner <Eigenfd)aft als ein "geworbenes"
IDefen aucq als ein "gemacqtes" n>efen begriffen mirb, treten bie Begriffselemente ins tid)t,
bie ben Staat als eine <Einqeit über ben <Ein3elmefen,. als ein "c»emefnmefen", nad) bem
Spracqgebraud) bes flriftoteles als bas "Koin6n" (K ow6v ), begreiflicq macf)en. Denn bas ge•
meinfame l}anbeln einer menfd]Iicqen Vielqeft ift nur möglid] burcq beoor3ugte, gei)o•
bene <Dlieber bes t>erbanbs, bie fiel] als mittel, als "!Oed3euge" ber <Defamti)eit, als beren
"Q)rgane" betätigen {6 rganon [o pya.vov ], im <Driecq. mörtlicq = n>erf3eUg, von ergein, EP"fElV'
arbeiten, mitfen). nur fet}t bas gemeinnütJige IDirfen bes t>erbanbsorgans feinerfeits bie Der•
fügungüber gefteigerte pi)l)fif cqe ob er mirtfcqaftlid) e l{rä fte uoraus, bie nid)t anbers
als burcf) bfe :perfönlicf)en Dienfte ober Dermögensieiftungen aiier ein3elnen - militärifd)e
1) Sür bas gried). Altertum entfprid}t bem bie fd)on frü~er (S. 2) I}eruorge~obene Rebemeife, bas
(Demeinmefen mit bem gemö~nlid}en Si 1} bes l{Ieinftaats, ber pons, Burg, Stabt 3u ibentifi3ieren. Sie
fe1}t fiel} nod} in ber itaiienifd}en Rebeweife bes mitleialters bis 3um Beginn ber Renaiffance im
{l;erminus ber "citta" (civitas) fort. neben biefer [inniid)en Rebeweife ge~t freiiid} eine anbete,
me~r abftral}ierenbe ~er, bie bas ~eute als "Staat" be3eid)nete lDefen mit bem ausbrud ber
qerrfd)aft, bes Be~errfd)ungsuerl}ältniffes 3Wifd}en Staatsgemalt unb Doif 3u treffen
fud)t (regnum, imperium, dominium, principatus, gouvernement, government, O>brigfeit).
I. IT>emeinfame Bebingungen unb Betätigungsformen bes Staatslebens 5
l<raftentfaltung, öffentlid)e flrbeitsleiftung, naturalien• ober Steuerabgaben-befd)afft werben
fönnen. Die Wirffantfeit ber Q)rgane bes <Demeinwefens ~at alfo bie Unterorbnung oon
beffen a; I i e b ern, ber <Hn3elwefen, unter ben orbnenben ober gebietenben Willen ber Q)rgane
3ur Dorausfe~ung, unb bie "W erf3 eug e" ber <Defamt~eit, bie fiel) einerfeits in ben Dien ftber
Bebürfniffe bes Dolfs ftellen, müffen unweigerlid) nad) i~rer anberen Seite bie Be~ errf d) er
bes Dolfs als bes irrägers ber öffentlid)en taften roerben. flusfd)Hefllid) im Wed)felwirfen
biefer Doppelbe3iequng: "Q)rgan unb Bürger"-"l)errfd)er unb Untertanen" tritt ein ftaat•
Iid)er Derbanbin bie<E~iften3. Jn iqr nedörpert fid) bie ftaatlid)e Q)rganifation. fe~tere
ift nid)t möglid), roenn fie nid)t bei b e Be3iequngen aufweift, beten jebe nur bie begriffs•
notroenbige l{eqrfeite ber anbeten ift. <Ein öffentlid)es teiften unb bamit überqaupt ein Staat ift
unbenfbar oqne l)errfd)aft über bie men;d)en, bie iqm angel}ören, unbenfbar o~ne Be·
fd)rüntung her Sreiqeit ber ein3elnen. <Eilt Staat mit abfoluter Sreiqeit feiner <Dlieber,
wie er als Jbeal ben uerftiegenen Spefulationen bes flnard)ismus 3ugrunbe liegt unb
aud) im Dorftellungsfreis bes e~tremen Hornmunismus figuriert, ift eine Unmöglid)feit.
flllerbings ift umgefeqrt aud) ein blofles 1) errf d) a ftsn er 1) ä It n is fein Iebensfä!)iger Staat,
wenn es fiel} nid)t in ö ff e n tri d) en [e i ft u n g en auswirft. Das Wefen bes Staats Iäflt fiel)
nid)t als qerrfd)aftsuerbanb d)arafterifieren, fonbern nur als ein b ur d) l) errf d) a ft ro in.
f e n b er Derban b. lDenn fiel) in Ur3eiten ein erftes ft a a tli d) es teben nur baburd) bilbet,
bafl fid) ein fluger, roaffentüd)tiger Süqrer als erfter l)äuptling, Siirft, ober ein }{reis non
energiebegabten <Defd)Ied)ts~äuptern als erfter Hlteftenrat, als Q)rgan einer primitiven flrifto•
fratie ober Q)Iigard)ie I)eruortut unb fid) bamit ber maffe eines Stammes unentbe!)rlid)
mad)t, fo geftalten fid) aud) in entroicfelten, qiftorifd)en Zieiten bie Ioderen l{omple~e non
fleinen Dölferfd)afts• ober Stammes• ober <Dauftaaten nur baburd) 3u <1Sroflftaaten um,
bafi eine überlegene Sd)id)t bie Sü!)rung für aUe jene l<Ieinnerbänbe eines größeren <Debiets
ergreift; 3uerft neigt Me militärifd)e Sü!)rung gegen einen gerneinfamen tanbesfeinb. Unb
anbererfeits wirb eine qerrfd)enbe Dt')naftie ober <Defd)Ied)terariftofratie eine vormals auf
fold)e Weife entftanbene l)mfd)aft auf bie S::iinge nid)t mel)r be~aupten, roenn fie bem Dolf
für geroiffe brängenbe fo3ia~e flutgaben bie erwartete Süqrung nid)t mel)r Ieiftet. <Degen•
über einer paffio unb fteril geworbenen Staatsgemalt übernimmt bann entroeber ber <De·
maltträger eines anbeten Dolfstums ober ein innerqalb ber füqrerlos geworbenen
<Defellfd)aft neu fid) bilbenber <Deroalttriiger einer anbeten <Defellfd)aftsfd)id)t bie
fjenfd)aft. fjier liegt ber flusgangspuntt für bie <Erfd)einung bes Untergangs b,er
Staaten wie für bie Revolutionen.
t>et Staat Q[S fulturfd}4fftnbt mad}t. Der Dorgang ber ftaatlid)en Q)rganifation unb
bamit bas Bilb bes Staates überqaupt fompli3iert fid) jebod) baburd), bafl fiel) n o m. fl n •
beginn alles ftaatlid)en tebens an unb fd)Ied)tqin innerl)alb i e b es ftaatlid)en Ziufammen•
Iebens 3roei Sp!)iiren ber öftentlid)en lDirffamfeit fd)eiben. Sie finb in flnfüngen
ber politifd)en l{ultur nur unbeutlid) in iqrer Doppeif1eit fid)tbar, aber im l{eim immer
norqanben; - im Derlauf entroideln fie bas Streben, fid) immer fd)ärfer !)eraus3uarbeiten
unb bas Der~ältnis 3ttJifd)en <Demeinroefen unb <Ein3elroefen immer entfd)iebener in ent•
gegengefe\lter Rid)tung 3u beeinfiuffen. Dabei liegt gerabe in biefer Dielfeitig•
feit ber irätigfeiten, bie bas Dort oon feinem Staat erwartet, ein weiterer <Edlärungs•
grunb für bie ein3igartige unb überragenbe Stellung bes Staates unterbenübrigen
menfd)Iid}en flffo3iationsformen. Sie fte!)t mit bem 3u Beginn genannten, in feinen <Entfte~ungs•
bebingungen begrünbeten (S. 2) in innerem Ziufammenqang.
Die näd}ftliegenbe tebensfunftion bes Staates 1ft bie Derforgung feines Dolfes
mit tebensgütern. Das 13ebürfnis nad) fold)er <Düternerforgung gibt ben elementarften
6 R. Sd)mibt: IDefen unb <Entroicflung bes Staats
flntrieb 3ur Staatsgrünbung unb Befeftigung. Scl}uß bes gerneinfamen <Debiets gegen ben
äufleren Seinb unb <Er'f)altung ber <Drbnung unb Sicl}er'f)eit ber 13enölferung im innern, alfo
U>e'f)rwefen unb poli3ei finb bie l<ernbeftänbe biefer gemeinnüßigen teiftungen, in benen
bie un3ulänglid)en l{räfte ber ein3elnen non fü'f)renben perfönlid)feiten gefammelt unb 3u
nerftärfter l<raftleiftung ber flllgemein'f)eit gefteigert, in benen b ie 0 iel'f) eit 3u t <Ein I) ett or•
gantfiert wirb. flber berfelbe <Deficl}tspunft läflt fiel} non vornl]erein in feiner <Veltung ver•
brettern unb unbegren3t fortentwicreln. Uicl}t nur bie Sid)erung gegen <DefalJren, fonbern
aucl} bie Befd)affung von Rnftalten, bie bie prtuatperfonen aus eigener l<raft nid)t {]er•
fteiien fönnen, alfo nid)t nur bie ein3eln .wirfenbe Der'f)ütung non Scl}äbigungen, fonbern
aucl} bie :pofitine Sörberung ber gefheihen U>o'f)Ifaqrt in Bewäfferungsanlagen, l<analbauten,
Straflenanlagen, l<üftenfcl}u\) ober l)afeneinricl}tung 3ie'f)t ber Staat unter bie "öffentlid)en"
Rufgaben, unb ebenfo 3weigt auf geiftigem <Debiet uon ben erften flnfängen jebes Dolfstums
bas religiöfe 13ebürfnis weitere bebeutenbe <Degenftänbe ftaatlid}en IDirfens ab. rote ber
l<ultus ber Oolfsgottl]eiten bie Sorge für bie baulicl}en ~empelanlagen unb fonftigen l<ult•
ftätten, für ÜberwadJung ber Sefte, für bie Befcl}affung ber <Dpfer unb bamit befonbers für
bie frül}eften Oermögensauflagen, weiterl]in Befteuerungseinrid}tungen I)at, gibt er ent•
fprecl}enb aud) bett flnftofl 3um <Eingreifen bes Staates in fünftlerifd}e, in wiffenfcl}aftlid)e
(etroa aftronomifcl}e), in er3ieqerifcl}e (Unterricl}ts•) Oer'f)ältniffe. fllles in allem will jebes
Dolt in feinem Staat eine fulturfcl}affenbe macl}t, unb wenn man aUe nacl} 3wecren, nad)
Befcl}affung non tebenswerten ober tebensgütern planmäßig ftrebenbe Willenstätigfeit als
"l{ultur" 3Ufammenfaflt, fann man fagen, ba[l fiel} ber Staat, ber öffentlicl}e Derbanb, mit bem
<Ein3elmenfcl}en unb ben iqn unmittelbar umfcl}Iieflenben privaten Oerbänben (Samilie, Si:ppe)
in bie Kulturarbeit im weiteften Sinne 3u teilen qat. Seine macl}täu[lerung, <Energieentfaltung
wirb eines ber belebenben unb wirlfamen flgen3ien gegenüber ben Oolfsgliebern. Denn inbem
ber Staat i'f)nen Ieiftet, mufl er notwenbig aud} von iqnen verlangen. fllle genannten Ruf•
gaben gemeinnüßiger flrt, finan3ielle, poli3eilicl}e, baulid)e ujw., finb nid)t benfbar, oqne
bafl ber Staat bie perfönlid)en unb widfcl}aftlicl}en l{räfte ber ein3elnen uielfeitig, oft fcl}onungs
los in Sorm uon Dienften, von flbgaben 3ur mttwirfung l}eran3iel)t. <Er bebarf 3ur Durd)•
füqrung ber ftaatlicl}en Sunttionen Beqörben ber uerfd)iebenften art, unb jebe Beqörben•
tätigfeit forbert fcl}on in ber notwenbigfeit ber <Entlol)nung unb widfcl}aftlicl}en Detforgung
burcl} tanb, burd) <Delb ufw. <Dpfer, bie uom Dolfe gebrad)t werben müffen. mit anbern
Worten: <Derabe bie 1{ u Itu rf <Dpfer, 'es Staates ift es, in ber mit bem teiften aud) bas
1)errfd)en, unb - uom Stanbp Oolfes; Voiles aus betrad)tet - mit bem <Empfangen vom
Staat aucl} bas wiiiige Sid)bel)etburcl} ·k <.ffen burcl} il]n notwenbig 3Ufammengeqört. "<Es ift
nicl}t nur Dorteil 3u regieren, fonoern oud} einer, regiert 3u werben" (<Ebmunb Burle).
tler Stoot als tual}rer bes lttcfltts. flber neben feiner Rufgabe als fulturfcl}affenber
macl}tträgJ't briingen bie feelifd!en 13ebingungen bes gefellfd)aftlid)en 3ufammenlebens bem
Staat von flnbeginn an eine 3weite, eit-~nartige, an Bebeutung ebenbürtige, ja in gewiffem
Sinne überragenbe ll>irfungsf:p~äre auf. <Es ift bie ber Sid}erung bes Recl}tes, ber
Regeln, bie bas teben bes im Stoat vereinigten ))oltes bel)errfd)en.
<Eine äuflerlicl}e Betrad)tungsweife bnn leicl}t ber Dorfteilung uerfallen, als feien bie
Recl}tsfd)ußfunttionen ftaatlicl}er <Drg<tne aucl} nur ein unfelbftänbiger 3weig gemeinnüßiger
teiftungen für bie Bürger. Die bem ein3elnen 3unäcl}ft Hegenben unb leicl}teft verftänblicl}en
Recl}tso:perationen, bie Scl}lid)tung her Streitigfeiten 3Wifcl}en ben <Dliebern bes Derfel}rs, bie 3it>il•
recl}ts:pflege unb bie Überlieferung ber Oerbred}er an bie Strafe, bie Strafred)ts:pflege, fönnen
blofl als untergeorbnete <Elemente ber ftaatiicl}en <Erl)altung ber Q)rbnung unb Sicl}erqeit er•
fcl}einen. Das Recl}t erfcl}eint alfo Iei~er nur als "jtaatlid)e <Drbnung", unb baran ift fouiel