Table Of ContentKarl Lenz
Soziologie cler Zw eierbeziehung
Karl Lenz
Soziologie cler
Zweierbeziehung
Eine Einfiihrung
Westdeutscher Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Lenz, Karl.:
Soziologie der Zweierbeziehung : eine Einfiihrung /
Karl Lenz. -Opladen : Westdt. VerI., 1998
Aile Rechte vorbehalten
© Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1998
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Umschlaggestaltung: Horst Dieter Biirkle, Darmstadt
ISBN-13: 978-3-531-22177-9 e-ISBN-13: 978-3-322-83768-4
DOl: 10.1007/978-3-322-83768-4
INHALT
EINLElTUNG 7
TElL I: ZWEIERBEZIEHUNGEN ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND 9
1. Ehen als Randthema der Familienforschung 9
1.1. Wachsende Eigenstandigkeit der Ehe 11
1.2. Verlust der Monopolstellung der Ehe 14
2. Zweierbeziehung als personliche Beziehung 25
2.1. Spurensuche fur eine Soziologie personlicher Beziehung 25
2.2. Forschungsbereich der "personal relationships" 27
2.3. Bestimmungsmerkmale einer personlichen Beziehung 32
3. Zweierbeziehung -Begriff und Arbeitsprogramm 42
3.1. Z weierbeziehung als neuer Leitbegriff 42
3.2. Eckpunkte einer Soziologie der Zweierbeziehung 47
TElL II: VERLAUFSPHASEN VON ZWEIERBEZIEHUNGEN 57
1. Aufbauphase von Zweierbeziehungen 63
1.1. Herkommliche Forschungsschwerpunkte 63
1.2. Aufbauphase als interaktiver ProzeB 70
2. Bestandsphase von Zweierbeziehungen 88
2.1. Umbriiche in den Schwellen-Wendepunkten 90
2.2. Macht in Zweierbeziehungen 98
2.3. 'Fortdauer der Bestandsphase 108
3. Krisenphasen in Zweierbeziehungen 114
3.1. Krisen, Konflikte und Gewalt 114
3.2. Krise -Anfange und Bewiiltigungsformen 118
3.3. Konflikte in Zweierbeziehungen 124
3.4. Gewalt in Zweierbeziehungen 132
4. Auflosungsphase von Zweierbeziehungen 140
4.1. Ein Grundmodell der Auflosungsphase 143
4.2. Rollendifferenzierung und Erklarungsbedarf 148
4.3. Plurale Verlaufsmuster in der Auflosungsphase 156
4.4. "Es ist SchluB" -die Zeit danach 161
6
TElL III: ZWEIERBEZIEHUNGEN UND KONSTRUKTION
VON WIRKLICHKEIT 169
1. Wirklichkeitskonstruktion -Grenzen und Mi:iglichkeiten 169
2. Identitat und Identitatarbeit 178
2.1. Facetten der Identitat 178
2.2. Kontinuitat, Individualitat und Ritualitat 191
2.3. Identitatsarbeit in Zweierbeziehungen 196
3. Beziehungsarbeit in Zweierbeziehungen 215
3.1. Realitatskonstruktion im Beziehungsverlauf 215
3.2. Kristallisationsformen der Paar-Einheit 233
3.3. Paar-Netzwerk als Beziehungsarbeit 241
TElL IV: EMOTIONEN IN ZWEIERBEZIEHUNGEN 255
1. Emotionen aus soziologischer Perspektive 256
1.1. Emotionen im sozialen Kontext 260
1.2. Emotionen als kulturelles Programm 262
2. Liebe als kulturelles Programm 266
2.1. Merkmale der romantischen Liebe 267
2.2. Ausbreitung der romantischen Liebe 272
2.3. Auf dem Weg zu einem neuenLiebesideal? 279
3. Liebe in Zweierbeziehungen . 292
3.1. Kulturelle Codierung und "gelebte" Liebe 292
3.2. Liebe -meGbar gemacht 296
3.3. Arbeitsfelder aus konstruktivistischer Perspektive 298
BIBLIOGRAPHIE 303
SACHREGISTER 327
AUTORENREGISTER 329
Einleitung
Eduard und Ottilie, Effi Briest und Baron Innstetten, Professor Unrat (Raat) und Rosa
Frohlich, Thomas und Gerda Buddenbrook, Madame Bovary und Leon.
Oder: Harry und Sally, Paul und Paula; (Ted) Kramer gegen Goanna) Kramer, Alvy
Singer und Annie Hall, Dan Gallagher und Alex Forrest.
Oder: Tristan und Isolde, Telramund und Ortrud, Otello und Desdemona, Carmen
und Jose, Torvald und Nora Helmer.
Oder: Jean-Paul-Sartre und Simone Beauvoir, Gert Bastian und Petra Kelly; Prinz
Charles und Diana, Gerhard und Hiltrud Schroder, Bill und Hillary Clinton.
Die mehr oder minder willkurliche Auswahl von fiktiven und realen Paaren, die
aus bekannten Romanen, Filmen, Opern und Theaterstiicken stammen bzw. "uns" als
Personen des Zeitgeschehens in der medialen Vermittlung "bekannt" sind, eroffnet
einen Einblick in die reichhaltige Dynamik der Zweierbeziehungen. Sichtbar werden
die Irrwege des Kennenlernens, Strategien der Kontaktanbahnung, aufflammende
Leidenschaften, das grenzenlose Gluck, Versuche, das Gluck festzuhalten, das Ein
richten fester Routinen, Unterschiede in der personlichen Nahe und Erreichbarkeit,
das gewachsene Vertrauen, die hohen gegenseitigen Unterstiitzungs- und Stabilisie
rungsleistungen, unterschiedliche Treue/Untreue-Regelungen, die Modellierung der
Akteure, das Ausbrechen aus der Konvention, Eifersucht, HaB und Verachtung,
Grenzen der Kommunikation, die Beziehung als Abenteuel', die Tragik des Scheitel'ns,
das hohe Lebensrisiko, das mit der "Liebe" einhergehen kann und vieles mehr.
Romane, Filme und Opern -urn nur diese Genres zu nennen -sind uberreich an
Beziehungsgeschichten. Das hohe Interesse am Innenleben von Paarbeziehungen ist
nicht nur auf den Kunstbetrieb begrenzt. Mit hoher Willbegier werden Paarbildung,
Affaren, I<risen und Trennungsgeschichten bekannter Personen durch Klatschge
schichten kolportiert oder gar in Biographien recherchiert. Fur letzteres ist die Reihe
"Paare" eines groBen deutschen Verlages nur ein BeispieL Die Soziologie hat sich von
diesem "Beziehungsfieber" nicht anstecken lassen; ihr Interesse an Ehen und ehe
ahnlichen Beziehungen ist -wie ich im ersten Teil ausfuhrlich zeigen werde -schwach
ausgeptagt. Zwar ware es verfehlt, den Eindruck zu erwecken, eine "Soziologie der
Zweierbeziehung" sei etwas ganz Neues. (In diesem Fall ware es schwer moglich, eine
"Einfuhrung" zu schreiben). Da aber ihre Erforschung in der Soziologie zu keinem
eigenen Forschungsbereich gefuhrt und sich auch keine Forschungstradition etabliert
hat, ist es fur das anstehende Projekt einer Soziologie der Zweierbeziehung erforder
lich, aus unterschiedlichen Zusammenhangen stammende Vorarbeiten zu verknupfen,
lose verbundene, z.T. vollig disparate Wissensbestande zu systematisieren und zu
8 EINLEITUNG
biindeln sowie vor aIlem diese Materialien fur einen soziologischen Fokus zu schiirfen.
Wenn hier dafur pladiert wird, daB Zweierbeziehungen in das Rampenlicht
soziologischer Aufmerksamkeit gehCiren, dann folgt dies nicht der Devise, daB, wenn
aile von Beziehungen reden, auch die Soziologie sich dem nicht verschlieBen darf. Mein
Pladoyer sriitzt sich vielmehr darauf, daB Zweierbeziehungen den Protoyp der Ver
gemeinschaftung bilden und ihre Ausblendung als Forschungsgegenstand ein groBer
Schaden fur die Mikro-(Soziologie) ist. Zugleich hat, und dies ist die andere Seite
meines Pladoyers, die Soziologie -wie ich zu zeigen versuche - das Potential, einen
eigenstandigen Beitrag fur die Erforschung von Zweierbeziehungen zu leisten.
Zwei weitere Gesichtspunkte haben mich beim Schreiben dieser Einfuhrung
geleitet: (1) Eine Soziologie der Zweierbeziehung ist nicht eine weitere der unzahligen
Bindestrichsoziologien. Sie gehort vielmehr als zentraler Teil einer Soziologie personli
cher Beziehung in den Kernbereich der Soziologie. 1m Unterschied zu den Ebenen der
Gesellschaft, der Organisation und auch der Interaktion stellt die personliche Bezie
hung eine eigenstandige Ebene dar, die bisher stark unterbelichtet geblieben ist. Hier
besteht ein groBer Nachholbedarf. Um diese Zugehorigkeit sichtbar zu machen, lege
ich ein besonderes Gewicht auf die Verkniipfung mit theoretischen Grundlagen der
Soziologie, wobei ich mich vor aIlem auf die interpretative Tradition im AnschluB an
Georg Simmel und Erving Goffman stiitzen werde. (2) Zugleich geht es mir darum,
deutlich zu machen, daB eine Soziologie der Zweierbeziehung unvoreingenommen
nach Forschungsmaterialien Ausschau halten soll. Es ist viel zu eng gefaBt, nur mit
Interviews, egal ob mit Fragebogen oder als narratives bzw. Leitfaden-Interview, zu
arbeiten. Auch Romane, Filme, Tagebiicher, Alltagsbeobachtungen, Beziehungsrat
geber, therapeutische Fachliteratur usw. konnen reichhaltige Materialien sein.
Die vorliegende Einfuhrung stellt ein Kondensat einer sich iiber Jahre erstrecken
den wissenschaftlichen Beschaftigung mit Beziehungen dar. Vielen Kolleginnen und
Kollegen, Freundinnen und Freunden habe ich fur vieWiltige Anregungen und fur ihre
breite Untersriitzung zu danken. Teile dieser Arbeit gehen auf meine Regensburger
Assistentenzeit zuriick. Vieles davon habe ich in anregenden Abenddiskussionen mit
Robert Hettlage ausfuhrlich erortert, an die ich weiterhin gern zuriickdenke. Fortge
fiihrt habe ich die Arbeiten seit 1992 in Dresden. An beiden Orten hat mich meine
Kollegin und gute Freundin Ulrike GraBel iiber die MaBen untersriitzt und mich
angeregt, weiterzudenken. Besonders danken mochte ich schlieBlich meinem engen
Mitarbeiter/innen-Netz: Bernhard Wagner und An~e Schneider (als wissenschaftliche
Mitarbeiter/innen) sowie Julia Kutschenreuter, Cornelia Gansauge, Michael Fiicker und
Henriette Zehme haben durch ihren hohen Arbeitseinsatz die Fertigstellung, die
graphische Aufbereitung und Endredaktion erst moglich gemacht.
TElL I:
ZWEIERBEZIEHUNGEN ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND
1. Ehen als Randthema der Familienforschung
FUr die Familienforschung ist die Namensgebung Programm; sie ist mit Familien
befaBt, Ehen kommen bis heute ganz uberwiegend nur in bezug auf die Familie in den
Blick. Eine Eheforschung hat sich im Bereich der Familienforschung nie -besonders
ausgepriigt im deutschsprachigen Bereich -zu einem eigenstandigen Teilbereich entwik
kelt (vgl. Kaufmann 1995; Lenz 1990; Matthias-Bleck 1997); entsprechend wurde es nie
als notwendig angesehen, von "Ehe- und Familienforschung" zu sprechen. Ein als
grundlegend aufgefaBter enger Verweisungszusammenhang von Ehe und Familie (vgl.
Tyrell 1985) hat dazu gefuhrt, daB Ehe primiir aus dem Blickwinkel der Familie thema
tisiert wurde. Die Ehe wurde -und wird z.T. auch weiterhin -lediglich als ein kurzer
und dadurch auch unbedeutender Vorlauf zu einer als dem "eigentlichen Zweck" oder
"eigentlichen Motiv" aufgefaBten Familienbildung angesehen. Dieser Verweisungs
zusammenhang war noch in den soziologischen Ehedefinitionen aus den 80er Jahren
ein gangiges Element!:
"Ehe ist nach traditioneller und im Zivilrecht vorherrschender Auffassung eine (relativ) dau
erhafte und rechtlich legitimierte Lebens- und Sexualgemeinschaft zweier (ehe-)miindiger
verschiedengeschlechtlicher Partner, die den Vorsatz haben, die von der Frau geborenen Kinder
rechtsverbindlich als die eigenen an':{Uerkennen" (Hermann L. Gukenbiehl 1986: 55; Hervorhebung
KL.).
"Mit Ehe bezeichnet man eine durch Sitte oder Gesetz anerkannte, auf Dauer angelegte Form
gegengeschlechtlicher sexueller Partnerschaft. Weiterhin ist ein wesentliches Strukturmerkmal
aller Ehen, auch der modemen, daB sie liber das bloBe personale Paarverhiiltnis auf Gruppen
bildung -aufFamilie -hinausweis/' (Nave-Herz 1989a: 6; Hervorhebung KL.).
Anders als im deutschsprachigen Raurn ist es in den USA immerhin ublich, diesen
Forschungsbereich mit "marriage and family" zu benennen. Diese Benennungsunter
schiede gehen in der amerikanischen Forschung auch mit einer stiirkeren Aufmerksam
keit fur die Ehe einher. Allerdings handelt es sich hier nur urn relative Unterschiede, die
1 Dieser Verweisungszusanunenhang kehrt auch in der strukrurtheoretisch angelegten Familiensoziolo
gie von Tilman Allert (1998: 214) wieder: Das Hauptanliegen sei, "die Vielfalt der Handlungsmuster
in Paarbeziehungen aus dem dynatnischen Potential des Dritten" heraus zu erkaren.
10 ZWEIERBEZIEHUNGEN ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND
jedoch nichts am Gesamteindruck andern konnen, daB die Ehe in der Forschungs
relevanz weit hinter der Familie zuriickbleibt. Uberhaupt fant auf, daB die Ehe als
Forschungsgegenstand im amerikanischen Ra.urn erst auf dem Umweg wahrgenomme
ner "Probleme" der Familie "entdeckt" wurde. Es sind vor ailem drei "ehebezogene"
Themenbereiche, die in der amerikanischen Forschung Tradition haben: die Partner
wahl, Ehequalitat oder Ehezufriedenheit und Scheidungen, und aile drei wurden durch
die sich ausbreitende "Sorge" urn die wachsende Instabilitat von Familien angestoBen.
Die Entdeckung der Partnerwahl als Thema war eng mit der Befurchtung verbunden,
daB die wachsende Bedeutung des romantischen Ideals bei der Wahl des Ehegatten
bzw. der Ehegattin desorganisierend auf Familien wirke. Mit der Ehequalitat oder
-zufriedenheit wollte man den "Vorraum" einer moglichen Trennung inspizieren,
gerade auch urn einen Beitrag zur Prophylaxe zu leisten. Bei der Ehescheidung domi
nierten neben der Suche nach sozialdemographischen Merkmalen, die Ehen besonders
anfillig machen, vor ailem die "Scheidungsfolgen", und zwar lange Zeit fast ausschlieB
lich hinsichtlich der Konsequenzen fur die Kinder. Alle drei Themenkomplexe, die in
der deutschsprachigen Familienforschung keine vergleichbare Bedeutung erlangen
konnten, begriinden zwar eine hohere Aufmerksarnkeit fur die Ehe im amerikanischen
Kontext, zeigen aber zugleich, wie sehr auch diese an eine dominante "Familien-Optik"
gebunden bleibt.
Dieses Versaurnnis resultiert aus einer unkritischen Ubernahme und Fortschrei
bung des "biirgerlichen" oder "modernen" Familienmodells -und damit einer histo
risch gebundenen Familienform -als Grundkategorie der Familienforschung. Dieses
Familienmodell ist im 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Burgertums ent
standen und setzte sich nach und nach auch in anderen sozialen Milieus als dominante
Familienform durch (als Uberblick vgl. Lenz/Bohnisch 1997). Ein zentrales Kenn
zeichen dieses modernen Familienmodells ist die "institutionelle Koppelung" (Ty
rell/Herlth 1994) von liebesfundierter Ehe und Elternschaft. In diesem Familienmodell
wird die Elternschaft als die Vollendung der Ehe, die Familiengriindung als der eigentli
che Zweck der Heirat aufgefaBt. Die Ehe verschwindet hier weitgehend in der Familie,
sie wird fraglos unter die Familie subsurniert. Anstatt dieser historisch gebundenen
Familienform einen analytischen Familienbegriff entgegenzusetzen, hat die Familien
forschung dieses Familienverstiindnis zurn Axiom erhoben.
EHEN ALS RANDTHEMA DER FA MILIENFORSCHUNG 11
1.1 Wachsende Eigenstandigkeit der Ehe
Lange Zeit ist diese weitgehende Vernachlassigung der Ehe in der Familienforschung
unter den Bedingungen der kulturellen Hegemonie des modernen Familienmodells
nicht weiter aufgefalIen. Mit der Familie als Forschungsgegenstand schien auch die Ehe
hinreichend abgedeckt zu sein. In der Gegenwart ist dies aber im wachsenden MaBe -
wie Verschiebungen im Forschungsinteresse zeigen (vgL z.B. Schneewind/Vaskovics
1992; 1996; Matthias-Bleck 1997; Vaskovics/Rupp /Hoffmann 1997; Schneider/Rosen
kranz/Limmer 1998) -immer weniger haltbar. Familiensoziologische Studien "entdek
ken", daB es auch jenseits der Familie noch "Leben" gibt. Hierzu haben nachhaltig
Tendenzen einer wachsenden Eigenstandigkeit der Ehe einerseits und eines fort
schreitenden Bedeutungsverlustes der Ehe andererseits beigetragen. Weithin Konsens
besteht damber, daB diese Tendenzen das Ergebnis eines forcierten Modernisierungs
prozesses sind (als Uberblick vgL Hettlage 1992). Kontrovers dagegen wird diskutiert,
ob das "Kernstiick" dieses Wandlungsprozesses als "Individualisierung" (Beck/Beck
Gernsheim 1990), als "Differenzierung" (Meyer 1992; Nave-Herz 1997) oder als
"Deinstitutionalisierung" (Tyrell 1988) zu deuten ist. Hier soli es im weiteren nicht urn
diese Erklarungsversuche gehen, sondern um die Phanomenebene: Zunachst werden
einige Tendenzen der wachsenden Eigenstandigkeit der Ehe aufgezeigt, im folgenden
Teilkapitel dann Tendenzen des Bedeutungsverlustes der Ehe.
Schon mit dem Ubergang zur Industriegesellschaft wurde die Nachfamilienphase
("empty nest") im Familienzyklus zu einer Massenerscheinung, aber ihre immense
Bedeutungssteigerung ist ein ungleich neueres Phanomen. Zu dieser Bedeutungs
zunahme der Nachfamilienphase tragt die starke Zunahme der Lebenserwartung bei,
die z.B. von 1960 bis 1990 fur westdeutsche Manner urn sechs Jahre auf 73,0 Jahre und
fur ostdeutsche Manner urn zweieinhalb Jahre auf 70,2 Jahre sowie - noch deutlich
ausgepragter -fur die westdeutschen Frauen um zehn Jahre auf 82,4 Jahre und fur die
ostdeutschen Frauen um neun Jahre auf 81,3 Jahre gestiegen ist. 1m europaischen
Durchschnitt hat sich in diesem Zeitraurn die durchschnittliche Lebenserwartung der
Manner um gut funf Jahre, der Frauen um sechseinhalb Jahre erhoht (vgl. Hopflinger
1997; Dinkel 1994). Zur Bedeutungszunahme der Nachfamilienphase tragt auch bei,
daB sich die Familienbildung ganz iiberwiegend auf ein Kind oder auf zwei I<:inder
beschrankt. Werden zwei oder mehr Kinder in einer Familie geboren, laBt sich gleich
zeitig eine deutliche Tendenz zur Verringerung der Geburtenabstande feststellen. Auch
wenn die nachwachsende Generation heute aufgrund der Verlangerung der
Ausbildungszeiten oftmals langer in ihrer Herkunftsfamilie verweilt, ist in alIer Regel
die Schrumpfung der Familie auf das Ehepaar bereits abgeschlossen, wenn die Eltern