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Mongolische Märchen
SOLOMBO CHAAN
Mongolische Märchen
übersetzt, nacherzählt und illustriert
von Waltraut Fischer
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ISBN 3-371-00203-9
SOLOMBO CHAAN
Mongolische Märchen
Übersetzt, nacherzählt und illustriert
von Waltraut Fischer
Buchverlag Der Morgen
Berlin
ISBN 3-371-00203-9
© Buchverlag Der Morgen,
Berlin 1989
... du wunderst dich, daß eine so schöne Frau allein lebt,
weit und breit ist nur ödes Land, und du trittst in ihre Jurte.
Doch in der Nacht entdeckst du, daß sie ein Schulmus ist.
Ein Schulmus?
Ja, ein häßliches altes Weib mit nur einem Auge auf der
Stirn. Sie hat dich durch ihr Lächeln angelockt und will dich ver
schlingen, denn sie ist eine Menschenfresserin. Es müssen
schon Wunder geschehen, wenn du entkommen willst.
Welche Wunder?
Viele Fragen. Viele Antworten. Ich fange an, die Schatten
der Wolken und die dunklen Berge mit anderen Augen zu se
hen. Bald weiß ich, woran man eine Dakini, eine Himmelsfee,
erkennt und warum die alte Nachbarin ein Streifchen Fett ins
Feuer wirft. Das mongolische Land hat einen kostbaren Schatz:
Es ist reich an Mythen und Märchen. Seit ich den Erzählern zu
hören und ihre Märchenbücher lesen kann, verstehe ich mehr
vom Leben in früher Zeit, begreife manch seltsame Verhaltens
weise und entdecke in alltäglichen Redewendungen einen be
sonderen Sinn. Auf meinen Reisen habe ich oft Märchenbücher
in den Händen gehalten, alte und neue, habe sie bewundert, sei
tenlange Geschichten abgeschrieben, und manchmal bekam ich
sogar ein Heftchen geschenkt. Inzwischen häufen sich die Mär
chen auf meinem Tisch. Viele von ihnen wurden lange Zeit nur
mündlich überliefert, bevor Schriftkundige sie aufgeschrieben
und gesammelt haben. So bleiben die Überlieferungen lebendi
ges Gut der mongolischen Volksdichtung. In Verehrung für die
unermüdlichen Sammler möchte ich meinen Lesern einige Mär
chen vorstellen, denn sie sind es wert, weitererzählt zu werden.
Waltraut Fischer
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W ie die M ongolen
zu ihren Märchen kamen
Es wird erzählt: Vor vielen, vielen Jahren litten die Mongo
len unter einer Pockenepidemie. Die Menschen siechten dahin
und starben. Aus den Jurtendächern stieg kein Rauch, denn es
war niemand mehr am Leben, der hätte heizen können. Wer
sich noch gesund fühlte, floh in die Steppe.
Der fünfzehnjährige Tarwaa war der einzige Überlebende
einer großen Familie, die am westlichen Hügel gewohnt hatte.
Traurig und verzweifelt stand er neben der verwaisten Jurte.
Warum haben Eltern und Geschwister mich allein zurückgelas
sen? Was soll ich noch auf dieser Erde? dachte er immerfort und
weinte. Eines Tages fiel er vor Kummer ohnmächtig zu Boden.
Da verließ seine Seele den Körper und machte sich auf den Weg
ins Totenreich.
Der König der Unterwelt, Erlik Chaan, schaute ihr verwun
dert entgegen. Er hatte sie nicht rufen lassen. «Warum bist du
hier?» fragte er. «Deine Zeit ist noch nicht gekommen.»
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Die Seele seufzte: «Der junge Mensch, zu dem ich gehöre,
jammert und klagt den ganzen Tag, weil die Seuche all seine Lie
ben dahingerafft hat. Ich kann es nicht mehr ertragen, wie der
Arme den Tod herbeisehnt. Um sein Leid zu beenden, habe ich
mich davongemacht.»
Diese Worte rührten den Totenkönig, und freundlich sagte
er: «Kehre zurück in den Körper des Jungen, seine Lebenszeit
ist noch lang. Doch weil du ihn aus Mitleid verlassen hast, will
ich dir ein Geschenk machen. Wähle dir von meinen Schätzen,
was dir gefällt.»
Erlik Chaan schritt durch sein großes Reich, und die traurige
Seele folgte ihm. Sie sah all die Dinge, die das Leben der Men
schen schön oder schwer machen. Da waren Reichtum und
Wohlergehen, Glück, Freude, Vergnügen, Kummer und Tränen,
Laster, Betrug, auch Musik und Tanz - und Märchen. Lange
schaute die Seele des Knaben umher. Schließlich bat sie um die
Märchen. Der König der Unterwelt war einverstanden und
sandte seinen Gast auf die Erde zurück.
Als die Seele bei dem ohnmächtigen Tarwaa wieder ange
langt war, hatten ihm bereits Krähen die Augen ausgehackt. War
sie zu spät gekommen? Ratlos schwebte sie über dem Jungen.
Dann senkte sie sich in seinen Körper und beseelte ihn wieder.
Sochor Tarwaa oder der blinde Tarwaa, wie er nun genannt
wurde, wanderte durch seine Heimat. Wohin er kam, erzählte er
Märchen und Legenden. Alle, die ihm zuhörten, erfreute und
ermahnte er durch seine Geschichten. Weil so oft von Hoffnun
gen und Ängsten der Menschen die Rede war, gingen die Erzäh
lungen von Mund zu Mund, wurden reicher und bunter und
wurden zum Schatz des Volkes. So sind die Mongolen zu ihren
Märchen gekommen.
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