Table Of ContentSPRACHEN - ZUORDNUNG - STRUKTUREN
EBERHARD ZWIRNE'R
Sprachen - Zuordnung - Strukturen
- Festgabe seiner Schüler für Eberhard Zwirner -
1965
DEN HAAG - MARTINUS NIJHOFF
Redaktion: Hermann Bluhme, Amsterdam
ISBN 978-94-015-2039-3 ISBN 978-94-015-3218-1 (eBook)
DOl 10.1007/978-94-015-3218-1
Copyright 1965 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands
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Zueignung
Vor nicht allzu langer Zeit wurde dem Adressaten dies er Aufsätze nahe
gelegt, ein Buch über aktuelle empirische Ergebnisse seiner Forschungs
richtung zu verfassen - ein freundschaftlicher Rat, dem Wunsch nach
Profilierung des öffentlichen Bildes der Phonometrie entsprungen. Da/3
EBERHARD ZWIRNER ein solches Buch nicht schreiben würde, bedurfte
im Kreis seiner Mitarbeiter und Schüler keiner faktischen Bestätigung.
Ergebnisse der Phonometrie darzustellen, wäre auf ein enzyklopädisches
Unternehmen hinausgelaufen.
Es ist zu bezeugen, wie hervorragend EBERHARD ZWIRNER versteht,
als Methodologe und Lehrer "die Ordnung und Verkettung der menschli
chen Kenntnisse (zul erklären". Da/3 er die authentische Definition desEn
zyklopädischen erfüllt, ist eine Konsequenz des lebendigen Kantianismus
seines Denkens. Das gewünschte Buch sollte Forschungsergebnisse zu
sammenfassen, aber den empirischen Forscher EBERHARD ZWIRNER
lehrt der Methodologe, da/3 sich die methodologische Einheitlichkeit der
Phonometrie allein in methodischer Vielfalt und ständigem Progre/3
verwirklicht.
So hätte das Buch eine heterogene Sammlung von Arbeiten zur deutschen
Dialektologie, Experimentalphonetik, Grammatik, Orientalistik, Psycho
logie-Neurologie, Romanistik und Sprachstatistik werden müssen. lm Sinn
der Anregung konnte derartiges damals nicht liegen. Wenn seine Schüler
aus Anla/3 des 65. Geburtstages von EBERHARD ZWIRNER, dem verehr
ten Lehrer eine Aufsatzsammlung genau dies er Art glauben zueignen zu
dürfen, dann nur zum wenigsten, weil eine Festschrift kein Buch zu sein
braucht. Es geschieht vor allem als Demonstration Zwirnerscher Erfolge:
heute wird die Heterogenität der Beiträge kaum eine Gefahr der Mi/3deu
tung laufen.
Die Autoren überreichen diese Festgabe mit dem Wunsch, noch langeJah
re Weggefährten eines Forschers sein zu können, dessen Autorität sich
aufunermüdliche Bereitschaft zum Trans zend ieren des eigenen Standpunk -
tes nicht weniger gründet als auf erkenntnistheoretische Strenge.
Inhalt
1) W. Bethge und H. Richter; Münster:
Zur Klassifizierung von Morphemen S. 1
für die automatische Verarbeitung
hochsprachlicher Tonbänder des Deut
schen Spracharchivs
2) A. Bloch, Erlangen: Intonation und Satzgefüge S. 40
3) H. Bluhme, Amsterdam: Zur Relevanz der Quantitätsquotienten S. 50
4) H. Grotzfeld, Münster: Aus zweier Zeugen Mund ... S. 61
Ein Beitrag zur Erkenntnis des pho
nologischen Systems arabischer Dia
lekte in Syrien und Libanon
5) G. Grünewald und E. Zuberbier, Düsseldorf: S. 75
Aktivitätstransfer bei simultanem und
sukzessivem Schreiben und Sprechen
6) E. Knetschke und M. Sperlbaum, Braunschweig:
Vokal-Identifikationen anhand der mo S. 80
dulierten THK
7) K. Rensch, Herne: Zur Lage der Mundarten im närdlichenKala S. 89
brien
8) A. Ruoff, Tübingen: Wenkersätze auf Tonband? S. 94
Aus dem Institut für Phonetik an der Universität Münster
und dem Deutschen Spracharchiv Münster
(Direktor: Professor Dr. Dr. E. Zwirner)
ZUR KLASSIFIZIERUNG VON MORPHEMEN
FÜR DIE AUTOMATISCHE VERARBEITUNG HOCHSPRACHLICHER TONBÄNDER
DES DEUTSCHEN SPRACHARCHIVS
von
Wolfgang Bethge und Helmut Richter
Auf dem 4. Kolloquium Rothenberge (8)* wurden Probleme der Speiche
rung grammatischer Kategorien zur elektronischen Verarbeitung der Ton -
bandaufnahmen des Deutschen Spracharchivs behandelt. Die Kolloquiums
teilnehmer gelangten zu der Auffassung, dall es wünschenswert und mög
lich ist, bei der linearen Speicherung von Melldaten- und Lautzeichen
sequenzen Morphemgrenzen anzugeben.
Zur Bestimmung solcher Grenzen könnten Verfahren erwogen werden,
die keine syntaktische Deduktion von Morphemklassen enthalten. Eine
klassifikationsfreie Morphemabgrenzung hätte das Argument für s ich,
daB Vorentscheidungen für bestimmte Kategoriensysteme beim gegenwär
tigen Forschungsstand auf dem Gebiet der Grammatik binnen kurzem
überholt sein können. Abgesehen von einem auf dem Kolloquium gemach
ten Vorschlag, die Grenzen inhaltsbezogener Segmente zu speichern 1),
besälle die klassifikationslose Morphembestimmung jedoch nur beschränk
ten Wert: ihr gegenüber wären Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Einbe
ziehung grammatikalis cher Information in die Speicherung tatsächlich be
rechtigt.
Das Kolloquium hatte Einmütigkeit darüber erzielt, dall keines der auf
CHOMSKY zurückgehenden Postulate jüngster Grammatiktheorien die
empirische Verifikation modellkonsistenter Deduktionen überflüssig
macht oder deren wiederholte Modifizierung ausschliellt. Zu einigen As
pekten der generativen Grammatik lällt sich die Notwendigkeit folgern,
grolle Korpora konkreter Äullerungen zu untersuchen - eine Aufgabe, die
*
Elngeklammerte Ziffern verweisen auf eine Literaturangabe, hochge
stellte Ziffern (vor Klammer) auf eine Anmerkung
- 2 -
wegen der involvierten Zahl und Komplexität logischer Operationen die
automatische Verarbeitung der Daten verlangt. Gedacht ist hierbei VOl'
allem an Untersuchungen ZUl' Grammatizität der Umgangssprache.
Da13 auch in der Grammatikforschung nul' über Vorentscheidungen ein
Weg ZUl' Entscheidung führt, scheint uns mit die wesentlichste der seit
CHOMSKY verbreiteten Einsichten zu sein. Ein Kriterium, von welcher
Entwicklungsetappe der Grammatik an die Klassifizierung gespeicher
ter Morpheme vertretbar ist, gibt es wohl nicht. Wohl abel' gibt es ein
prakt is ches Argument dafür, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mög
lichst bald für grammatikalische Untersuchungen erschlossene grofle
Korpora bereitzustellen. Die Rezeption amerikanischer Grammatikstu
dien droht bei uns aus objektivenGründen hinter deren Entstehungstem
po zurückzubleiben. Produktive Beiträge der europäischen Forschung
sind u. E. nul' auf der Grundlage selektiver Rezeption der amerikani
schenLiteratur möglich gewesen. Prinzipien der Selekt ion jenseits von
Ressentiment oder Befangenheit können allein aus der konkreten Unter
suchung umschriebener Probleme erwachsen.
1. Anlage der Kodierungsgrammatik
Vorstehende Argumentation beinhaltet nicht, da13 bei der Speicherung
k1assifizierter Morpheme keine Vorsicht gegenüber vermeidbarenPrä
judizierungen beobachtet werden solI. Ein Unternehmen, das wie die
Herstellung "digitalel' Duplikate" von Schwerpunktaufnahmen des Deut
schen Spracharchivs als Dienstleistung für die gesamte Sprachforschung
verstanden werden will, ist nicht nul' gegenüber der zukünftigen Entwick
lung, sondern ohnehin gegenüber gleichzeitig nebeneinanderbe -
stehenden wissenschaftlichen Standpunkten ZUl' Offenheit verpflichtet. ZUl'
Klärung der Erwartungen von Spezialisten verschiedener Richtungen
eines jeden in die Speicherung einbezogenen Aspekts der Sprache hat
E. ZWIRNER die Rothenberger Kolloquien begründet.
Wir sind bestrebt, die Elemente eines der Speicherung zugrundezule
genden Kodes so zu definieren, da13 das Material bei der automatischen
Verarbeitung nach verschiedenen begrifflichen Systemen organisiert
werden kann (vgl. 7). Es entspricht diesem Grundsatz, daJ3 wir für die
Klassifizierung gespeicherter Morpheme eine eigene Kodierungsgram
matik aufstellen werden.
- 3 -
Die Kodierungsgrammatik zur Ableitung speicherungsfähiger Morphem
klassen ist eine generative Grammatik. Morphemklassen sind durch ei
nen formalen Ableitungsprozell definiert. Die Zuordnung lautlicher Se
quenzen erfolgt theoretisch über Morphemlisten durch eine morphopho
nematische Ableitung.
Bekanntlich gibt es mehr als ein System von Deduktionen zur Ableitung
der grammatikalisch richtigenAusdrücke eines Idioms (4). Der Satz, dall
die richtigen Ausdrücke einer Sprache einem adäquaten erzeugenden
Grammatiksystem eindeutig zugeordnet sind, ist nicht umkehrbar.
DenAusschlag zugunsten eines bestimmten Ableitungssystems gibt in der
Regel dessen Ökonomie. Für die Kodierungsgrammatik erkennen wir
dem Ökonom iepr inz ip dies eaus s chlaggebende Bedeutung nicht zu 2) . Liegt
dem Kode ein in bestimmter Hinsicht überdifferenziertes Deskriptions -
system zugrunde, so kann bei der Abfragung des Materials Ökonomi
sierung mittels Vereinigungen von Kodezeichen-Mengen erzielt werden;
durch Bildung einer Differenz oder eines Durchschnitts von Mengen der
selben Kodezeichen lassen sich auch die begrifflichen Resultate anders
artiger Deskriptionen auf die Datenfolge anwenden. Hierbei denken wir
sowohl an verschieden zentrierte generative ModeHe, als auch an nicht
generative Deskriptionen.
Die Kodierungsgrammatik präjudiziert also nicht einmal notwendig zu
gunsten der generativen Grammatik. Auch zu diesem Zweck soHte sie
selbst streng generativ sein. Bleiben dabei Wünsche offen, so können
aullerhalb der Ableitung stehende Gesichtspunkte zusätzlich im Kode be
rücksichtigt werden. Es BoHte allerdings bei Zusätzen bleiben.
Wir haben vorausgesetzt, da/l keine blinde Überdifferenzierung in die
Kodierungsgrammatik eingeht. Spezifischer verlangen wir hierzu ihre
Orientierung an praktisch erprobten grammatischen Kategorien.
Nachdem es das Ziel der Kodierungsgrammatik ist, eine Spezifizierung
gespeicherter Textsequenzen zu ermöglichen, werden sich Besonderhei
ten in der Relationierung von "Satzstrukturebene", "Morphemebene" und
"Phonemebene" (1) ergeben.
Von Transformationen soH ein möglichst ökonomischer Gebrauch ge
macht werden.
- 4 -
2. Definitionen
Für die Kodierungsgrammatik zur Klassifizierung von Morphemen sollen
folgende Definitionen gelten (vg!. teilweise 1, 3, 4):
Ein Ausdruck einer bestimmten Sprache ist jedes akustische Signal, das
ein linguistisch geschulter intimer Kenner des ldioms als Manifestation
der betreffenden Sprache beurteilt. Bis heute ist die erlebnismäf3igePrä
senz des Signals Voraussetzung eines solchen Urteils; dieses könnte sich
prinzipiell jedoch auch auf eine geeignete technische Verarbeitung der Sig
naldaten stützen.
Ein Ausdruck einer bestimmten Sprache ist zulässig (grammatikalisch
richtig), wenn er zugleich a) in faktischer Kommunikation, die keine Me
takommunikation3) ist, verwendet wurde, und b) von einem linguistisch
geschulten, nicht mit dem Sprecher identischen intimenKenner der Spra
che als zulässig beurteilt wird.
lnterpretierende Zeichen sind Zeichen, welche die wissenschaftliche ln
terpretation 4) von Ausdrücken einer bestimmten Sprache fixieren.
Eine Passage ist eine Sequenz interpretierender Zeichen. lm Grenzfall
besteht sie aus .nur einem interpretierenden Zeichen. lm Hinblick auf ihre
Zuordnung zum Signal kann eine Passage in eindeutigem Zusammenhang
als Ausdruck bezeichnet werden.
Eine syntaktische Ableitung ist eine Folge von Substitutionen eines einzel
nen interpretierenden Zeichens durch eine Passage oberhalb der phonema
tischen Ebenen. Nach den Substitutionsregeln der syntaktischenAbleitung
müssen alle formalen Strukturen zulässiger Ausdrücke einer bestimmten
Sprache, die den Gegenstand der Untersuchung bilden, einschlieillich der
Anordnung ihrer Konstituenten eindeutig repräsentierbar sein.
lm Rahmen einer syntaktischen Ableitung mit n Substitutionen heiflt ein
interpretierendes Zeichen Derivat i -ter Ordnung, wenn es zum ersten
Mal als Glied einer Passage auftritt, die durch die i-te Substitution (i =
1, 2, ... , n) aus einem einzelnen interpretierenden Zeichen hervorgeht.
Eine morphematische Identifikation ist die Zuordnung eines und nur eines
interpretierenden Zeichens Xj' das seinerseits einem oder mehrerenDeri
vaten n-ter Ordnung zugeordnet ist, zu einer mindestens eingliedrigen
Sequenz / / / / ... phonemisch-allophonischer Zeichen (12) in einem zu-