Table Of ContentHelmut Schnelle· Gert Rickheit (Hrsg.)
Sprache in Mensch und Computer
Psycholinguistische Studien
Herausgegeben von
Gert Rickheit und Dieter Metzing
In der Reihe "Psycholinguistische Studien: Norrnale und pathologische
Sprache und Sprachentwicklung" werden Arbeiten verOffentlicht,
welche die Forschung in diesen Bereichen theoretisch oder ernpirisch
vorantreiben. Dabei gibt es grundsatzlich keine Beschrankung in der
Wahl des theoretischen Ansatzes oder der ernpirischen Methoden. So
wahl Beobachtungs- als auch experirnentelle Studien sollen in dieser
Reihe erscheinen, eben so Arbeiten, die Sprachverarbeitungsprozesse
mit Hilfe von Cornputern simulieren, sofern sie nicht nur lauffiihige
Systeme darstellen, sondern auch deren ernpirische Validitat auf
zeigen.
1m Bereich der pathologischen Sprache sollen neue Diagnose- und
Therapieverfahren sowie Erklarungsansatze fur bestimmte Forrnen
sprachlicher Abweichungen oder abweichender Entwicklungen in die
Reihe aufgenomrnen werden. Arbeiten, die die normale Sprachver
wendung thematisieren, sollen neue Einsichten in die Mechanisrnen
und das Funktionieren der sprachlichen Kornrnunikation vermitteln.
Die Studien, die die Sprachentwicklung zurn Gegenstand haben, sollten
sich thernatisch auf die normale oder auf die gestorte Entwicklung der
Sprache konzentrieren und die ernpirischen Befunde auf entsprechende
theoretische Konzepte beziehen.
Helmut Schnelle· Gert Rickheit (Hrsg.)
Sprache
in Mensch und Contputer
Kognitive und neuronale Sprachverarbeitung
Westdeutscher Verlag
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Sprache in Mensch und Computer: kognitive
u. neuronale Sprachverarbeitung/Helmut
Schnelle; Gert Rickheit (Hrsg.). -
Opladen: Westdt. VerI., 1988
(Psycholinguistische Studien)
NE: Schnelle, Helmut [Hrsg.)
Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann.
Aile Rechte vorbehalten
© 1988 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt.
Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts
gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuliissig und strafbar. Das
gilt insbesondere flir Vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikrover
filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Umschlaggestaitung: Horst Dieter Biirkle, Darmstadt
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich
ISBN-13: 978-3-531-11919-9 e-ISBN-13: 978-3-322-86251-8
DOl: 10.1 007/978-3-322-86251-8
INHALT
Helmut Schnelle und Gert Rickheit
Einfiihrung ............................................................................................. 1
Teil I
Grammatiktbeoretische Ansatze zur prozeduralen Linguistik
Christian Rohrer und Christoph Schwarze
Eine Grammatiktheorie fUr die prozedurale Linguistik:
Die Lexikalisch-Funktionale Grammatik (LFG) ................................................ 9
n
Teil
Computermodellierung natiirlichspracblicher Kommunikation
Dieter Metzing
Prozedurale Sprachanalyse ........................................................................ 6S
Dieter Metzing
Prozedurale Aspekte von Wegauskunftsdialogen .............................................. 81
Christopher Habel
Prozedurale Aspekte der Wegplanung und Wegbeschreibung ............................ 107
Teil ill
Aspekte der prozessualen Linguistik
Helmut Schnelle
Ansatze zur prozessualen Linguistik ........................................................... 137
Die Herausgeber und Autoren .................................................................. 191
Einfiihrung
1. Die Autoren dieses Buches hatten urspriinglich das Ziel, Studenten der Linguistik
fortgeschrittene Modelle der prozeduralen und prozessualen Linguistik vorzustellen. Die
Texte sollten anhand konkreter Fallstudien und Programmierhinweise in das Gebiet einfiih
reno Entscheidende Teile des Buches entsprechen in der Tat dieser Planung. Dies gilt
insbesondere fUr den ersten Teil, die Fallstudien des zweiten Teils sowie die Programmie
rungsanleitungen des dritten Teils. Diese Passagen konnten in einer ersten Lektiire des
Buches ffir sich gelesen werden, wenn die anderen Abschnitte noch zu schwierig erschei
nen.
Bei der Arbeit an unserem Buch hat es sich aber als unurnganglich herausgestellt, dem
interessierten Studenten auch die Reflexion dber die grundlegenden Zielsetzungen und
Fragestellungen und ihre Bedeutung fdr die Linguistik nahezubringen. Grundfragen waren
es schliefilich, die die Entwicklung der Modelle motiviert haben und noch motivieren, denn
es geht in der Linguistik nicht primae urn eine Technik zur Realisation von Sprachproduk
ten - obwohl die dargestellten Inhalte und Methoden auch diesem Ziel dienen werden -,
sondem urn ein Verstiindnis, wie Sprache nieht nur struk.turell-abstrakt, sondem vielmehr
konkret im Gebrauch und in der Realisation in Mensch und Computer existiert. Nur durch
die konkrete innere Auspragung im Organismus oder im Mechanismus, sei es in der
neuronalen Vemetzung der die Sprechakte realisierenden Teile des Gehlms, sei es in der
im Computer verfdgbaren Kombination von universaler Hardware (CPU etc.) und spezifi
scher Software (des gespeicherten Progranuns) wird die Sprache wirksam. Auch bei der
Erarbeitung einzelner technischer LOsungen der Computerlinguistik sollte man dies nicht
aus dem Auge verlieren: Linguistik ist und bleibt eine Wissenschaft und entwickelt sich in
Teilen zu einer Naturwissenschaft -; sie wird nicht zur Technologie - auch dann nicht,
wenn ihr ein neues Forschungsgebiet, die Sprachtechnologie, zuwachsen sollte. So ist es
wohl angemessen, in dieser Einleitung die gegenwartige Forschungssituation und ihren
Stellenwert im intemationalen Kontext theoretisch linguistischer Forschungen kurz zu
urnreiJ3en.
2. Die Aufgabe der Linguistik ist die Analyse der Sprache im allgemeinen sowie der
besonderen Sprachen. Was aber ist Sprache; was sind die Sprachen? Die Antwort lautet
seit Plato: Eine Sprache ist ein organon, eine Gesamtheit von Werkzeugen - den AuJ3e
rungen von Wortem und Satzen -, mit denen einer einem anderen etwas mitteilt. Die
Analyse einer so verstandenen Sprache besteht darin, die Systematik, die sieh in der Form
oder dem Aufbau aller sprachlichen AuJ3erungen zeigt, zu prazisieren. Dies geschieht mit
Hilfe von Granunatiken.
Seit N. Chomsky in den fiinfziger Jahren zeigte, wie Granunatiken als spezifizierte
KalkiiIe mit "rewrite - rules" und "transformation - rules" prazisiert und wie die Sprachen
auf dieser Grundlage im Prinzip mit hOchster Genauigkeit mathematisch urngrenzt werden
konnen, sah man in der Losung dieser Aufgaben das Hauptziel der Linguistik. Man
argumentierte dariiber hinaus folgendermaJ3en: Insofem die Granunatiken die faktischen
Regularitaten im System sprachlicher AuJ3erungen formal systematisieren und notieren,
reprasentieren sie indirekt auch das System, das offenbar in jedem einzelnen Sprecher /
2 Helmut Sehllene und Gert Riekheit
Horer einer Sprache die Fiihigkeit realisiert, das, was man korrekt in der Sprache sagen
kann, von dem zu scheiden, was in der Sprache nicht korrekt ist. Man geht somit davon
aus, daB die Grammatik, d.h. das System der irgendwie notierten Regeln, nicht nur die
Gesamtheit der Satze und Wortformen systematisch erfaBt, sondern auch eine deskriptive
Aussage fiber den psycbischen - oder mentalen - Mechanismus macht, der die Produk.
tion und Rezeption der Satze beherrscht. Dabei gibt man zu, daB diese Aussage auf einer
reIativ abstrakten Ebene verbleibt, der Ebene der "Kompetenz"; in den tatsachlichen Pro
zessen miisse man selbstverstandlich weitere wissenschaftliche Aussagen (etwa solche der
Psycholinguistik und der Neurowissenschaften) ins Spiel bringen, urn die Struktur, die
ergiinzenden Faktoren des Sprachgebrauchs - d.h. der "Performanz" - auch erfassen zu
konnen. Man stellt sich vor, daB diese ergiinzenden Aussagen etwa so mit den grundlegen
den Regeln der Sprache zusammenwirken, wie die physikalischen Regeln der Reibung mit
den Beschreibungen idealer (d.h. reibungsfreier) Bewegungsprozesse der Mechanik.
Das Vertrauen in diesen Ansatz ist durch psycholinguistische Untersuchungen gegen
Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre erschiittert worden. Einige Forscher
wollten aus den beobachteten Phanomenen die Folgerung ziehen, daB die Scheidung zwi
schen Kompetenz und Performanz aufzugeben sei.
3. Einer der konsequentesten Versuche, die psycholinguistische Herausforderung anzuneh
men und die Probleme durch die Entwicklung einer besseren, psycholinguistisch testbaren
Kompetenztheorie zu beheben, fiihrte zur Formulierung der Lexikalisch - Funktionalen
Grammatiktheorie (LFG) durch J. Bresnan und R. Kaplan.
Der erste Teil des vorliegenden Buches stellt die Lexikalisch - Funktionale Grammatik
nach Standard - Form und - Inhalt vor und erganzt sie urn gewisse neuere Mechanismen
("Unifikationsmechanismen"), die es erlauben, Probleme der Kongruenz und Rektion in
formalen Grammatiken angemessen und relativ elegant zu behandeln.
Die Entwicklung der Lexikalisch - Funktionalen Grammatik ergab sieh, wie gesagt, aus
sehr grundsatzlichen Erwagungen, die zu Kriterien fiihrten, auf die auch alternative Ansat
ze, wie z.B. die Teile II und ill dieses Buches bezogen werden konnen. Die genannten
Erwiigungen und Kriterien werden daher bier noch einmal zusammengefaBt und kritisch
kommentiert, und zwar in der Form, in der sie von J. Bresnan und R. Kaplan in der
Einleitung ihres Buches "The mental representation of grammatical relations" (Cambridge,
Mass.: MIT-Press, 1982) vorgestellt wurden.
Die Autoren formulieren es als Aufgabe einer sprachwissenschaftlichen Kompetenztheo
rie, "uns in die Lage zu setzen, unsere Theorien von der mentalen Repriisentation der
Sprache zu vereinheitliehen, unsere Prozefi - Modelle dieses Wissensbereiches zu konstruie
ren und Erfahrungsgegebenheiten, die sich wechselseitig einschriinken, in die Studien von
Prozefi und Struktur einfliefien zu lassen" (ibid., XIX). Mit Recht wird hervorgehoben, daB
die kognitiven Psychologen, Computer - Wissenschaftler und Linguisten, die die psycholo
gische Realitat von Grammatiken in Frage gestellt haben, damit nieht dem Zweifel Aus
druck geben wollten, daB das sprachliehe Wissen (oder Konnen) des Sprechers mental in
Form gespeicherter Strukturen irgendeiner Art repriisentiert werde. Der Zweifel habe sich
eher darauf bezogen, daB diese internen Wissens - (oder Konnens -) Strukturen adiiquat
durch Transformationsgrammatiken wiedergegeben werden - oder iiberhaupt durch
Grammatiken, die sich allein auf Einsichten fiber die Wohlgeformtheit von Satzen grUnden.
Die Herausforderung an Chomskys Theorie sei nicht die philosopbische Frage, ob theoreti
sche Konstrukte sieh fiberhaupt auf mentale Gegebenheiten oder Prozesse beziehen konnten
EinJiihrung 3
(oder sollten), sondern die wissenschaftliche Frage, ob diese theoretischen Konstrukte die
Resultate linguistischer und psycholinguistischer Erforschung mentaler Reprasentationen und
Prozesse vereinheitlichen konnen (ibid., XX).
Entschieden fordern die Autoren, daB die Behauptung, eine Grammatik habe psycholo
gische Realitiit, mehr leisten miisse als bloB die Beschreibung der abstrakten Struktur des
Bereiches sprachlichen Wissens und Konnens: Man miisse Einsicht und Klarheit dariiber
vermitteln, daB die Grammatik der inneren Beschreibung des Sprechers (fUr den Bereich
sprachlichen Wissens und Konnens) entspreche (ibid., XXIII). Wie wiire dies moglich? Da
wir die "innere Grammatik" nicht direkt beobachten konnten, miillten wir ihre Eigenschaf
ten indirekt aus den Beobachtungen schlieBen, die uns zugiinglich seien. Die Verfasser
nennen: linguistische Urteile, Beobachtungen iiber die Ausfiihrung verbaler Aufgaben in
kontrollierten Experimenten, Beobachtungen von Kindem usw. Die linguistischen Daten
seien fiir diese Untersuchungen weder mehr noch weniger privilegiert als andere Daten
(ibid., XXIV). 1m Hinblick auf das, was im dritten Teil dieses Buches diskutiert wird, faUt
auf, daB als "ebenso privilegierte" Daten allenfalls die Ergebnisse psycholinguistischer
Tests genannt werden, wiihrend Beobachtungen und Systematisierungen aus dem Bereich
der linguistischen Neuropsychologie oder der neuropsychologischen Theorie der Feature
Analyse (a la Hubel und Wiesel) oder der Theorie der formalen Nervennetze und ihre
psychologischen Modell-Korrelate aufier Betracht bleiben.
Immerhin wird betont, daB die formalen Reprasentationen der Linguistik dann miichtige
Instrumente zur Untersuchung innerer Grammatiken und Prozesse lieferten, wenn sie mit
den Informationsverarbeitungsansiitzen der Computerwissenschaft und den experimentellen
Methoden der Psycholinguistik verbunden wiirden (ibid., XXIV).
4. Entscheidend ist hier die Interpretation der vagen Formulierung "verbunden werden".
Der erste und zweite Teil dieses Buches folgen im wesentlichen den Auffassungen, die
auch Bresnan und Kaplan leiten, wiihrend der dritte Teil fUr eine radikal neue Interpretation
des "Verbindens" von Ansiitzen der Computerwissenschaft, Psychologie, Neurowissenschaft
und Linguistik pliidiert. Die entscheidenden Standard - Annahmen, die Bresnan und Kaplan
und die Autoren der ersten beiden Teile dieses Buches leiten, sind folgende: Wegen der
Tatsache, daB innere ProzeBabliiufe, ProzeBorganisation und interne Verarbeitungseinheiten
nicht der direkten Beobachtung zugiinglich seien (ibid., XXIII und unten, Teil II, Abschn.
2.0), geniige es, die Prozesse nur in einem global-funktionalen A.quivalent zu charakteri
sieren. Dieses funktionale A.quivalent konne und solIe konsequent im Rahmen des formalen
Inventariums entwickelt werden, das die Theorie der Symbolverarbeitungsprozesse zur
Verfiigung stellt (ibid., Teil II). Danach wird die VerfUgbarkeit des Wissens und Konnens
im Computer aus einem Zusammenwirken einer (zentralen) Prozessor - (einer Rechen
oder Regelbearbeitungs -) Einheit mit einer "Komponente gespeicherten linguistischen
Wissens" erkliirt (ibid., XXXI). Dabei wird angenommen, daB die Wissenskomponente
einerseits linguistische Reprasentationen enthiilt, andererseits (gespeicherte) Informationen
(Regeln, Prozeduren), die vorschreiben, wie linguistische Reprasentationen zu bearbeiten
seien. Aufierdem konnten andere, erganzende Reprasentationen in Betracht kommen, die die
Effektivitiit dieser Verarbeitungsprozesse steuerten. Diese seien aber sekundiir; nur die
linguistischen Reprasentationen bildeten die Reprasentationsbasis (ibid., XXXI).
Allerdings wird die Reichweite der linguistischen Reprasentationsbasis nicht eng ange
setzt. Gewill gehort dazu die eigentlich Lexikalisch - Funktionale Grammatik - wie im
ersten Teil dieses Buches dargestellt. Entschieden wird aber auch betont, daB die Kompe-
4 Helmut Schnelle uod Gert Rickheit
tenzbasis nicht nur die abstrakte Struktur des linguistischen Wissens repriisentieren (und mit
Hilfe des Prozessors modellieren) miisse, sondern daB man auch den kognitiven Charakter
der Prozesse wiederzugeben habe, der die grammatischen Strukturen im wirklichen Sprach
gebrauch und Spracherwerb ableite und interpretiere (ibid., XXIl). Dies, niimlich die
zweckgeleiteten Bedingungen des konkreten Gebrauchs, sowie die Modellierung des Ver
haltnisses von Spracheigenschaften und Kontextbedingungen stehen in den Fallstudien des
zweiten Tells im Vordergrund. Der Leser wird in diesen Studien sehr deutlich erkennen,
daB es sich um symbolisch dargestellte und gespeicherte Repriisentationen von kontextuel
lem Wissen iiber Interaktion und Situation (d.h. den Raum) handelt, die von programmge
steuerten Prozessoren im aktuellen Sprachgebrauch benutzt werden. Die Kombination
"Prozessorinterpretation - gespeichertes Wissen" ist hier darstellungstechnisch grund
legend. Somit wird sowohl im ersten wie im zweiten Teil dieses Buches als selbstverstiind
lich vorausgesetzt, daB es geniige,
- global funktionale Aquivalente zur Charakterisierung des Sprachgebrauchs zu entwerfen
und daB
-die gewohnlichen Darstellungsmittel der symbolischen Informationsverarbeitung -
gespeicherte Symbolstrukturen (wie Symbolketten, Biiume, Graphen) mit regel- oder
prozedurgesteuerten Interpretationsprozessoren - nicht nur ausreichen, sondern als heute
bewiihrte Darstellungsmittel fast allein in Betracht kommen.
s.
Der dritte Teil will gerade diese Annahmen in Frage stellen und Darstellungsmittel
vorstellen, die es gestatten, zu wesentlich kOnkreteren funktionalen Beschreibungen iiberzu
gehen. Es ist doch allzu offensichtlich, daB der global funktionale Ansatz fast keine Aus
sagen dariiber abzuleiten gestattet (allenfalls xxxm - XXXVI) , wie das linguistische
Wissen und Konnen die riiumliche und zeitliche Struktur sprachlicher Prozesse bestimmt.
Es war aber, wie wir sahen, gerade eine der wesentlichen Forderungen der Erfinder
der Lexikalisch - Funktionalen Grammatik, daB Modelle entwickelt werden, mit deren Hilfe
die empirischen Beschriinkungen der linguistischen, psycholinguistischen und neurolinguisti
schen Beobachtungen und Generalisierungen in gleicher Weise ausdriickbar sind, und zwar
so, daB sich die Untersuchungsergebnisse dieser unterschiedlichen Wissenschaften iiber die
Sprache wechselseitig ergiinzen und korrigieren. Dies kann kaum geleistet werden, wenn
man Modelle akzeptiert, in denen die zentralen empirischen Ergebnisse dieser Wissenschaf
ten (Reaktionszeitmessungen der Psycholinguistik) und riiumliche Konfigurationen von
Grofimodulen zu Sprachfahigkeiten oder zu neuronalen Kleinmodulen der Merkmalerken
nung, sowie ihrer Vernetzung, prinzipiell nicht vorkommen konnen. Der dritte Teil dieses
Buches verweist darauf, daB in den letzten Jahren alternative Darstellungsformen entwickelt
wurden, in denen nicht davon ausgegangen wird, daB das Wissen oder Konnen symbo
lisch gespeichert ist und von einem Prozessor interpretiert wird, sondern davon, daB es
gewissermaBen in einem Lernprozefi "verschaltet" ("hardwired") wird.
6. Die Entwicklung dieses Ansatzes ist nicht bloB darstellungstechnisch motiviert. Dahinter
steht die seit Herder in wesentlichen Teilen der deutschen Sprachwissenschaft grundlegende
Auffassung, daB eine Sprache nicht ein System von Mitteln - also gerade nicht ein orga
non, ein Werkzeug, wie man sie seit Platon nennt -, sondern eine Begabung oder Fiihig
keit des Menschen, ein Teil seiner genetisch bestimmten, den Aufbau organisch steuernden
Konstitution ist, die, je nach Umwelteinfliissen (u.a. sprachliche Daten), die Vernetzungen
der Neuronen im Gehirn bestimmt. Der Schall, der mit dem Mund produziert und im Ohr
s
aufgenommen wird, ist nur aufiere Manifestation der Prozesse im Organismus. Eine
Sprache griindet primar in der Gesamtheit der organisch gestiitzten Fahigkeiten der Sprache
einer Sprachgemeinschaft und nur sekundar in irgendwelchen Lautsequenzen und deren
Anordnungsbeschrankungen. Wie H. Paul vor mehr als hundert Jahren betonte, sind die
"mannigfachen Beziehungen, welche die Sprachelemente in den Seelen der Einzelnen
eingegangen sind, das wahre Objekt fUr den Sprachforscher" (in: Prinzipien der Sprachge
schichte, S.12). Wenn diese Auffassung akzeptiert wird, stellt sich die Frage, mit welchen
Darstellungsmitteln die so verstandene Sprache als psychisch - organische Vemetzung
dargestellt und analysiert werden kann.
Dazu ist es nicht erforderlieh, weder die molekularbiologischen Details der Zellkonstitu
tion und -funktion noch die empirisch exakten Funktionsweisen der Neurone unterschiedli
cher Typen zu beriicksichtigen. Es geniigt, beim Entwurf angemessener Darstellungsmit
tel die entscheidenden Prinzipien zu beriicksichtigen, zurn Beispiel die beiden folgenden:
Die Darstellungen sollen zeigen, wie die Leistung des Ganzen durch die Interaktion einer
groBen Zahl von Einheiten, von denen jede nur einfache funktionale Abhangigkeiten reali
siert, zustandekommt. Die Aufgabenspezifitiit der Leistung des Ganzen, also zurn Beispiel
seine Leistung bei der Realisierung der Akte des Sprechens und Verstehens, ergibt sich
allein aus der spezifischen Vemetzung der Einheiten. Dies sind die zentralen Prinzipien des
Konnektionismus.
Zweifellos sind die Darstellungsmittel, die nach diesen Prinzipien angemessen sind,
noch nicht so bekannt wie Systeme von Symbolmanipulationsregeln oder Computerpro
grammen. Sie sind aber in verschiedenen Varianten verfiigbar. Allen Varianten ist gemein
sam, daB man versucht, die Darstellungsweise fUr Prozesse zu beschreiben, die denen
iihnlich sind, die in Nerven - oder nervenahnlichen Systemen ablaufen. Man spricht heute
von parallelen, verteilten Prozessen mit interaktiven Aktivations-Einheiten (vgl. u.a. D.E.
Rurnelhart, J.L. McClelland, Parallel distributed processing - Explorations in the micro
structure of cognition, Cambridge, Mass.: MIT-Press, 1986).
Nerven-"ahnlich" vemetzte Systeme sind aber, wie schon lange bekannt, auch die
logischen Schaltnetze, d.h. die Darstellungsmittel, mit denen die Hardware der Computer
konstruiert wird. Der besondere Vorteil, sieh mit solchen Systemen zu befassen, liegt
darin, daB beim Computerentwurf architektonische Erwagungen wesentlich besser entwik
kelt sind als in den interaktionistischen Ansatzen aus Psychologie und Psycholinguistik. Wie
der dritte Teil zeigen wird, gilt dies besonders fUr solche Konzepte wie Schieberegister und
Datenstrom, die auch in den neuesten Ansatzen der Psychologen noch fehlen.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund fUr die Fruchtbarkeit dieser Ansatze: Der
Entwurfsproze6 ist bei der Hardwarekonstruktion gut durchstrukturiert und erprobt. Dies
gilt nicht nur ffir die Darstellungstechnik und die Konstruktionsprinzipien, sondem vor
allem auch ffir die Simulationstechniken, die dem Austesten der Entwiirfe dienen. In der
Tat existieren Programmierkonzeptionen, die die Prozesse auf dem gew6hnlichen Computer
darzustellen gestatten. Der Vorteil dieser Konzeptionen liegt darin, daB es sieh urn h6here
Programmiersprachen handelt, die leieht zu handhaben sind und die den Benutzer kaurn
noch darin ablenken, daB er sich vorstellt, mit einem daten - und programmspeichemden
Computer zu arbeiten. Die Sprachstruktur wird auch in diesen Modellen als die Struktur
der Vemetzung von Schalteinheiten (Neuronen) erkannt und nieht als Struktur der bei den
Prozessen erzeugten Outputsignale. All dies verlangt ein tiefgreifendes Umdenken. Der
gedankliche Aufwand ist hoch. Der Gewinn liegt aber in der Entwicklung einer Darstel
lungssprache, die das, was Bresnan und Kaplan forderten, wirklich und nicht nur schein-