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Staatliche Sozialpolitik in Deutschland · Band I
Eckart Reidegeld
Staatliche
Sozialpolitik in
Deutschland
Band I: Von den Ursprüngen bis zum
Untergang des Kaiserreiches 1918
2., überarbeitete
und erweiterte Auflage
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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1.Auflage 1996
2.,überarbeitete und erweiterte Auflage August 2006
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©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2006
Lektorat:Frank Schindler
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Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg
Satz:Katrin Schmitt
Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN-10 3-531-32780-1
ISBN-13 978-3-531-32780-8
Inhaltsverzeichnis 5
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.................................................................................................................................7
1 Einleitung....................................................................................................................15
1.1 Rekonstruktion eines Forschungsgegenstandes.............................................15
1.2 Aufbau und Inhalte der Arbeit.......................................................................22
2 Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen einer „gestörten“ Gesellschaft...27
2.1 Die „Revolutionen“.......................................................................................27
2.2 Der Pauperismus und das Versagen der althergebrachten
Sicherungssysteme.........................................................................................37
2.3 Die Sozialpolitik des Vormärz und der Revolutionszeit................................49
3 Die sozialpolitische Diskussion vom Beginn bis um die Mitte des
19. Jahrhunderts........................................................................................................61
3.1 Erste „klassische“ Ansätze der sozialpolitischen Diskussion........................61
3.2 Vom sozialpolitischen Gehalt der Pauperismusliteratur................................76
3.2.1 Zu Stellenwert und Charakter dieser Literatur...............................................76
3.2.2 Die zur Sprache gebrachten Ursachen und Auswirkungen des
Pauperismus...................................................................................................83
3.2.3 Umrisse einer konservativen Sozialreform..................................................102
3.3 Resümee mit Blick auf die Arbeiterbewegung............................................124
4 Arbeiterfrage, Arbeiterbewegung, Kassen- und
Arbeiterversicherungspolitik..................................................................................133
4.1 Vom Wesen und Ursprung des Versicherungs- und Kassenwesens............133
4.2 Preußische Kassenpolitik, Arbeiterbewegung und Kassenwesen................139
4.3 Die Konstituierung der Sozialdemokratie und die Neubelebung der
Gewerkschaftsbewegung als Rahmenbedingung sozialpolitischer
Entwicklung.................................................................................................158
4.4 Die Arbeiter- und Kassenpolitik im Norddeutschen Bund..........................164
4.5 Die Kassen- und Arbeiterversicherungspolitik des Deutschen Reiches......169
4.5.1 Politische und ökonomische Rahmenbedingungen......................................169
4.5.2 Die sozialreformerische Diskussion bis zur Mitte der 1870er Jahre............172
4.5.3 Die Hilfskassengesetzgebung des Jahres 1876............................................181
4.5.4 Repression und Sozialreform bis zur
Arbeiterversicherungsgesetzgebung............................................................186
6 Inhaltsverzeichnis
4.5.5 Die „Bismarcksche Sozialreform“...............................................................193
4.6 Resümee......................................................................................................227
5 Arbeiterpolitik in der Ära des Imperialismus.......................................................237
5.1 Zwischen Reform- und Repressionskurs.....................................................237
5.2 Arbeiterfrage, Sozialreform und „Weltpolitik“...........................................268
6 Der Erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik.........281
6.1 Der „Burgfrieden“ als sozialpolitische Grundsatzentscheidung und
Methode der Stabilisierung der Kriegsgesellschaft.....................................281
6.2 Die sozialpolitischen Ergebnisse der „Burgfriedenspolitik“........................294
6.3 Die Sozialpolitik und die „Imperative des modernen Krieges“...................311
6.4 Die sozialpolitische Bedeutung des Hilfsdienstgesetzes..............................324
6.5 Das Ende der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“.....................................334
7 Rückblick und Ausdeutung.....................................................................................343
8 Abkürzungsverzeichnis............................................................................................361
9 Quellen- und Literaturverzeichnis..........................................................................363
9.1 Verzeichnis der archivalischen Quellen.......................................................363
9.2 Verzeichnis der Literatur.............................................................................364
10 Personenregister.......................................................................................................381
Vorwort 7
Vorwort
Vorwort
Die folgende Darstellung handelt von einer der ganz großen Tendenzen der Geschichte, von
der Herausbildung und der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland. Sie
befaßt sich mit einer Daueraufgabe und einem Gegenstandsbereich staatlicher Politik, der
in extremer Weise im Zentrum politischer Kontroversen stand und steht. Grundsätzliche Be-
wertungsunterschiede der staatlichen Sozialpolitik bei ihren Verächtern und Verfechtern,
feststehende, geradezu eingefrorene und auseinanderstrebende Auffassungen zur Entwick-
lung staatlicher Sozialpolitik, grobe Vereinfachungen, naives Entwicklungs-, Entfaltungs-
und Fortschrittsdenken, handfeste „Parteiinteressen“ verschiedenster Art haben auch auf dem
Gebiet der Forschung Spuren hinterlassen. Maßlose Kritik und regelrechte Verdammungsur-
teile sind und waren ebenso gängig, wie Schönschreibereien und Mythenbildungen, die ver-
schiedenen Zwecken dienen sollen, etwa der nationalen Selbstvergewisserung, der Affirmati-
on und Legitimation bestimmter Verhältnisse.
Auf der Höhe der Zeit, von der diese Untersuchung der staatlichen Sozialpolitik unter-
nommen wird, dokumentieren Begriffe wie z.B. „fürsorglicher Sozialstaat“, „entarteter“,
„totaler“, „totalitärer Wohlfahrtsstaat“, schließlich: „soziale Marktwirtschaft“ in unter-
schiedlichem Ausmaß eine sehr wertgeladene, teilweise hochideologische, zudem undiszip-
linierte Rede- und Denkweise. Die Wortbestandteile „sozial-“ bzw. „Wohlfahrt“ tragen zur
Verwirrung bei. Sie unterlegen den entsprechenden staatlichen Maßnahmen einen ganz
bestimmten Sinn und ein vorrangiges Entstehungs- und Entwicklungsmotiv. Terrainbeherr-
schende und heftig geführte Debatten um die „Schädlichkeit“, den „Wert“ oder „Unwert“,
die „Krisen“, den „Umbau“, den „Mißbrauch“, die „Grenzen“ staatlicher Sozialpolitik, um
„Selbsthilfe“ und „Staatshilfe“, um Sozialpolitik und „neue Armut“, um „Flexibilisierung“,
„Deregulierung“, die Rede vom „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat“ als Ergebnis eines
in den 1880er Jahren beginnenden „sozialistischen Jahrhunderts“ beherrschen die veröffent-
lichte Meinung. Erörterungen über die Folgen der demographischen Entwicklung, der
„Globalisierung“ der Wirtschaft, des Wegfalls der politischen „Systemkonkurrenz“, der
Krise des „Normalarbeitsverhältnisses“ und auch anderer Faktoren für die staatliche Sozi-
alpolitik treten hinzu und verweisen auf den manchmal garnicht so neuen Kontext der Sozi-
alstaatsentwicklung. Der Sozialstaat erscheint im Lichte dieser Diskussionen als schwere
Hypothek für den Wirtschaftsstandort und die internationale Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands. Maßnahmen zu Beginn des 21. Jahrhunderts weisen darauf hin, daß die So-
zialstaatsgeschichte keine Garantie für eine „ewige“ Fortsetzung „bewährter“ Strukturen
beinhaltet, daß sich ein möglicherweise tiefgreifender „Systembruch“ auf manchen Gebie-
ten anbahnt. Die Geschichte der Sozialstaatsentwicklung „belehrt“, daß auch „Brüche“
sozialstaatlicher Entwicklung im Prinzip nicht neu sind.
Vor diesem Hintergrund ist diese Untersuchung der historischen Sozialpolitik kein
reiner Selbstzweck und das Ausweichen in die Geschichte bedeutet nicht, daß sich diese
Arbeit als ein rein „anachronistisches Unternehmen“ versteht. Sie soll die Geschichte für
die Gegenwart und Zukunft fruchtbar machen und für die Diskussionen und Deutungs-
8 Vorwort
kämpfe der Gegenwart eine bessere Perspektive gewinnen helfen. Um aktuelle politische
Auseinandersetzungen und Entwicklungen besser verstehen zu können, erweist es sich hier
wie auch auf anderen Gebieten als nützlich, sich von der Gegenwart zu entfernen, um sie
von einem solchen „entlegenen“ Standort um so besser betrachten zu können. Es wird al-
lerdings darauf verzichtet, eine „Übertragung“ der am historischen Objekt gewonnenen
Erkenntnisse auf die Gegenwart vorzunehmen. Über die Wege und Irrwege der heutigen
Politik soll nicht im Lichte der Analyse und Aufklärung der Geschichte gerichtet werden,
obwohl ein solcher „Sprung“ in die Gegenwart auf dem Gebiet staatlicher Sozialpolitik
besonders erhellend sein kann. Trotzdem möchte diese Untersuchung zum Verständnis der
Gegenwart aus der Geschichte beitragen. An gegebener Stelle, im Vorwort des zweiten
Bandes, werden mit Blick auf die Sozialpolitik der Weimarer Republik die Bedingungen
und Grenzen benannt, die ein derartiges Vorhaben des „Lernens aus der Geschichte“ beach-
ten müßte.
Dieser erste Band der Sozialstaatsgeschichte beginnt, nach theoretischen Vorüberle-
gungen, mit der Darstellung und Analyse der Entstehung der „modernen Welt.“ Am An-
fang steht die Betrachtung und Analyse der Zeit der beschleunigten Transformation einer
ständisch-absolutistischen Gesellschaft, die von der „extremen“ Dominanz des Agrarsek-
tors und einer gebundenen kleinbetrieblichen Gewerbestruktur geprägt war, in eine kapita-
listische Markt- und Industriegesellschaft. Er betont die Bedeutung politischer Faktoren für
die Entstehung des deutschen Sozialstaats und bezieht namentlich die „großen Gefahren“,
mit der revolutionäre Unruhen den Bestand der Gesellschaft bedrohen, in die Betrachtung
mit ein. Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang die Französische Revolution von
1789 mit ihren weitverzweigten Folgen. Diese zeitliche Begrenzung erfolgt wohlwissend,
daß jede Geschichte eine weitere Vorgeschichte hat und daß eine zeitliche Begrenzung
immer auch willkürlich ist. So werden bestimmte Formen des Schutzes und der sozialen
Sicherung, so werden Eingriffe in problematische Gesellschaftsverhältnisse auch in vorka-
pitalistischen und vorindustriellen Lebens- und Wirtschaftsformen, unter anderen Bedin-
gungen also, praktiziert. Diese können fortdauern, sich selbst „modernisieren“ und unter-
laufen damit die üblichen Periodisierungen und Epocheneinteilungen, die in der Ge-
schichtswissenschaft vorgenommen werden. Das ist zu beachten, wenn von einer „Wende“,
einem „Neuanfang“ die Rede ist oder von der „neuen Zeit“, der „modernen Welt“. Das
Streben nach theoretischem Ertrag, nach Erklärungen oder nach „Erkenntnis“ hat zur Folge,
daß mitunter auch diese „alten“ Vorgeschichten, bevorzugt aber jene der „neueren Zeit“
recht intensiv ausgeleuchtet werden. Im Rahmen einer solchen historisch-genetisch struktu-
rierten Untersuchung wird die zu erklärende Tatsache als „Endzustand“ einer längeren
Entwicklungsreihe aufgefaßt. Auf die Frage nach dem „Warum“ wird mit der Darstellung
und Analyse von „Entwicklungsstufen“ geantwortet. Diese Vorgehensweise ist der Natur
des Geschichtsprozesses angemessen, der ja nicht zusammenhangslos ist.
Der Ursprung sozialpolitischen Denkens und Handelns liegt in sozialen Krisen und
Entwicklungserscheinungen, die als störend, inhuman, beängstigend oder bedrohlich emp-
funden werden. Sozialpolitisches Denken kristallisiert zunächst primär an der Wahrneh-
mung einer Tendenz zur Massenverarmung und den daraus erwachsenden Gefahren für die
soziale und politische Ordnung. Später bürgert sich der Begriff der „sozialen Frage“ für
ganz bestimmte, „beunruhigende“ Gesellschaftserscheinungen ein. Er steht für die Tendenz
einer sich entwickelnden industriell-kapitalistischen Gesellschaft, aus sich heraus die bei-
den Grundklassen der „modernen Gesellschaft“, die „freien Lohnarbeiter“ und das „freie“
Vorwort 9
neuzeitliche Unternehmertum zu entbinden. Er steht vor allem auch für die prekäre Lebens-
lage der in diesen Prozeß eingebundenen abhängig Beschäftigten und für die davon ausge-
henden sozialen Spannungen, Unruhen und Organisationsbestrebungen. Hierauf beziehen
sich zunächst die als sozialpolitisch zu bezeichnenden Interventionen. In späteren Entwick-
lungsetappen wird dieser Bezugspunkt überschritten, ohne selbst „aufgegeben“ zu werden.
Es mehren sich nicht nur die Ziele und Objekte, sondern auch die Methoden der „Einfluß-
nahme“ auf einzelne als „störend“ empfundene Gesellschaftszonen im Laufe des Ge-
schichtsprozesses.
Um eine gewisse begriffliche Ordnung in einen hochkomplexen und vielgestaltigen
Untersuchungsgegenstand zu bringen, unterscheidet die Untersuchung zwischen insgesamt
fünf mit bestimmten Geschichtsepochen verknüpften Formen der deutschen staatlichen
Sozialpolitik. Für die sozialpolitischen Projekte vor der eigentlichen Sozialstaatsgründung
im Kaiserreich, die namentlich auf dem Gebiet der „Kassengesetzgebung“ ohne einen all-
gemeinen, umfassenden staatlichen (Versicherungs-)Zwang auskommen, die auf dem Ge-
biet des Arbeiterschutzes unmenschliche Folgen der freien Wirtschaft abmildern und erste
eingeschränkte Möglichkeiten der kollektiven „Selbsthilfe“ ermöglichen sollen, wird der
Begriff der „liberal-staatlichen Sozialpolitik“ verwendet. Der Komplex von Maßnahmen,
der beginnend mit den 1880er Jahren im Kaiserreich verwirklicht wird und am Anfang der
eigentlichen Sozialstaatsentwicklung steht, wird als die „obrigkeitsstaatliche Sozialpolitik“
bezeichnet. Auf diese folgt, beginnend bereits im Ersten Weltkrieg, eine spezifisch „demo-
kratische Sozialpolitik“. Diese sieht die Mitarbeit der Verbände von Arbeit und Kapital am
und im Sozialstaat vor. Sie entfaltet sich in der Weimarer Republik und wird an ihrem Ende
bereits wieder eingeschränkt und abgeschafft. Eingepaßt in die revolutionären Machterobe-
rungsstrategien der kommunistischen Bewegung erscheint vorübergehend das Konzept und
Projekt einer „proletarischen Sozialpolitik“. Auf die „demokratische Sozialpolitik“ folgt
schließlich die „völkische Sozialpolitik“ des „Dritten Reiches“. Dieses verwerfliche und
doppelgesichtige Projekt umfaßt das ganze „Volk“ und nimmt Vorstellungen biologistisch-
rassistischer Art in sich auf. Dementsprechend ist auch vom „demokratischen“ bzw. „völki-
schen Sozialstaat“ die Rede. Eine solche Typisierung bewegt sich an der Grenze des Zuläs-
sigen, vermag der komplexen Fülle der Darstellung aber eine gewisse Gestalt und Struktur
zu vermitteln.
Dieser erste Band zur Geschichte der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland handelt
ganz überwiegend von der „liberal-staatlichen“ und der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpoli-
tik“. Er bewegt sich, sieht man von Verweisungen auf eine fernere Vergangenheit und von
der Zeit des Ersten Weltkriegs ab, im „langen 19. Jahrhundert“ (E. Hobsbawm), das mit
seinen Strukturen und Erscheinungsformen im Ersten Weltkrieg endet, an und in ihm gera-
dezu zerbricht. Der Komplex von Diskussionen und Maßnahmen, der sich aus älteren Dis-
kussionen und von der „Politik der Armut“ allmählich abhebt, und die Lohnarbeiter zum
Ziel hat, gewinnt im 19. Jahrhundert unter der Ägide des „Obrigkeitsstaates“ die Gestalt
einer mehr oder weniger reinen „Staatsveranstaltung“. Dabei geht es im Kaiserreich ganz
wesentlich darum, die Bedrohung der Lohnarbeiterexistenz durch Erwerbsunfähigkeit im
Rahmen eines Systems von staatlicher Arbeiter- bzw. Sozialversicherungs- und Arbeiter-
schutzpolitik zu „bekämpfen“ oder ihre Folgen abzumildern. Damit hat sich eine staatsbe-
zogene sozialkonservative Tendenz durchgesetzt. Durchaus diskutierte sozialliberale Kon-
zeptionen und Kräfte mit ihrer Betonung der Selbsthilfe, der Entfaltung gesellschaftlicher
Kräfte bei nur subsidiären Staatseingriffen, haben es entsprechend schwer. Dabei schreckt
10 Vorwort
der Staat vor einer umfassenden Instrumentalisierung des Zwangs und vor relativ tiefgrei-
fenden Schutzbestimmungen nicht zurück.
Da im folgenden sozialstaatliches Denken und sozialpolitische Praxis weit im Vorder-
grund stehen und mit Blick auf die „Deutungskämpfe“ der Gegenwart sei an dieser Stelle
daran erinnert, daß bereits Jahre vor der Reichsgründung und lange bevor die großen Pro-
jekte der „obrigkeitsstaatlichen Sozialpolitik“ überhaupt „reifen“ eine Abwehrideologie
gegen staatliche Sozialpolitik in voller Blüte steht, die auch der heutigen Zeit nicht „fremd“
ist. Die auf frühliberale Anschauungen aufbauende deutsche „Manchesterschule“, „Man-
chestermänner“, „Freihändler“ bzw. Anhänger „neubritischer“ Wirtschaftsanschauungen
bezweifeln die Sinnhaftigkeit und den möglichen Erfolg staatlicher Sozialpolitik. Im Ex-
trem ist in der ersten Hälfte der 1860er Jahre von der „sogenannten Arbeiterfrage“ die Rede
und den abhängig Beschäftigten wird zur Verbesserung ihrer Lage „Arbeitet und sparet!“
angeraten. Von „absolut gültigen Axiomen“ und „unumstößlichen Naturgesetzen“ der
Wirtschaftsentwicklung ausgehend, meinen diese Volkswirte, daß persönliches Interesse
und Konkurrenz in ihrem Zusammenwirken die „Harmonie“ der Gesellschaft begründen.
Von diesem „Harmoniedogma“ und einer regelrechten „Freiheitsapologie“ ausgehend,
werden Staatseingriffe zu Störungen des naturgesetzlichen Ablaufes der sozialökonomi-
schen Entwicklung und zur eigentlichen Ursache sozialer „Übel“. Darüber hinaus erschei-
nen diesen Volkswirten „Übel“ und „Mängel“ als nur vorübergehend oder als Überbleibsel
einer vorkapitalistischen Epoche. Sogar die Interessen der „Kapitalisten“ und Arbeiter er-
scheinen als harmonisch. Es gäbe keine Gegensätze, die auszugleichen wären, wenn man
den Dingen doch nur ihren freien, ungehinderten Lauf lasse. Es genüge wenn jeder sein
„wahres Interesse“ be- und ergreife. Auch für die Armen und Arbeiter sei ein Staat, der sich
auf seine „Nachtwächterfunktion“ und auf die „Freiheitsgewähr“ beschränke und sich an-
sonsten zurücknehme erstrebenswert. Man könne sich ruhig der volkswirtschaftlichen und
„sittlichen“ Wirkung des freien Tausches überlassen. Staatshilfe ertöte zudem „Selbsthilfe“,
„Selbstverantwortlichkeit“ und „Selbstfürsorge“. Die „Naturgesetze der Volkswirtschaft“
verlangten, auch international, die Beseitigung aller wirtschaftlichen Hemmnisse, damit
sich die Harmonie nach ihren inneren Gesetzen ausbreite.
Allein die Tatsache, daß diese hier kurzgefaßten, zugespitzten und als unwandelbar
dargestellten „klassisch-liberalen“ Auffassungen nicht vorherrschend werden und bleiben,
daß diese antisozialpolitische „Agitationspartei“ wirksame Kritik erfährt, eröffnet den Weg
zur Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik. Es sind mit besonderer Wirkung e-
thisch motivierte, „realistische Volkswirte“, es ist die „staatsinterventionistisch-historische
Schule“ der Nationalökonomie, die sich gegen das „Harmoniedogma“ und die Lehre von
den „wirtschaftlichen Naturgesetzen“ wenden. Der „Augenschein“, historische und räum-
lich-statistische Studien qualifizieren die Dogmata der „Freihändller“ bzw. „Manchesterleu-
te“ als unhaltbar. Mit ihrer Absage an den naturgesetzlichen Ablauf des sozialen Gesche-
hens, verbinden sie die Auffassung, daß Staatseingriffe nicht nur ein ethisches sondern auch
ein Gebot der „politischen Klugheit“ seien, angesichts einer in eine „unheimliche“ Bewe-
gung geratenen Gesellschaft.
Vergleicht man das „lange“ 19. Jahrhundert mit den Zeitläufen, die den Hintergrund
des zweiten Bandes dieser Sozialstaatsgeschichte bilden, so erscheint der hier untersuchte
Zeitraum mit seiner Sozialpolitik als nun doch recht „ferne“ Zeit. Selbst nicht frei von krie-
gerischen Auseinandersetzungen und angsterzeugenden, fundamentalen Transformations-
prozessen, scheint die Geschichte dennoch in vergleichsweise ruhigen Bahnen zu verlaufen.