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MAGAZIN
Sprachbildung ist
Menschenrecht
KONZEPTE • NACHRICHTEN
Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln PROJEKTE • VERANSTALTUNGEN
2
zmi-Magazin | 2014
Inhalt
2014
MAGAZIN
Leitwort
5 M. Becker-Mrotzek, M. Höhne, N. Rehberg: Sprachbildung ist Menschenrecht
Wissenschaft und Forschung
6 S. Wilmes: Was tut sich eigentlich in BiSS
8 M. Weitz / J. Schnuch: FAMILIENSPRACHE(N) + DEUTSCH + ENGLISCH =
ÜBERFORDERUNG? Englisch als Fremdsprache in sprachlich heterogenen Lerngruppen
12 M. Massumi: Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit
Zuwanderungsgeschichte im Praxissemester an der Universität zu Köln
14 H.-J. Roth / H. Terhart: Mehrsprachigkeit im Elementarbereich ausbauen
Eine Umfrage an Kölner Kindertagesstätten zu bestehenden sprachlichen Fähigkeiten
pädagogischer Fachkräfte
15 H. Terhart / N. Rüsch: „Der Seiteneinstieg in das deutsche Schulsystem“
– Studierende erforschen die Praxis an Kölner Schulen
Praxis und Projekte: Aktuelles aus dem ZMI
17 K. Rottmann: Amore zu der schönen Isotta
19 L. Weinrich: Teilen macht Spaß … und DemeK-Unterricht kann auch spannende
Inhalte vermitteln
23 M. Scheerer, S. De Faveri, M. Gallo: Verrückt? Mit Kindern aus dem vierten Schuljahr
nach Venedig. Aus dem Verbund Kölner europäischer Grundschulen
26 A. Kolb: DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration
in Deutschland
28 H. Günday: „Migration umgekehrt“ Schülerinnen und Schüler der Katharina-Henoth-
Gesamtschule drehen einen Film über deutsche Migrantinnen in Adana
Aus Stadt und Land: Ideen und Projekte aus der Region
32 P. Heinrichs: 111 Schulen in den QuisS-Verbund
34 K. M. Ellerbrock: Interkulturelle Zentren fördern Potenzial der sprachheterogenen Gruppen
Zuletzt erschienen ...
36 Aktuelle Neuerscheinungen, vorgestellt vom ZMI
Das ZMI-Magazin ist die Zeitschrift des
Veranstaltungen
Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln:
37 Das Kölner Sprachfest 2014
39 1. Fortbildungstag SEITENEINSTIEG
40 Sitzung der Sprachbeauftragten: Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU)
40 Aus der Reihe Wissenschaft in Kölner Häusern: Migration und Sprache
41 Mehrsprachiger Lesewettbewerb 2014
42 Unterstützungsangebote für Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen der Sekundarstufe I
an QuisS-Schulen
43 Projektetreffen des ZMI am 26. September 2014
44 Fortbildungstag Deutsch 2014
46 Mehrsprachigkeit im Gespräch
46 Impressum
Interkulturelle Glosse
47 „Der Name ist Programm!“ von F. Çevikkollu
zmi-Magazin | 2014
4 mehrwert:
zmi-Magazin | 2014
Leitwort 5
Sprachbildung ist Menschenrecht
von Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Manfred Höhne und Nina Rehberg
In den letzten Monaten sind viele Famili- Jugendlichen für alle
en aus unseren europäischen Nachbarlän- Beteiligten eine gro-
dern sowie auch Krisenländern in unsere ße Herausforderung
Städte und Gemeinden gezogen. Somit dar.
wachsen die Anzahl und die Vielfalt von Gesamtgesellschaft-
Kindern und Jugendlichen mit Zuwan- lich wird Diversität
derungsgeschichte in den frühkindlichen durch zunehmende
und schulischen Bildungseinrichtungen. Globalisierung und
Die notwendige positive Wertschätzung Zuwanderung zum
Professor Dr. Michael LRSD Manfred Höhne Nina Rehberg
für Familien mit Zuwanderungsgeschich- Normalfall – das
Becker-Mrotzek, Bezirksregierung Köln Punktdienststelle
te, auch und gerade für Menschen mit ZMI stellt sich die- Mercator-Institut , Diversity, Stadt Köln
Universität zu Köln
oft traumatischen Fluchterfahrungen, so- ser Aufgabe durch
wie der Umgang mit Vielfalt lassen sich unmittelbare fachliche Unterstützung über Ressource für Mehrsprachigkeit zu nutzen
nicht verordnen. Sehr wohl lassen sich Fortbildungen, konzeptionelle Begleitung und weiter auszubauen.
aber die regionalen Bedingungen zur In- von KiTa´s und Schulen und mit der Unter- In den Schulen der Stadt Köln werden im
klusion und Teilhabe an gesellschaftlichen stützung der Sprachbildung in Ferienschu- Dezember 2014 in mehr als 140 Vorbe-
Prozessen günstig gestalten. Hierbei gilt len. reitungsklassen schulpflichtige Schülerin-
es, die Identität des Menschen und sei- Integration und Mehrsprachigkeit sind nen und Schüler aller Nationalitäten im
ne Individualität als Bereicherung unserer zwei Seiten derselben Medaille, des- „Seiteneinstieg“ unterrichtet. Bei einer
Gesellschaft zu sehen und diese Vielfalt halb stellt die Sprache eine wesentliche Klassengröße von 15-18 Schülerinnen und
positiv für die Entwicklung der Arbeit in Kompetenz dar. Dem Spracherwerb von Schülern erhalten sie dort, eingebunden
Kindertagesstätten oder im schulischen Kindern und Jugendlichen mit Zuwan- in das soziale Netz einer Schulgemein-
Leben und im Unterricht zu nutzen. derungsgeschichte kommt daher eine de, grundlegende Kenntnisse in Deutsch,
Die Angebote und Aktivitäten des ZMI elementare Bedeutung zu. In den KiTa´s lernen das Schulsystem in Nordrhein-
− Zentrum für Mehrsprachigkeit und In- und Schulen muss ihnen das Erlernen der Westfalen kennen und werden zudem in
tegration, besonders in den Bereichen deutschen Sprache ermöglicht werden, der Erkundung ihrer neuen Lebenswelt
der Frühen Bildung, der Schule und der nur dann werden die Kinder und Jugend- begleitet. Ziel ist es, möglichst schnell in
Unterstützung der Eltern und Erziehungs- lichen in unserer Gesellschaft ankommen eine bestehende Schulklasse integriert zu
berechtigten, sind immer Anlass für den und gute Chancen für die Zukunft er- werden. Dort, wo die individuellen und
Umgang mit vielfältigen Kulturen, Le- halten. Neben dieser Voraussetzung für schulischen Voraussetzungen gegeben
bens- und Lerngewohnheiten und den Chancengleichheit sind jedoch die kultu- sind, findet sofort eine Einbindung in be-
individuellen Bildungsvoraussetzungen. relle Identität und die Anerkennung von stehende Klassen statt.
Daher haben die Verantwortlichen des Unterschiedlichkeit, z. B. durch die Pflege Die Einrichtungen der frühen Förderung
Zentrums für Mehrsprachigkeit und Inte- der Herkunftssprache, bedeutsam. unterstützen durch Entwicklungsförde-
gration die Bereiche „Elementarerziehung Konzepte zum Deutschlernen (in mehr- rung und Begleitung ähnlich hohe Zahlen
in der frühen Kindheit“ und die schulische sprachigen Klassen oder in mehrspra- von noch nicht schulpflichtigen Kindern
Förderung im „Seiteneinstieg“ für Kinder chigen KiTa- Gruppen) orientieren sich, aus zugewanderten Familien.
und Jugendliche als Arbeitsschwerpunkt ausgehend von der jeweiligen Her-
für das Jahr 2014 gewählt. Beide Hand- kunftssprache, an den individuellen Ein-
lungsfelder der individuellen Entwick- gangsvoraussetzungen der Kinder und
Näheres zur Struktur und zu den Auf-
lungsförderung sind nicht neu; jedoch Jugendlichen. Sie haben das Ziel, die vor- gaben des ZMI finden Sie auf:
stellt die wachsende Zahl der Kinder und handenen sprachlichen Kompetenzen als www.zmi-koeln.de/index.php/das-zmi
zmi-Magazin | 2014
66 mehrwert:
Aus Wissenschaft und Forschung
Vor einem Jahr haben wir Ihnen an dieser Stelle das Programm „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) vorge-
stellt. Damals waren wir noch in der Planungsphase, die Verbünde waren größtenteils noch nicht an Bord und wir
konnten Ihnen zunächst nur Rahmendaten vorstellen. Seither hat sich viel getan.
Alle Verbünde haben sich konstituiert und konnten sich auf verschiedenen BiSS-Veranstaltungen kennenlernen,
austauschen und vieles aus den Bereichen Sprachbildung, -förderung und -diagnostik erfahren.
Im nachfolgenden Interview mit María José Sánchez Oroquieta, die den Kölner Verbund mit dem Namen „Koordi-
nierte Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten in Deutsch und in der Herkunftssprache während der Primar-
stufe“ koordiniert, möchten wir Ihnen einen Einblick in die Arbeit des Programms BiSS geben und Ihnen gleichzeitig
die Arbeit des Kölner Grundschulverbunds vorstellen. Die drei Grundschulen im Verbund unterrichten nach dem
KOALA-Prinzip, einem Unterrichtsmodell, in dem Grundschullehrkräfte und Lehrkräfte für den Herkunftsprachlichen
Unterricht zusammenarbeiten und ihren Unterricht inhaltlich-methodisch koordinieren. Ein Schwerpunkt ist dabei
die koordinierte Alphabetisierung.
Was tut sich eigentlich in BiSS
von Sabine Wilmes
Sabine Wilmes: Frau Sánchez Oroquieta, was sind die Inhal- Verbundschulen gesichtet und verglichen. Anschließend ha-
te und Ziele Ihrer Verbundarbeit? ben wir an den Schulen hospitiert und mit den Lehrkräften
gesprochen. Gemeinsam mit den BiSS- Multiplikatorinnen
María José Sánchez Oroquieta: Das Hauptziel unseres und -Multiplikatoren an den Schulen und den Schulleitungen
Verbundes ist, dass Schülerinnen und Schüler neben dem Deut- wurde entschieden, standardisierte und normierte Verfahren
schen auch ihre Herkunftssprache auf mindestens annähernd bil- zum Leseverständnis und zur Leseflüssigkeit im Deutschen
dungssprachlichem Niveau beherrschen lernen. Wir entwickeln und gegebenenfalls in einer türkischen Adaption einzuset-
und erproben Verfahren, um die Lese- und Schreibfähigkeiten zen. Es ist uns sehr wichtig, so viele Herkunftssprachen wie
von mehrsprachigen Kindern zugleich im Deutschen und in der möglich einzubeziehen. In unseren Klassen sind bis zu 13 ver-
Herkunftssprache zu stärken. Die (schriftsprachliche) Mehrspra- schiedene Sprachen vertreten. Dafür sollen Strategien für den
chigkeit wollen wir auch bei den Schülerinnen und Schülern för- Unterricht nach dem Konzept Translanguaging (siehe García,
dern, die nicht am KOALA-Unterricht teilnehmen. Wissenschaft- Ofelia, www.ofeliagarcia.org) entwickelt und in sprachhete-
lich begleitet werden wir dabei von der Universität zu Köln. rogenen Klassen im Rahmen des KOALA-Konzeptes erprobt
werden. Durch eine verbundinterne Fortbildungsreihe wer-
Sabine Wilmes: Seit Februar sind nun alle Verbünde dabei, den diagnostische Fähigkeiten und Translanguaging-Strate-
im Mai fand in Berlin die große Auftaktveranstaltung statt und gien vermittelt. Zum Programmende möchten wir ein Hand-
erste weitere Fortbildungen haben stattgefunden. Wie haben buch zum Koordinierten Unterricht im Deutschen und in den
Sie die ersten BiSS-Monate in Ihrem Verbund gestaltet? Herkunftssprachen erstellen. Das Handbuch soll diesen Un-
terricht mit praktischen Beispielen exemplarisch darstellen. In
María José Sánchez Oroquieta: Wir haben zunächst einem Film würden wir gern Unterrichtsausschnitte aus der
die Konzepte der koordinierten Alphabetisierung der drei Alltagspraxis unserer Schulen zeigen.
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Aus Wissenschaft und Forschung 7
Sabine Wilmes: Ein zentraler Punkt in Leseverständnisses und der Leseflüssig-
Hintergrund
BiSS ist die Weiterentwicklung der Kon- keit sollen unsere mehrsprachige Schü-
zepte der Verbünde. Hierzu fand im Juli lerinnen und Schüler einen besseren Zu-
eine Fortbildung im BiSS-Cluster „Quali- gang zum Erwerb der Bildungssprache Das ist BiSS
tätsmonitoring“ statt. Was konnten Sie bekommen. Das soll geschehen, indem
Kinder und Jugendliche in ihrer sprach-
aus dieser Fortbildung zur Weiterent- wir ihr gesamtes Sprachenrepertoire für
lichen Entwicklung noch besser zu
wicklung Ihres Verbundes mitnehmen? den Lernprozess nutzen.
fördern und ihnen so einen gerechten
Zugang zu Bildung und gesellschaftli-
María José Sánchez Oroquieta: Sabine Wilmes: Was sind Ihre Erwar-
cher Teilhabe zu ermöglichen, ist das
Leider konnte ich persönlich an dieser tungen und Wünsche für die nächsten
Ziel des Forschungs- und Entwick-
Fortbildung nicht teilnehmen. Für unseren Jahre im Programm BiSS?
lungsprogramms BiSS. Im Rahmen
Verbund hat Dr. Christoph Gantefort von
des Programms werden in den kom-
der Universität zu Köln, der uns wissen- María José Sánchez Oroquieta:
menden Jahren die vielfältigen Ange-
schaftlich begleitet, teilgenommen und In einigen Kölner Grundschulen arbeiten
bote der Länder zur Sprachförderung,
uns später berichtet. Ich fand besonders Lehrerinnen und Lehrer seit vielen Jah-
Sprachdiagnostik und Leseförderung
das Thema „Selbstevaluation“ interes- ren nach den Prinzipien der Koordinierten
durch Fortbildungen und Beratung
sant. Die Multiplikatorinnen und Multipli- Alphabetisierung (KOALA) und des Koor-
begleitet und weiterentwickelt. Mehr
katoren und die Kollegien in unserem Ver- dinierten Lernens mit großen Erfolgen1.
als 400 Schulen und 200 Kindertages-
bund verfügen über langjährige Erfahrung Vom Programm BiSS erhoffe ich mir eine
stätten aus allen Bundesländern haben
in der mehrsprachigen Alphabetisierung Bestätigung für die Arbeit der Schulen
sich zu Verbünden aus mindestens drei
und im ‚Koordinierten Lernen‘. Sie arbei- im Verbund und dass die Kolleginnen
Institutionen zusammengeschlossen
ten in Teams und besprechen laufend ih- und Kollegen mit ihrem Unterrichtsein-
und beteiligen sich an dem Programm,
ren Unterricht. Wir möchten das, was wir satz auf dem richtigen Weg sind. Mein
das bis 2018 läuft. Weitere Informa-
in der verbundinternen Fortbildungsreihe Wunsch ist, dass mehrsprachige Schüle-
tionen erhalten Sie unter www.biss-
erarbeiten, mit Hilfe der Selbstevaluation rinnen und Schüler fundierte Kompeten-
sprachbildung.de.
überprüfen. zen in der deutschen Bildungssprache
und ihrer Herkunftsbildungssprache mit Der Verbund „Koordinierte Ent-
Sabine Wilmes: Gab es für Sie in den den entsprechenden Methoden und Stra- wicklung von Lese- und Schreib-
ersten BiSS-Monaten ein besonders her- tegien erreichen. Natürlich wünsche ich fähigkeiten in Deutsch und in der
ausragendes Ereignis? mir auch, dass unser Konzept auch an- Herkunftssprache während der
dere Schulen erreicht und dass wir einen Primarstufe“
María José Sánchez Oroquieta: Transfer ermöglichen können.
Ein besonders herausragendes und wich- Drei Grundschulen aus Köln und Hü-
tiges Ereignis war für mich der Vortrag ckelhoven haben sich zu diesem Ver-
„Challenges in reading comprehension: bund zusammengeschlossen. Sie wer-
Academic language and distanced per- den in ihrer Arbeit durch das Zentrum
spectives“ von Professor Catherine Snow für Diagnostik und Förderung und das
von der Harvard University. Darin betonte ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit
Professor Snow die Herausforderungen, und Integration begleitet.
vor denen Schülerinnen und Schüler beim Der Verbund will im Kontext des Mo-
Erwerb der Bildungssprache stehen. Ge- 1 vgl. Reich, Hans H. (2011): Schriftsprachliche duls „Diagnostik und Förderung des
Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen
nau das ist ein zentrales Thema unserer Leseverständnisses“ arbeiten und
und Grundschüler in Köln. In: Bezirksregierung
Arbeit in BiSS. Durch die Förderung des dabei auch produktive schriftsprach-
Köln (Hrsg.): Sprachstark. 12/2011.
liche Fähigkeiten berücksichtigen. Er
knüpft an die Vorerfahrungen an, die
im Regierungsbezirk Köln im Rahmen
info
des Konzepts „Koordiniertes Lernen“
gesammelt wurden: In insgesamt 22
Sabine Wilmes
Projektmanagerin Schulen wird das „Koordinierte Ler-
Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS) nen“ bereits eingesetzt, das neben
Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
der Bildungssprache Deutsch auch die
Universität zu Köln • Triforum
Herkunftssprache(n) der Kinder be-
Innere Kanalstr. 15
50823 Köln rücksichtigt.
[email protected]
zmi-Magazin | 2014
8 Aus Wissenschaft und Forschung
FAMILIENSPRACHE(N) + DEUTSCH +
ENGLISCH = ÜBERFORDERUNG?
Englisch als Fremdsprache in sprachlich
heterogenen Lerngruppen
von Martina Weitz und Johanna Schnuch
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Aus Wissenschaft und Forschung 9
„Sie sollen erst mal richtig Deutsch lernen!“ So lautet der provokativ for- mehrerer Sprachen im frühen Alter keine
mulierte Titel eines Aufsatzes von Thorsten Piske (2007) in der Zeitschrift Überforderung darstellt (vgl. Tracy 2009).
für frühes Englischlernen. Sollen Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, tat- Vielmehr weisen bilinguale Kinder sogar
sächlich bereits in der Grundschule Englisch lernen oder stellt der frühe Vorteile z.B. in Bezug auf kognitives Al-
Erwerb einer weiteren Sprache eine Überforderung dar? tern, kreatives und flexibles Denken oder
die kognitive Kontrollfähigkeit auf (vgl.
Mehrsprachigkeit wird bei uns sehr wi- Schulen trotz der vielen mehrsprachigen Bak et al. 2014; Hufeisen/Gibson 2003;
dersprüchlich gesehen. Einerseits erle- Kinder noch immer ein „monolinguales Festman/Kersten 2010; Bialystok 2009).
ben bilinguale Kindergarten- und Schul- Selbstverständnis“ (vgl. Gogolin 1994) Lassen sich diese positiven Erkenntnisse
programm ein den letzten Jahren einen vorherrscht. Lehrmaterialien, Lehrpläne aus der Bilingualismusforschung auf die
Boom. In Europa breitet sich der frühe und die Organisation des Unterrichts ge- Situation im frühen Fremdsprachenun-
Beginn des Fremdsprachenlernens bereits hen also zunächst (nur) von einsprachig terricht (Englisch als L31) übertragen? Im
ab der ersten Klasse immer mehr aus. Das aufwachsenden Kindern aus. Schülerin- sprachwissenschaftlichen und schulpoliti-
Erlernen weiterer Sprachen gilt angesichts nen und Schüler, die noch eine andere schen Diskurs lassen sich drei Positionen
der Globalisierung als notwendige Vor- Sprache sprechen, werden eher als Prob- identifizieren:
aussetzung für ein erfolgreiches (berufli- lem denn als Normalität, oder gar Berei- Es wird immer wieder die Befürchtung
ches) Leben. cherung wahrgenommen – nur sehr sel- geäußert, mehrsprachige Kinder seien
Andererseits ist das Prestige der Sprachen ten wird auf die vorhandenen Sprachen mit dem frühen Lernen einer weiteren
in unserer Gesellschaft sehr unterschied- Bezug genommen (vgl. Atanasoska 2011: Sprache überfordert und benötigten
lich. Während Französisch oder Englisch 178ff; vgl. Kollmeyer 2007). stattdessen Förderung in ihrer Erst- oder
als lingua franca ein hohes Ansehen ge- Wie Gogolin et al. (2011) feststellen, lässt Zweitsprache. So wird zum Beispiel in den
nießen, werden viele Migrantensprachen sich bisher nicht eindeutig belegen, dass bildungspolitischen Empfehlungen für
als „weniger wertvoll“ oder für die beruf- die Verwendung anderer Sprachen als Baden-Württemberg „insbesondere für
liche Zukunft als weniger „gewinnbrin- der Mehrheitssprache in der Familie tat- Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher
gend“ erachtet und spielen deshalb auch sächlich hinderlich für den Schulerfolg der Herkunft“ empfohlen, erst ab der dritten
in unserem Bildungssystem bisher kaum Kinder ist. Vielmehr weisen auch viele je- Klasse mit dem Fremdsprachenunterricht
eine Rolle. So wird etwa „bilingualer Un- ner Kinder sprachlichen Förderbedarf auf, zu beginnen, damit mehr Lernzeit für die
terricht auf der Schiene Deutsch-Englisch deren Familien zu Hause hauptsächlich deutsche Schriftsprache zur Verfügung
(…) forciert, auf der Schiene der Mig- Deutsch sprechen (ebd. 114; vgl. Steinig steht (Baumert 2011: 15). Die Argumenta-
rantensprachen hingegen mit wachsen- 2013). Die weit verbreitete Sorge, dass tion folgt der sogenannten Time on Task-
dem Misstrauen betrachtet“ (List 2005: mehrsprachige Schülerinnen und Schü- Hypothese: Es wird davon ausgegangen,
250f.). Ressourcen werden daher eher für ler mit dem fremdsprachlichen Lernen dass das Lernen von Sprachen wichtige
Englisch- oder Französisch-Programme in der Grundschule per se überfordert Lernzeit ‚raubt‘. Diese Sichtweise ist je-
als für die Förderung von Minderheiten- seien, lässt sich also nicht belegen. Als doch verkürzt, denn: „die Vorstellung, die
sprachen eingesetzt. Doch den Kindern, einflussreicher für den Schulerfolg als die Zeit, die man mit einer Sprache verbringt,
die mehrsprachig aufwachsen, wird die innerfamiliäre Verwendung des Deut- ginge einer anderen verloren, […] geht
Teilhabe an diesen Programmen verwehrt schen erweisen sich soziale Strukturen, an der Fähigkeit des Menschen vorbei, in
(weil sie präferiert Deutsch lernen sollen) der soziökonomische Status oder die sprachlicher Hinsicht vieles gleichzeitig zu
– eine doppelte „institutionelle Diskrimi- Schul- und Berufsausbildung der Eltern tun“ (Tracy 2009: 165).
nierung“ (vgl. Jeuk 2011: 52). (vgl. Caprez-Krompàk 2010: 21ff.; Entorf
Tatsächlich weist etwa die PISA-Studie 2005: 7). Verschiedene Studien lassen
1 Die L3 (Tertiärsprache) umfasst all die Sprachen,
darauf hin, dass ein Zusammenhang darauf schließen, dass Schulschwierigkei- die nach dem Erwerb von mindestens zwei Sprachen
zwischen bereits vorhandener Mehrspra- ten außerdem auf unzureichende Förde- erlernt werden (vgl. Rohde 2013). In diese zuvor
erlernten Sprachen werden hier auch Zweitsprachen
chigkeit und schlechteren schulischen rungsmaßnahmen in der Erst- und Zweit-
bzw. bilingualer Erstspracherwerb miteingeschlos-
Leistungen besteht: Kinder, die in ihren sprache zurückzuführen sind (vgl. Steinig
sen, obwohl in der Tertiärsprachenforschung als L3
Familien eine andere als die Mehrheits- 2013). Das heißt: die Mehrsprachigkeit strenggenommen nur „diejenigen Fremdsprachen
sprache sprechen, schneiden im Ver- an sich ist nicht für schulische Schwierig- [bezeichnet werden], die in der zeitlichen Abfolge
nach der ersten Fremdsprache, d. h. als 2., 3., 4.
gleich zu monolingual deutschen Kindern keiten verantwortlich zu machen. Ganz
etc. erlernt werden“ (Hufeisen & Neuner 2003: 5;
schlechter ab (vgl. Entorf 2005: 4f.). Gute im Gegenteil: Mehrsprachigkeit kann Hervorhebung nicht im Original). Als Fremdsprachen
Sprachfähigkeiten im Deutschen gelten durchaus positive Auswirkungen auf das werden dabei solche bezeichnet, die im Gegensatz
zu Zweitsprachen nicht die Umgebungssprache
aber u.a. deshalb als Schlüsselqualifikati- weitere Lernen der Kinder haben. Aus der
darstellen, sondern in institutionellen Kontexten
on für schulischen Erfolg, weil an unseren Forschung ist bekannt, dass der Erwerb erworben werden (vgl. z.B. Gass & Selinker 2008).
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10 A us Wissenschaft und Forschung
Während mehrsprachige Kinder im Fach- diesem Grund als besonders nützlich für Verwandtschaft sowie die (empfundene)
unterricht auf Deutsch einen Nachteil ge- das weitere Sprachenlernen angesehen Nähe der beteiligten Sprachen spielen eine
genüber den deutschsprachigen Kindern (vgl. Jessner 2009; Dirim/Müller 2007: 9) Rolle. Wenn wir eine neue Sprache lernen,
haben, wird vielfach davon ausgegangen, und ist außerdem für das Lesenlernen re- setzen wir sie in Beziehung zu den von
dass im Fremdsprachenunterricht für alle levant (vgl. Riehl 2006: 19). uns bereits gelernten Sprachen und stellen
Kinder die gleiche Ausgangssituation fest, welche Sprachen sich näher sind und
herrscht: „Im Englischunterricht beginnen uns deshalb für das weitere Lernen hilfrei-
Hat Mehrsprachigkeit also
alle auf demselben Niveau und haben die cher erscheinen. Wortwissen aus den ver-
einen positiven, negativen
gleichen Möglichkeiten, in der fremden schiedenen Sprachen ist also nicht strikt
oder keinen Einfluss auf
Sprache heimisch zu werden.“ (Mindt/ getrennt voneinander gespeichert, son-
den Erwerb weiterer
Schlüter 2003: 10; zit. nach: Elsner 2007: dern es bestehen Verbindungen zwischen
60). Aus dieser Annahme müsste folgen, Sprachen? den Sprachen. Verwandte Sprachen sind
dass weder Vorteile noch Nachteile für dabei stärker verbunden als Sprachen, die
mehrsprachige Kinder im Englischunter- Studien, in denen der Einfluss von Mehr- wir als nicht so ähnlich empfinden (ebd.).
richt bestehen dürften. Macht man sich sprachigkeit (mindestens zwei Sprachen) Im Hinblick darauf, in wie weit es Lernen-
jedoch bewusst, dass mehrsprachige Ler- auf das Erlernen weiterer Sprachen unter- den gelingt, bisherige Sprachkenntnisse
nende sehr unterschiedliche Kompetenzen sucht wird, kommen zu stark voneinander zu nutzen, spielt nicht zuletzt die beste-
in ihren vorhandenen Sprachen mitbringen abweichenden Ergebnissen. Das liegt oft hende Sprachkompetenz in den zuvor
und auch hinsichtlich ihrer bisherigen posi- daran, dass die Studien unterschiedliche erworbenen Sprachen eine wichtige Rol-
tiven oder negativen Sprachlernerfahrun- Bereiche untersuchen. Studien zu allge- le. Wenn die Erstsprache der Lernenden
gen sehr heterogen sind, wird deutlich, meinen Sprachkompetenzen sind nur be- vernachlässigt oder gar unterdrückt wird
dass es sich hier um eine stark vereinfach- dingt vergleichbar mit solchen, die sich auf (subtraktiver Bilingualismus), kann sich
te Sicht handelt (vgl. z.B. Elsner 2007). ganz spezifische Sprachaspekte beziehen Mehrsprachigkeit negativ auswirken. Je
Zieht man hingegen in Betracht, dass (vgl. Jessner 2009: 27). So lässt sich er- besser mehrsprachige Kinder aber ihre
mehrsprachige Kinder bereits Erfahrungen klären, dass einige Studien zeigen, dass Erst- bzw. Zweitsprache beherrschen,
mit dem Erwerb einer Zweit-/Fremdspra- mehrsprachige Lernende beim L3-Erwerb desto besser gelingt es ihnen, auf ihre bis-
che gemacht haben, kann sogar davon Vorteile gegenüber monolingualen Spre- herigen Sprachkenntnisse zurückzugrei-
ausgegangen werden, dass ihnen hier- cherinnen und Sprecher haben (z.B. Hoti/ fen (Jessner 2009)2. Nach Elsner (2012)
durch Vorteile gegenüber den mono- Müller et al. 2009; Özdemir 2006; Klie- nimmt auch die Vertrautheit der Kinder im
lingual deutschen Kindern in Form von me et al. 2006), während andere Studien Umgang mit bestimmten Textstrukturen
Lernstrategien oder einer anderen Selbst- auf das Gegenteil hinweisen (z.B. Elsner einen Einfluss (vgl. ebd. 49).
sicherheit in Bezug auf das Sprachenler- 2007). Globale Aussagen über Vorteil Daraus folgt: Alle vorhandenen Sprachen
nen entstehen (vgl. Riehl 2006: 19). Aus oder Nachteil von Mehrsprachigkeit für sollten intensiv gefördert und auch im
der Tertiärsprachenforschung weiß man, das Fremdsprachenlernen sind daher nur Fremdsprachenunterricht wertgeschätzt
dass beim Lernen der Drittsprache auf die schwer möglich. Auch deshalb, weil die werden (Wichtig sind hier vor allem die
Erfahrungen aus dem Zweitspracherwerb Voraussetzungen der mehrsprachigen schriftsprachlichen Kompetenzen (vgl.
zurückgegriffen werden kann (Hufeisen/ Kinder äußerst heterogen sind (vgl. Brizic Riehl 2006: 22). Wird im Fach- und
Gibson 2003; Jessner 2009). Außerdem 2009; Thee 2006). Fremdsprachenunterricht auf die Famili-
verfügen bilinguale Kinder über beson- Unter bestimmten Bedingungen können ensprachen der Kinder Bezug genommen,
ders ausgeprägte metalinguistische Fähig- mehrsprachige Lernenden aber tatsäch- fördert dies nicht nur das Potential für
keiten (Jessner 2009: 37). Metalinguistic lich von ihrer Mehrsprachigkeit profitieren weiteres Sprachenlernen, sondern auch
awareness (sprachliches Reflexionsver- – nicht nur in Bezug auf weiteres sprach- die Persönlichkeitsentwicklung der Kin-
mögen) meint die Fähigkeit, über Sprache liches Lernen, sondern auch im Hinblick der: Identitätskonflikte können vermieden
zu sprechen, nachzudenken oder Sprache auf ihre soziale und kognitive Entwicklung werden, weil nicht – wie es leider häufig
– Worte, Sätze, Reime - zu manipulieren. (vgl. Jessner 2009: 27). Ob die zuvor ge- im monolingual orientierten Schulkontext
Diese Bewusstheit hilft zum Beispiel beim lernten Sprachen beim Erwerb weiterer geschieht - ein Teil der (sprachlichen)
Übersetzen, bei der Selbstkorrektur oder Sprachen positiv genutzt werden können, Identität ständig ausgeschlossen wird.
dabei, Ähnlichkeiten und Unterschiede scheint nach Jessner (2009) von diversen Dass es sinnvoll ist, die Erstsprachen der
im Wortbereich, der Aussprache oder der Faktoren abhängig zu sein: Der gesell-
2 Ein solcher Zusammenhang wurde bereits von
Schreibung verschiedener Sprachen zu schaftliche Status, den eine Erstsprache
Cummins (2000) in seiner Schwellen- /Interdepen-
entdecken. Language awareness wird aus besitzt, aber auch die sprachtypologische denzhypothese formuliert.
zmi-Magazin | 2014
Description:Englisch als Fremdsprache in sprachlich heterogenen Lerngruppen. M. Massumi: Zuwanderungsgeschichte im Praxissemester an der Universität zu Köln. H.-J. Roth / H. Terhart: .. als „weniger wertvoll“ oder für die beruf- liche Zukunft als leri arasında Adana'dan Köln'e okullarının Almanca