Table Of ContentWieland Jager· Hanns-Joachim Meyer
Sozialer Wandel in
soziologischen Theorien der Gegenwart
Hagener Studientexte zur Soziologie
Herausgeber:
Heinz Abels, Werner Fuchs-Heinritz
Wieland Jager, Uwe Schimank
Die Reihe "Hagener Studientexte zur Soziologie" will eine groEere bffent
lichkeit fur Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren.
Die Reihe ist dem Anspruch und der langen Erfahrung der Soziologie an
der FernUniversitat Hagen verpflichtet. Der Anspruch ist, sowohl in sozio
logische Fragestellungen einzufuhren als auch differenzierte Diskussionen
zusammenzufassen. In jedem Fall solI dabei die Breite des Spektrums der
soziologischen Diskussion in Deutschland und damber hinaus reprasentiert
werden. Die meisten Studientexte sind iiber viele Jahre in der Lehre erprobt.
AIle Studientexte sind so konzipiert, dass sie mit einer verstandlichen Sprache
und mit einer unaufdringlichen, aber lenkenden Didaktik zum eigenen
Studium anregen und fur eine wissenschaftliche Weiterbildung auch auEer
halb einer Hochschule motivieren.
Wieland Jager . Hanns-Joachim Meyer
Sozialer Wandel in
soziologischen Theorien
der Gegenwart
Westdeutscher Verlag
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1. Auflage April 2003
AIle Rechte vorbehalten
© Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2003
Lektorat: Frank Engelhardt
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Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt
Umschlagbild: Nina Faber de. sign, Wiesbaden
Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
ISBN-13: 978-3-531-14022-3 e-ISBN-13: 978-3-322-80458-7
DOl: 10.1007/978-3-322-80458-7
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Soziale Dynamik. ......................................................... 7
1.1 Der Begriff des sozialen W andels ................................................... 15
1.2 Probleme der Theoretisierung ......................................................... 19
1.3 Krise der soziologischen Theorie? .................................................. 24
2. Soziologische Theorietraditionen ................................................ 28
2.1 Strukturell-funktionale bzw. Systemtheorie ................................... 30
2.2 Konflikttheorie ................................................................................ 36
2.3 Verhaltens-bzw. Entscheidungstheorie .......................................... 43
2.4 Handlungs-bzw. Interaktionstheorie .............................................. 50
3. Neuere soziologische Theorien ..................................................... 60
3.1 Pierre Bourdieu: Theorie der Praxis .............................................. 64
3.1.1 HabitusundFeld ............................................................................ 66
3.1.2 Soziale Felder und Kapitalformen .................................................. 69
3.1.3 Klassen und KlassifIzierungen ........................................................ 72
3.1.4 Gesellschaft, Praxis und sozialer W andel.. ..................................... 81
3.2 Anthony Giddens: Theorie der Strukturierung ............................... 86
3.2.1 Handeln und Struktur ...................................................................... 88
3.2.2 Dimensionen des Sozialen .............................................................. 92
3.2.3 Zeit und Raum ................................................................................ 96
3.2.4 Gesellschaftliche Entwicklung ..................................................... 100
3.3 James S. Coleman: Theorie kollektiver Akteure ......................... 106
3.3.1 Das Makro-Mikro-Makro-Modell ................................................ 108
3.3.2 Tausch und Transfer ..................................................................... 111
3.3.3 Herrschaft, Normen und Vertrauen ............................................... 114
3.3.4 Die asymmetrische Gesellschaft.. ................................................. 122
3.4 Richard Munch: Interpenetrationstheorie .................................... 130
3.4.1 Der Ansatz .................................................................................... 131
3.4.2 Der theoretische Bezugsrahmen ................................................... 134
3.4.3 Interpenetration ............................................................................. 143
3.4.4 Entwicklung modemer Gesellschaften ......................................... 146
3.5 Jurgen Habermas: Theorie der Gesellschaft ............................... 157
3.5.1 System und Lebenswelt ................................................................ 158
3.5.2 Arbeit und Interaktion ................................................................... 162
3.5.3 Sozialer Wandel, Modernisierung und Pathologien der Modeme 167
3.5.4 Habermas' Vision von der Zivilgesellschaft ................................. 176
4. 'Modelle' des Wandels - Wandel der 'Modelle' ...................... 182
4.1 AnalytischerRahmen .................................................................... 182
4.1.1 Interpenetrierende Systeme ........................................................... 184
4.1.2 Emergente Strukturdynarniken ..................................................... 186
4.1.3 Soziale Strukturen und symbolische Formen ................................ 187
4.1.4 Strukturelle Reproduktionsprozesse ............................................. 189
4.1.5 Von Dualismen zu Komplementarismen ...................................... 191
4.1.6 Zusamrnenfassung ........................................................................ 193
4.2 Wandel soziologischer Theoriebildung ........................................ 196
4.2.1 Rekombination des Instrumentariums .......................................... 197
4.2.2 Bedeutungsverlust globaler Theorien ........................................... 201
4.2.3 Revisionen der Sichtweisen .......................................................... 205
4.2.4 Einheit undloder Vielfalt der Perspektiven ................................... 209
4.2.5 Soziologie heute ........................................................................... 212
Kleiner Epilog ............................................................................. 218
Literaturverzeichnis ................................................................... 219
1. Einleitung: Soziale Dynamik
"Dass nichts bleibt, wie es war - so Hannes Wader in einem seiner
Lieder - dass das Neue alt wird, ist alWigliche Erfahrung, begrUndet in
der sozialen Wirklichkeit, die die Menschen in ihrem ,ganzen Tun und
Treiben' erleben, kennen lernen und gestalten." So beginnt eine zu
Anfang der achtziger Jahre geschriebene Einfuhrung in die Soziologie
des sozialen Wandels, die unter der Leitfrage, was denn Gesellschaft
vorantreibe, urn eine ubersichtliche und differenzierte Darstellung
spezifischer Theorien, ihrer Entwicklungen, Reichweite und Defizite
bemiiht ist. Am Ende der Arbeit lautet die nuchterne Bilanz: "Auf dem
gegenwartigen theoretischen Stand der Soziologie gibt es keine zurei
chende und vollaufbefriedigende Antwort auf die (o.g.) Frage ... , denn
das fur eine Veranderungs- und Entwicklungstheorie zentrale Verhalt
nis von normativen Bedingungen und materiellen Faktoren, von
Handlungen zu Strukturen ist weitgehend ungeklart." (Jager, 1981, S.
141)
Mehr als zwanzig Jahre spater, nach Durchsicht einer Vielzahl neu
erer und aktueller Konzeptionen (z.B. Mayntz 1995, Muller 1995,
Muller/Schmid 1995, Zapf 1996, Berger 1996, Weymann 1998, Wel
zellIngelhartlKlingemann 2001, GlatzerlHabichIMayer 2002 u.a.m.)
spricht einiges fur die Vermutung, diese unklare Situation bestehe
gegenwartig im wesentlichen fort. Dieser Eindruck festigt sich mit
Blick auf die amerikanische Theoriedebatte. Maureen T. Hallinan
(2000) macht erhebliche theoretische Defizite der Soziologie des
Wandels gel tend und fordert vehement dazu auf, sozialen Wandel
grundsatzlich neu zu uberdenken: "Wenn Soziologen feststellen, dass
die gegenwartigen Theorien die dramatischen sozialen Umwalzungen
des letzten Jahrzehnts (z.B. Zusammenbruch des Kommunismus, Ter
rorismus, Demontage des Wohlfahrtssystems, WJ) nicht mehr erkla
ren konnen, und wenn wir vermuten, dass unsere Annahmen zum so
zialen Wandel keine universelle Gultigkeit haben, dann konnte unser
Gefuhl fur dieses theoretische Versagen tatsachlich zu einem funda-
8 1. Einleitung: Soziale Dynamik
mentalen Wechsel in der Art und Weise fiihren, wie wir Verande
rungsprozesse betrachten. Es werden neue Theorien gebraucht, urn
den Wandel einer Gesellschaft zu beschreiben, die unmittelbar global
verbunden, okonomisch wechselseitig voneinander abhangig, hoch
entwickelt technologisch ist und in der die Verteilung der Ressourcen
ungleichmlillig erfolgt." (S. 194)
Hallinan setzt groBe Hoffnungen auf neue Modelle der mathema
tisch und statistisch formalisierten Katastrophen- und Chaostheorien,
die dazu beitragen konnten " ... einen bedeutenden Durchbruch im Ver
standnis des sozialen Wandels zu erreichen." (ebd.) Inwieweit diese
Einschatzung die Soziologenschar eint, steht hier nicht zur Diskussi
on, auch wenn im deutschsprachigen Raurn nach Walter L. BUhI
(1971) Lars Clausen einen bislang kaum rezipierten katastrophenso
ziologischen Ansatz zurn ,Krassen sozialen Wandel' (1994), spater
zum ,Entsetzlichen sozialen Wandel' (2003) vorgelegt hat, Georg P.
Muller (o.J.) am Beispiel der Sozialversicherungsgesetzgebung die
Katastrophentheorie zur Erklarung des diskontinuierlichen sozialen
Wandels heranzieht und Piotr Sztompkas (2000) Orientierung am
"Traurna"-Diskurs - Wandel lOst per se einen schmerzhaften Schock
flir das soziale und insbesondere kulturelle Geflige einer Gesellschaft
aus, sofem er plOtzlich, umfassend, fundamental und unerwartet ist -
in eine ahnliche Richtung weist. Fur unseren Zusammenhang ist viel
mehr Hallinans Orientierung auf einen Neuanfang der Soziologie des
sozialen Wandels relevant, begriindet durch das niedrige Niveau ge
genwartigen Analysevermogens.
Zu einem Neuanfang, sofem er denn tatsachlich notwendig ist, legt
doch Luhmanns Verdikt "flirs Uberleben genugt Evolution" (1984, S.
645) nahe, das geschehen zu lassen, was ohnehin geschiehtl, :fiihlt sich
Ob die Kopplung dieser Sichtweise an die theologische Grunderkenntnis des etwa 250
v.Chr. wirkenden Predigers Salomo 3, Vers 1-15 tiber die Unverfiigbarkeit allen Gesche
hens lediglich ein nichtsnutziges Unterfangen darstellte, mtisste eine spezifische Luhmann
Rezeption, die sozialen Wandel vomehmlich als soziale Differenzierung und Komplexi
tatssteigerung begriffe, erst noch ergeben. ledenfalls wohnt Salomo zufolge allem Ge
schehen eine (von Gott gesetzte) Bestimmtheit und ein Zeitpunkt inne, an dem es ge
schieht. In den Weisheitsspriichen heiJ3t es u.a.: "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles
Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat
1. Einleitung: Soziale Dynamik 9
diese Arbeit nicht berufen. Ihre Ambition liegt eher darin, sozialem
Wandel nicht anhand einer theoretischen Neukonstruktion nachzuge
hen, statt des sen im Rahmen gegenwartiger soziologischer (Gesell
schafts-)Theorien zu priifen, was diese Konzeptionen denn zur Analy
se des hier untersuchten Phlinomens beitragen (konnen). SchlieBlich
steht beispielsweise das im Rahmen herkommlicher soziologischer
Theorien des Wandels bislang ungenugend ausgeleuchtete Verhaltnis
von Handlung und Struktur gerade im Mittelpunkt etwa von Anthony
Giddens Theorie der Strukturierung oder Pierre Bourdieus Uberlegun
gen zu den Entwicklungsmoglichkeiten einer allgemeinen Sozialtheo
rie. Grund genug also, Bourdieu, Giddens und andere einflussreiche
Theoretiker flir die Belange des sozialen Wandels ,anzuzapfen' und
,auszubeuten'.z Das klingt im Vergleich zu Hallinans Anspruchen
immer noch recht bescheiden, dennoch ist der geplante Beutezug bei
zeitgenossischen Titanen der Soziologie nicht ohne Risiko, zumal bei
offenem Ergebnis.
seine Zeit; ... suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; ... schweigen hat seine Zeit, re
den hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede
hat seine Zeit. Man miihe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon ... Was
geschieht, das ist schon Hingst gewesen, und was sein wird, ist auch schon Hingst gewe
sen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist." (1990, S. 257f.)
Fiir dieses methodische Vorgehen gibt es natiirlich VorHiufer. So haben Ahnliches bei
spielsweise Rudolf Stichweh (1988) und Renate Mayntz (1995) flir die Theorie sozialer
Differenzierung als Theorie sozialen Wandels untemommen. Jedoch liegt ein Unterschied
zu dem hier gewahlten Verfahren darin, dass die Theorie sozialer Differenzierung in
Wirklichkeit keine Einheit darstellt, vielmehr eine Vielzahl inhaltlich verschiedener, iiber
einen langen Zeitraum entstandener differenzierungstheoretischer Beitrage zusammen
fasst, von Herbert Spencer iiber Neil Smelser zu Talcott Parsons und Niklas Luhmann,
zudem Shmuel Eisenstadt, Dietrich Riischemeyer und andere. Hier dagegen liegt das
Schwergewicht auf Konzeptionen, die an einzelne Gesellschaflstheoretiker gebunden
sind, die zwar eben wegen ihrer Eigenstandigkeit die AuspragungsvielfaJt einer Differen
zierungstheorie im Sinne eines Theorienbiindels ,unter einem Dach' nicht erfahren wer
den, dennoch, wie am Beispiel der Theorie von Bourdieu und seinem Soziologieverstand
nis zu zeigen ist, die Jorschungspraktische Weiterentwicklung der Theoriekomponenten
stets im Auge haben. Ubrigens gelangt Mayntz' Analyse zu einer eher negativen Beurtei
lung der Erklarungskraft der Theorie sozialer Differenzierung als Theorie sozialen Wan
de1s "Ganz unabhangig davon, ob man die Aussagen der Differenzierungstheorie zur Art
sozialen Wande1s akzeptiert oder nicht, sind .. zumindest bei ihrer am besten ausgearbeite
ten, systemtheoretischen Variante die kausalen Aussagen substantiell unzureichend, urn
realen Strukturwandel erkJaren zu konnen." (S. 149)
10 1. Einleitung: Soziale Dynamik
Ausgangspunkt der Uberlegungen sind an Hannes Waders Lied an
knupfende Zeiterfahrungen.
Die sechziger, siebziger, achtziger und die neunziger Jahre gehen
heute ebenso schnell in die Geschichte ein, wie sie daraus hervortra
ten. Die Geschichte scheint an Fahrt zu gewinnen, die Ereignisdichte
in den letzten vier Jahrzehnten rapide zuzunehrnen. 'Geschichte'
meint hier eine Folge von Ereignissen, die von vielen eben als Ereig
nisse verstanden werden: Die Beatles, das J ahr 1968, Vietnam, der
Fall der Mauer, der Golfkrieg, der Zerfall der Sowjetunion und die
Transformationen in den ehemaligen OstblockHindem. Der Eindruck
der 'Beschleunigung' wird nicht zuletzt von der vermehrten Zahl jener
Ereignisse hervorgerufen, die Okonomen, Soziologen oder Historiker
gerade nicht vorhersahen. Von heute auf morgen brechen Regime zu
sammen, deren Sturz kaurn j emand anzunehrnen wagte, und von nie
mandem erwartete Krisen drohen das wirtschaftliche und soziale Ge
fUge der liberalen Industrienationen zu erschiittem.
1m Zuge dieser Entwicklung hat der gesellschaftliche Orientie
rungsbedarf offensichtlich eine enorme Steigerung erfahren und einen
rasant expandierenden Markt fUr Zeitdiagnosen geschaffen. Wahrend
von den 50er bis zu den 70er J ahren noch einige wenige 'Bezeichnun
gen' ausreichten, urn die Veriinderungen und Entwicklungen der Ge
sellschaft in diesem Zeitraurn anzusprechen - so beispielsweise "Die
Klassengesellschaft im Schrnelztiegel" (Theodor Geiger, 1949), die
"nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky, 1965) und
Ralf Dahrendorfs "Dienstklassengesellschaft" (1972) - verkurzte sich
zu Beginn der 80er Jahre die Halbwertszeit der Label betrachtlich.
Nachdem die "Postindustrielle Gesellschaft" (Daniel Bell, 1975) aus
gerufen war, konnte das "Ende der Arbeitsgesellschaft" (Claus Offe,
1984) eigentlich erwartet werden. 1m Jahr 1986 diagnostizierte dann
Ulrich Beck die "Risikogesellschaft" und Peter Berger kennzeichnete
die "entstrukturierte Klassengesellschaft" als "Postmodeme", W 0 If
gang Zapf (1987) konstatierte schlicht eine zunehrnende "Pluralisie
rung", Stefan Hradil (1987) diagnostizierte tiefgrundig eine Entwick
lung "Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus" und Martin