Table Of ContentSozialpolitik kompakt
Berthold Dietz • Bernhard Frevel
Katrin Toens
Sozialpolitik kompakt
3., überarbeitete Aufl age
Berthold Dietz Katrin Toens
Freiburg, Deutschland Freiburg, Deutschland
Bernhard Frevel
Ahaus, Deutschland
ISBN 978-3-658-06368-9 ISBN 978-3-658-06369-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-06369-6
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-
bliogra(cid:191) e; detaillierte bibliogra(cid:191) sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2004, 2008, 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die
nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung
des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,
Mikrover(cid:191) lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem
Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa-
tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind.
Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder
implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.
Lektorat: Dr. Jan Treibel, Monika Mülhausen
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media
(www.springer.com)
Inhalt
1 Geschichte und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik
in Deutschland .................................................. 9
1.1 Vor- und Frühgeschichte gesellschaftlicher Solidarität ........... 14
1.1.1 Vom oikos zum Lehensrecht – Frühformen sozialer Hilfe
in der Antike ......................................... 15
1.1.2 Von der Versorgungsgemeinschaft zur organisierten
Barmherzigkeit – Formen zwischenmenschlicher
Solidarität im Mittelalter ............................... 16
1.1.3 Von der Stände- zur Versichertengemeinschaft –
Gruppensolidarische Hilfesysteme des Hoch- und
Spätmittelalters ....................................... 19
1.2 Entwicklung staatlicher Sozialpolitik im Kaiserreich ............ 22
1.2.1 Industrialisierung und die „Arbeiterfrage“
als „soziale Frage“ ..................................... 22
1.2.2 Vom Arbeiterschutz zur staatlichen „Sozialpolitik“
als Herrschaftssicherung ............................... 27
1.2.3 Sozialpolitik als „Teile und herrsche“-Strategie ............ 30
1.2.4 Ausbau korporatistischer Sicherungssysteme .............. 34
1.2.5 Rezession und Wiederbelebung der Sozialpolitik .......... 36
1.3 Entfaltung, Ruin und Rekonstruktion der Sozialpolitik
in Deutschland ............................................. 39
1.3.1 Sozialpolitik in der Weimarer Republik .................. 39
1.3.2 1933–1945: Sozialpolitische Eiszeit und Rekonstruktion .... 41
1.3.3 Nach 1945: Von Notmaßnahmen zur Klientelpolitik ....... 42
1.3.4 Wohlstand für alle? .................................... 44
1.3.5 „Umbau“ oder „Abbau“ des Sozialstaats? ................. 47
1.3.6 „Reformstaus“ in wechselnden Regierungen .............. 49
1.4 Entwicklungsstadien der Sozialpolitik ......................... 54
6 Inhalt
2 Grundlagen und Grundfragen der Sozialpolitik ................... 61
2.1 Grundlegende Prinzipien der Sozialpolitik .................... 61
2.2 Instrumente der Sozialpolitik ................................ 65
2.2.1 Das Instrument „Anrechte“ ............................ 65
2.2.2 Das Instrument „Geld“ ............................... 66
2.2.3 Das Instrument „Beteiligung“ ......................... 68
2.3 Formale Prinzipien der Sozialpolitik .......................... 73
2.4 Funktionen von Sozialpolitik ................................ 77
3 Akteure der Sozialpolitik ....................................... 87
3.1 Der föderale Sozialstaat ..................................... 92
3.2 Der soziale Interessenstaat .................................. 95
3.3 Öffentliche Träger von Sozialleistungen ....................... 98
3.4 Leistungsvertraglich gebundene Dienstleister .................. 102
3.4.1 Wohlfahrtsverbände .................................. 102
3.4.2 Privatgewerbliche Dienstleister ........................ 105
3.4.3 Freiberufliche Dienstleister ............................ 106
3.4.4 Zuarbeiterdienste und Gewerbliche Hilfsdienste ......... 108
3.5 Selbsthilfe und ehrenamtlich Engagierte ...................... 108
4 Soziale Probleme und Zielgruppen der Sozialpolitik .............. 113
4.1 Arbeitswelt ................................................ 114
4.2 Familie ................................................... 119
4.3 Kinder und Jugendliche ..................................... 122
4.4 Alte Menschen ............................................. 125
4.5 Krankheit und Behinderung ................................. 127
4.6 Ethnische Minderheiten .................................... 133
5 Reformbedarf und Reformen in der Sozialpolitik ................. 139
5.1 Kritik am Sozialstaat ....................................... 141
5.2 Fehlfunktionen im Sicherungssystem ......................... 143
5.2.1 Erwerbsstrukturproblem .............................. 145
5.2.2 Konjunkturzyklus-Problem ........................... 150
5.2.3 Generationenproblem ................................. 152
5.2.4 Steuerungsproblem ................................... 154
5.3 Wissenschaftliche Reformansätze ............................ 157
5.4 Neubestimmungen der sozialpolitischen Koordinaten? .......... 161
Inhalt 7
6 Sozialpolitik und Europäische Integration ....................... 171
6.1 Entwicklung und Grundlagen europäischer Sozialpolitik ....... 172
6.1.1 Kurze Geschichte der Europäischen Integration .......... 172
6.1.2 Die institutionellen Akteure der EU .................... 175
6.2 Elemente der Europäischen Sozialpolitik ...................... 185
6.2.1 Die Grundrechtscharta der Europäischen Union ......... 186
6.2.2 Soziale Rechte in der Europäischen Union ............... 188
6.2.3 Europäische Beschäftigungspolitik ..................... 190
6.2.4 Europäischer Sozialfonds .............................. 193
6.3 Probleme der europäischen Sozialpolitik ...................... 196
6.3.1 Sozialpolitik als untergeordnete Politik ................... 197
6.3.2 Institutionelle Defizite ................................ 200
6.4 Perspektiven der europäischen Sozialpolitik ................... 203
7 Strukturen der Sozialpolitik im internationalen Vergleich ......... 207
7.1 Wohlfahrtsstaatliche Typen in Europa ........................ 209
7.1.1 Differenzierungsmodelle .............................. 210
7.1.2 Einflüsse auf die Wohlfahrtsstaatsgestaltung ............ 220
7.2 Skizzen europäischer Wohlfahrtsstaatsmodelle ................ 221
7.2.1 Dänemark ........................................... 222
7.2.2 Frankreich .......................................... 223
7.2.3 Großbritannien ...................................... 226
7.2.4 Spanien ............................................. 227
7.3 Sozialpolitische Handlungsfelder ............................. 229
7.3.1 Arbeitslosigkeit ...................................... 230
7.3.2 Rente ............................................... 233
7.3.3 Kindergeld .......................................... 237
7.3.4 Mindestsicherung .................................... 239
7.4 Lernen von Anderen? ....................................... 241
Literatur .......................................................... 245
1
Geschichte und Entwicklungsbedingungen
der Sozialpolitik in Deutschland
1 Geschichte und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik
1 Geschichte und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik
Die Entwicklung der Sozialpolitik, ihre Aufgabe und ihr Wesen, sind am besten
verständlich, wenn sie in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext dargestellt werden.
Ohne ein grundlegendes Verständnis vom sozialen Wandel, dem Wandel der So-
zialstruktur, der sozialen Probleme, des politischen Rahmens (Akteure) und der
daraus resultierenden Instrumente der Sozialpolitik (Sicherungssysteme) bleibt
ihre Darstellung technisch und abstrakt. Dieses Grundverständnis herzustellen,
ist Absicht dieses ersten Kapitels. Dabei werden wir nicht jedes historische Detail
darstellen können, aber Grundzüge und länger währende Prozesse sollen in ihrer
Wirkung auf heutige Sozialpolitik verstehbar gemacht werden. Wir müssen wissen,
woher Sozialpolitik kommt, um zu verstehen, wie sie ist – und demzufolge auch,
wohin sie sich entwickeln kann.
Was ist Sozialpolitik? Diese Frage „kompakt“ beantwortet zu bekommen, mag für
die Leserinnen und Leser dieses Buches die ausschlaggebende Erwartung sein, um
dieses Buch zur Hand zu nehmen. Wir wollen nicht bereits auf den ersten Seiten
mit einer wissenschaftlichen Definition enttäuschen, die sich zu den unzähligen
anderen bereits verfassten Definitionen gesellt. Denn: Eine solche würde unweiger-
lich ein hohes Abstraktionsniveau erreichen und Gefahr laufen, nicht verstanden
zu werden. Versuchen wir lieber, den Begriff und seinen Inhalt einzukreisen.
Starten wir mit einer Gegenfrage: Was ist Sozialpolitik anderes als Politik für
Menschen, die das Ziel hat deren Lebensbedingungen zu verbessern? So betrachtet,
wäre jegliches politisches Handeln Sozialpolitik, sollte es zumindest sein. Nun
entlarvt sich ein solch absolutes Verständnis indes schnell als fachliche Egozen-
trik. „Alles ist Politik“, sagen die Politikwissenschaftler, „Alles ist Ökonomie“,
beanspruchen die Ökonomen, „Alles ist Psychologie“, sagen hinwiederum die
Psychologen und so weiter. Doch schon als „Fach“ hat es Sozialpolitik schwer.
B. Dietz et al., Sozialpolitik kompakt, DOI 10.1007/978-3-658-06369-6_1,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
10 1 Geschichte und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik
Sozialpolitik verstehen wohl nur die als wissenschaftliche Teildisziplin, die sie
als „Sozialpolitikwissenschaftlerinnen“ und „-wissenschaftler“ betreiben. Für die
meisten von uns dürfte Sozialpolitik praktische Sozialpolitik sein, erst recht, wenn
wir sie behördlich, als rein staatliche Veranstaltung, verstehen. Wir denken an
parlamentarische Inszenierungen zum Bürgerwohl, zwischenparteiliche Ausein-
andersetzungen über Finanzpläne, an Rentenformeln und Steuern, vielleicht auch
nur an Sozialhilfe und Menschen am Rande der Gesellschaft.
Stimmt aber die Vorstellung, dass sich Sozialpolitik auf (Parteien-)Politik be-
schränkt? Fragen wir also, wer Sozialpolitik macht. Sicherlich wird sie so wie jede
andere Politik gemacht. Standardantwort all jener, die es lieber formaldemokratisch
haben: Ausgedacht wird sie von Parteien, in Gesetze verfasst von den Parlamen-
ten, umgesetzt von Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts. Doch
da jede/r die Vielzahl politischer Interessen hierzulande kennt, wird man schnell
stutzig. Sozialpolitik machen auch die Gewerkschaften und die Wirtschafts- und
Arbeitgeberverbände, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, der Bundesverband
des Sanitätsfachhandels e. V., der Deutsche Städtetag und der Schutzverband für
Impfgeschädigte e. V., warum nicht auch Sportvereine oder Unternehmensnetz-
werke in meiner Stadt?
Wie so oft, viele wollen die Väter und Mütter von etwas Gutem oder Gutgelunge-
nem sein. Nur leider sucht man in der Sozialpolitik oft schon vergebens nach Onkel
und Tanten. Gute oder schlechte Sozialpolitik definiert jeder für sich, je nach eigener
Interessenlage. Nützt sie einem oder stimmt sie mit persönlichen Wertmaßstäben
überein, wird man sie gut finden. Aber wer verantwortet sie letztlich, wenn wir doch
letztlich alle an ihr arbeiten (können)? Wer befindet sich in der „Trägerschaft“ von
Sozialpolitik? Und wer setzt sich mit welchem Interesse an welcher Sozialpolitik
letztlich durch, wer entwickelt sie, beantwortet somit die Zukunftsfragen dieser
Gesellschaft, die mit Hilfe von Sozialpolitik bewältigt werden sollen und müssen?
Da ist vordergründig das Interesse derjenigen, die von Sozialpolitik profitieren.
Im Zweifel also wir alle, wenn wir soziale Sicherheit, den Schutz vor Lebensrisiken
(Krankheit, Unfall, Erwerbslosigkeit/-unfähigkeit, Pflegebedürftigkeit) meinen. In
modernen, an Konsum, Teilhabe und Erwerbsarbeit ausgerichteten Gesellschaf-
ten bedeuten diese Risiken in der Regel den sozialen Ausschluss, sofern sie nicht
wirksam „entschärft“ werden. Im engeren Sinne hat an der Entschärfung sozialer
Risiken nur ein Interesse, wer sich diesen ausgesetzt sieht. Dass dies auch heute
noch ein Problem nicht Einzelner, sondern Vieler in der Gesellschaft ist, führt uns
auf direktem Wege zum Begriff der Solidarität. Solidarität heißt, dass Menschen ein
Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, das es ihnen ermöglicht, trotz sozialer
Unterschiede und Interessen denen zu helfen, die Hilfe benötigen. Man tut dies
vielleicht nicht mehr in der Erwartung einer Belohnung „im Himmel“, wie es im
1 Geschichte und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik 11
Mittelalter galt, sondern in der Erwartung, wiederum selbst von Anderen Hilfe zu
bekommen, wenn „es“ einen selbst „erwischt“.
Was macht also Sozialpolitik aus? Was sind Motivation, Gegenstände und Er-
gebnisse? Vorerst käme vielen von uns sicherlich Begriffe wie „Verantwortung für
Andere“ und „Fürsorge“ (hier freilich nicht sozialrechtsdogmatisch verstanden,
sondern als „Füreinander sorgen“) in den Sinn. Dieser Wesenskern der „gegenseitigen
Hilfe“ oder des „füreinander Einstehens“ ist repräsentiert im Begriff der Solidarität
(von lat. solidus = echt, fest). Solidarität ist ein Begriff, mit dem wir heutzutage ein
Problem zu haben scheinen, welcher uns angestaubt vorkommt, den wir häufig als
„pathetisch“ und eben „nicht echt“ abtun. Er meint aber im Kern etwas sehr Modernes
und Dauerhaftes, was Sozialpolitik besser kennzeichnet und überprüfen lässt wie
kein anderer Begriff (jedenfalls bei genauerem Hinsehen besser geeignet zu sein
scheint als etwa die Kampfesparolen der bürgerlich-aufklärerischen Revolutionen
von 1789 und 1848/49: „Freiheit“, „Gleichheit“, „Brüderlichkeit“). Solidarität meint
„Gesamthaftung“, genauer „Jede/r haftet für das Ganze“. Obligatio in solidum – die
„Pflicht für das Ganze“ – war etwa ein Grundprinzip im Römischen Recht, welches
maßgebend in verschiedener Form bis heute im modernen Recht (Sozialrecht,
Öffentliches Recht, Gesellschaftsrecht, Europäisches Gemeinschaftsrecht etc.) gilt.
Was Sozialpolitik ausmacht, lässt sich also nach diesem Verständnis am besten
entlang der Entwicklung gesellschaftlicher Formen von Solidarität bestimmen.
Solidarität ist zunächst eine freiwillige, einseitige, zwischenmenschliche Soli-
darität, ohne Einmischung des Staates, dafür aber latent ausgestattet mit einer
Art Gutschrift für eventuell eigene Notsituationen. Aber auch jegliche Obrigkeit
(historisch betrachtet erst Kirche, dann Stadt, dann Staat) würde es nicht zulassen
wollen, dass ein Gemeinwesen an den Rändern „ausfranst“, dass mehr und mehr
Menschen ohne sozialen Schutz aus der Gesellschaft ausgeschlossen würden. Eine
solche Obrigkeit würde in Frage gestellt. Eine Obrigkeit, die es nicht versteht, die
Menschen zu beschützen, würde diese bald gegen sich haben. Deshalb mischte sie
sich alsbald in die Organisation zwischenmenschlicher solidarischer Hilfe ein,
doch dazu später mehr.
Fragen wir weiter: Wer profitiert von Sozialpolitik und wer soll mit welcher
Priorität von ihr profitieren? Diese Frage deutet schon ein etwas abstrakteres In-
teresse an, das der sozialen Gerechtigkeit, also des Ausgleichs allzu großer (primär
ökonomischer) Unterschiede (Ungleichheiten) zwischen den Mitgliedern einer
Gesellschaft, die als ungerecht empfunden werden. Viele mögen im Gerechtigkeits-
begriff einen Kampfbegriff aus längst vergangenen Zeiten sehen. Aber das Problem
der Gerechtigkeit muss jede Gesellschaft zu allen Zeiten lösen. Gerechtigkeit lässt
sich an vielen Dingen festmachen, am verfügbaren Einkommen, an den Wohn-
verhältnissen oder an der Fähigkeit, sich für eine bestimmte Lebensführung zu