Table Of ContentBerichte des Bundesinstituts
für ostwissenschaftliche
und internationale Studien
Sowjetische R>litik heute
Probleme und Alternativen
H. Brahm/R-H. Höhmann/Chr. Meier
INHALT
Seite
Kurzfassung I
I. Probleme der sowjetischen Innenpolitik
(Heinz Brahm) 1
1. Das Entstehen einer neuen Ideologie . . .. 1
2. Wachsender Lebensstandard und kon
servative Grundhaltung 3
3. Die Dissidenten 5
4. Das Potential nonkonformen Verhal
tens. 6
5« Der engste Kreis der Macht 8
6. Alternativen zum gegenwärtigen
Kurs 9
II. Lage und Entwicklungsperspektiven der
sowjetischen Wirtschaft (Hans-Hermann Höhmann) 12
1. Die sowjetische Wirtschaft im
10. Planjahrfünft (1976-198O) 12
2. Wachstumsgrenzen werden enger 13
3. Engpaß Produktivitätssteigerung 15
4. Tendenzen der Reformpolitik 17
III. Tendenzen sowjetischer Außenpolitik
1976 - 1978 (Christian Meier) 19
1. Moskau und die sozialistischen
Staaten Osteuropas. . . .. 19
2. Die Beziehungen zu den USA 21
3. Verhärtungen in den Beziehungen
zum Westen 22
4. Die Dritte Welt 24
5. Der Konflikt mit Peking 25
Anmerkungen 26
Summary . 27
April 1978
Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OST-
WISSENSCHAFTLICKE UND INTERNATIONALE STUDIEN heraus
gegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben
ausschließlich die Auffassung des Autors wieder.
Abdruck - auch auszugsweise - nur mit Quellenangabe und
vorheriger Genehmigung des Bundesinstituts gestattet.
B u n d e s i n s t i t ut
für ostwissenschaftliche und internationale Studien
Lindenbornstraße 22, 5000 Köln 30
Kurzfassung
Das Verhältnis der UdSSR zum Westen ist bestimmt
von ihrem Selbstverständnis als Weltmacht wie auch von ih
rem innen- und wirtschaftspolitischen Zustand. Dies wurde
deutlich auf dem Belgrader KSZE-PoIgetreffen und im Verlauf
der Diskussionen um ein neues SALT-Abkommen sowie im Zusam
menhang der MBFR-Verhandlungen.
Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch einer Be
standsaufnahme sowjetischer Politik, die zugleich Einsichten
in ihre Probleme und Alternativen eröffnen soll. Die Autoren
fassen damit eine Reihe von Untersuchungen zusammen, die
am Bundesinstitut zu diesem Themenbereich erstellt werden.
Ergebnisses
1. Gegenwärtig wird im Westen das Bild der UdSSR sehr stark
durch die Repressalien bestimmt, denen die Dissidenten
unterworfen sind. Wahrscheinlich schenkt man bei uns den
sowjetischen Bürgerrechtskämpfern mehr Aufmerksamkeit
als im sowjetischen Politbüro. Zwar ist das Potential
nonkonformen Verhaltens in der Sowjetunion groß, in Zu
kunft vielleicht sogar brisant; im Augenblick hat die
KPdSU aber das Heft fest in der Hand. Auch nach einem
Ausscheiden Breshnews aus der aktiven Politik ist kaum
mit inneren Turbulenzen zu rechnen. Es spricht einiges
dafür, daß die Kontinuität der sowjetischen Politik fürs
erste gewahrt ist, wenn auch Kurskorrekturen nicht aus
geschlossen werden können.
- II -
2. Lage und Entwicklungstendenzen der sowjetischen Wirt
schaft sind durch enger werdende Wachstumsgrenzen ge
kennzeichnet. Das Wachstumstempo der UdSSR hebt sich
gegenwärtig nicht sehr von dem der meisten westlichen Indu
strieländer ab. Für die Zukunft stehen vor allem die
zunehmende Knappheit an Arbeitskräften und die anhalten
den Schwierigkeiten, die Produktivität der GesamtWirt
schaft zu steigern, einer zügigen wirtschaftlichen Ex
pansion im Wege. Eine umfassende Wirtschaftsreform ist
nicht in Sicht. Der enge Reformspielraum beeinträchtigt
nicht nur Wachstum und Effizienz der Wirtschaft. Er be
deutet auch, daß von der Wirtschaft gegenwärtig keine
starken Impulse für eine gesellschaftlich-politische
Reform zu erwarten sind. Der struktur- und systembeding
te Konservatismus der sowjetischen Wirtschaftspolitik
wirkt zugleich als konservierendes Element einer auto
ritären politischen und gesellschaftlichen Ordnung.
3. Die sowjetische Führung bemüht sich vorrangig, die poli
tische, militärische, wirtschaftliche und ideologische
Integration der sozialistischen Staaten Osteuropas zu
vertiefen. Dabei sind gleichermaßen integrationsfordern
de und integrationshemmende Faktoren zu registrieren.
* Im Verhältnis zu den USA, dem Hauptkontrahenten in der
Weltpolitik, hält die Stagnationsperiode seit 1975 an.
Zusätzliche Belastungen erwachsen aus den Kontroversen
um die Durchsetzung der Menschenrechte und dem Abschluß
eines SALT-II-Abkommens. Trotz intensiver Entspannungs
rhetorik lassen die sowjetischen Positionen im bi- und
multilateralen Dialog mit den westlichen Staaten wenig
Kompromißbereitschaft erkennen. Die militärische Über
legenheit des Warschauer Paktes in Mitteleuropa erhöht
sich weiter. Die Risikobereitschaft ist beträchtlich bei
der Einflußnahme auf die nationalen Befreiungsbewegun
gen in der Dritten Welt und bei der politisch-militäri
schen Einmischung in Konflikte dieser Region. Die so
wjetisch-chinesischen Beziehungen bleiben auch in der
Nach-Mao-Ära so gespannt wie bisher.
I. Probleme der sowjetischen Innenpolitik
1. Das Entstehen einer neuen Ideologie
60 Jahre nach der russischen Revolution, 25 Jahre nach
dem Tode Stalins und 13 Jahre nach dem Sturz Chruschtschows
ist die Sowjetunion weit entfernt von den ursprünglich ega
litären Vorstellungen eines Lenin, weit auch entfernt vom
Massenterror der dreißiger Jahre und schließlich auch ent
fernt von der zeitweiligen Aufbruchstimmung unter Chrusch
tschow. Die UdSSR hat sich von Etappe zu Etappe in eine
Richtung entwickelt, die von keinem der Parteiführer voraus
gesehen oder gewollt war. Die Geschichte der UdSSR ist ein
Schulbeispiel dafür, wie eine Ideologie unter dem Druck ge
sellschaftlicher Kräfte und äußerer Faktoren aus der vor
herbestimmten Bahn herausgetragen wird.
Charakteristisch für die Sowjetunion von heute ist die Ideo
logiemüdigkeit. Aus vielen Indizien, Berichten und Klagen
ergibt sich, daß der Marxismus-Leninismus nicht mehr auf
fruchtbaren Boden fällt. Sacharow glaubte schon von einem
Absterben der offiziellen Ideologie sprechen zu können.
Solschenizyn hat die sowjetische Führung aufgefordert, den
Marxismus-Leninismus preiszugeben, da dieser nur noch eine
überflüssige Theatersäule sei. Man mag dies für Übertrei
bungen der Dissidenten halten. Aber auch der ZK-Sekretär
Demitschew hat schon vor Jahren eingeräumt, daß sich in der
2
Jugend Nihilismus und Nörgelei ausbreiteten. Stand die Ju
gend in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Oktoberre -
volution in großer Mehrheit hinter den Kommunisten, so ist der
Kommunismus heute mehr eine Sache der Älteren geworden. Angesichts
des steigenden Informationsbedürfnisses der sowjetischen Jugend sind
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die offiziellen Erklärungen zum Phänomen des Stalinismus,
zur wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens, zur Ent
stehung des Maoismus und des Eurokommunismus geradezu sim
pel, kaum noch akzeptabel. •
Die Erosion der sowjetischen Ideologie bedeutet allerdings
nicht, daß die Fundamente der UdSSR erschüttert seien. Der
Marxismus-Leninismus hat lediglich an Zugkraft verloren,
aber er behält natürlich seinen Rechtfertigungscharakter.
Am Beispiel der italienischen Kommunisten kann man ablesen,
wie lange es dauert, bis sich Bewußtseinsänderungen auch
in der Praxis niederschlagen. Für die sowjetische Führung
ist der ideologische Glaubensverlust gegenwärtig durchaus
nicht bedrohlich, weil in das Vakuum ein kräftiger Sowjet
patriotismus, eine Begeisterungsfähigkeit für die Technik
und nicht zuletzt ein starkes Konsumentendenken nachgewach
sen sind. Vor allem die Großrussen werden sich, wenn schon
nicht mit der KPdSU, so doch mit ihrem Staat identifizie
ren. Man hat den Eindruck, daß neben dem Mythos der Okto
berrevolution ein neuer Mythos an Bedeutung gewonnen hat,
ein Mythos der militärischen Stärke, der auf den Siegen des
II. Weltkrieges basiert. Das einst so mächtige und gefürch
tete Deutschland konnte geschlagen werden, Frankreich und
England büßten ihre alte Weltstellung ein. Während alle
Kolonialreiche zerfielen, konnte die Sowjetunion ein Impe
rium begründen, die sogenannte sozialistische Gemeinschaft.
Politisch wie militärisch ist die Sowjetunion eine Super
macht, die nur noch die USA als überlegen oder ebenbürtig
anerkennen muß.
- 3 -
2. Wachsender Lebensstandard und konservative Grundhaltung
Auch wirtschaftlich, so suggeriert die sowjetische Propagan
da ihrer Bevölkerung, ist die UdSSR in einem unaufhaltsamen
Aufstieg begriffen. Da man in Moskau in der Regel keine kon
kreten Vergleichsmöglichkeiten mit westlichen Ländern hat,
werden die Erfolgsmeldungen der Sowjetwirtschaft mehr oder
weniger geglaubt. Für den einfachen Sowjetbürger ist es ein
Grund zur Zufriedenheit oder sogar zum Stolz, wenn er hört,
daß sein Land keine Krisen, keine Inflation und keine Ar
beitslose kennt und daß die Sowjetunion heute bereits der
größte Produzent von Erdöl, Kohle und Stahl ist. Er mißt
die Effektivität der Wirtschaft vor allem am eigenen Lebens
standard, der unverkennbar, wenn auch langsam wächst. Die
Durchschnittsgröße der Wohnungen war Ende der fünfziger Jah
re 42 qm. Sie erhöhte sich 1975 auf 49 qm. Fernsehapparate,
Waschmaschinen und Kühlschränke sind für den Sowjetbürger
schon keine unerreichbaren Ziele mehr. Allerdings sind die
Güter des gehobenen Bedarfs erheblich teurer als in den
westlichen Staaten. Für einen Anzug muß ein Moskauer Arbei
ter 106 Stunden, für eine Waschmaschine 432 Stunden arbeiten.
Störend werden allerdings die Knappheit an hochwertigen Wa
ren und die Umständlichkeit des Einkaufs empfunden. Die so
wjetische Hausfrau muß täglich zwei bis drei Stunden für den
täglichen Einkauf opfern.
Die breite Masse der Bevölkerung scheint sich mit ihrer ge
genwärtigen Lage durchaus abgefunden zu haben. Sie läßt je
denfalls wenig Neigung erkennen, offen gegen die Mißstände
im Land zu opponieren. Der Kommunismus in der Sowjetunion
ist ein nationales Gewächs, das nicht von außen eingeführt
worden ist wie in der DDR, in Polen oder Ungarn. Er hat da
her im Land auch tiefere Wurzeln geschlagen als in den ge
nannten osteuropäischen Ländern. Das steht nicht im Gegen-
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satz zu der Annahme, daß der Marxismus-Leninismus seine Ge
walt über die Bevölkerung zu verlieren beginnt. Man braucht
zum Vergleich nur an die Bundesrepublik zu denken, wo das
Christentum heute nur noch wenige direkt anspricht, wo aber
dennoch der Einfluß des Christentums erheblich ist. Damit
ist aber noch nicht erklärt, warum die sowjetische Bevölke
rung so passiv bleibt, während es in der UdSSR doch eine
Fülle von Mängeln und Menschenrechtsverletzungen gibt. Bei
uns gibt es bereits einen Aufstand, wenn ein privater Tele
fonanschluß unerlaubt abgehört wird. In den USA strauchelte
ein amerikanischer Präsident über eine Affäre, die in der
Sowjetunion fast zum normalen Alltag gehört.
Die sowjetische Bevölkerung, von Kindesbeinen an zum Still
halten und zum Konformismus erzogen, ist wahrscheinlich
noch konservativer als die deutsche in der wilhelminischen
Zeit. Sie ist sehr nationalbewußt. Wir wissen, welche Über
windung es selbst einen Sacharow oder einen Solschenizyn
gekostet hat, bis sie sich mit ihren Problemen an die Welt
öffentlichkeit wandten. Es wird von den meisten Sowjetbür
gern wohl als degoutant empfunden, wenn man die schmutzige
Familienwäsche vor der internationalen Öffentlichkeit
wäscht. Schließlich wirkt auch heute noch die Schreckstarre
der Stalinzeit nach. Es ist noch nicht vergessen, wie die
Väter und Großväter der heutigen Generation liquidiert wor
den sind. Das heutige kommunistische Regime hat diffizilere
Methoden, um die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Durch
Ermahnungen, Drohungen und Entzug von Privilegien können
Widerspenstige in der Regel schon diszipliniert werden. Die
wenigsten dürften bereit sein, nach Jahren schlimmster Ent
behrungen wegen einiger unvorsichtiger Äußerungen den be
ginnenden Lebensstandard aufs Spiel zu setzen. Die sowjeti
schen Intellektuellen, die die politische Rückständigkeit
des Landes am ehesten kennen dürften, sind vergleichsweise