Table Of ContentSelbstbewegung und Lebendigkeit
Beiträge zur Altertumskunde
Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall,
Ludwig Koenen und Clemens Zintzen
Band 356
Selbstbewegung
und Lebendigkeit
Die Seele in Platons Spätwerk
Herausgegeben von
Michele Abbate, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli
Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.
ISBN 978-3-11-046463-4
e-ISBN (PDF) 978-3-11-046710-9
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046665-2
ISSN 1616-0452
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
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© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort IX
I Seele, λόγος und Erkenntnis
Christoph Helmig
Dynamische Stufen der selbstbewegten Erkenntnis
Platon über Idee, Seele und Begriff 3
Salvatore Lavecchia
Das Gute als Quelle der Selbstbewegung
Betrachtungen zum nous und zum Selbstbewusstsein in Platons
Philosophie 19
Alina Noveanu
Die Bewegungen der Seele, Sokrates’ Traum und der „befremdliche
Mehrbestand der Wahrnehmung“
Phänomenologische Notizen zur Erkenntnistätigkeit der Seele in Timaios
und Theaitetos 33
II Seele und κόσμος
Walter Mesch
Seele und Körper bei Platon
Zur Psychologie im Phaidon und im Timaios 53
Franco Ferrari
Der vorkosmische Zustand des Alls
Die wörtliche Interpretation von Platons Timaios bei Plutarch
und Attikos 86
Antonino Spinelli
Regellose und vernünftige Bewegungen
Die zwei αἰτιῶν γένη und ihr Verhältnis zur Selbstbewegung in Platons
Spätdialogen 114
VI Inhalt
III Selbstbewegung und πόλις
Julia Pfefferkorn
Der Tanz der Magneten
χορεία, Seele und die Mimesis des Göttlichen in Platons Nomoi 145
Christoph Quarch
Das Maß aller Dinge
Die kosmische Begründung des Politischen im X. Buch der Nomoi 179
Giovanni Panno
„… da wir kein irdisches, sondern ein himmlisches Gewächs sind.“
Homoíosis theó als dýnamis eis to patheín (Nomoi und Timaios) 198
IV Die Lebendigkeit der intelligiblen Welt
Michele Abbate
Die dynamische und lebendige Natur des intelligiblen Seins bei Platon
und in der neuplatonischen Überlieferung 227
Tom Wellmann
Ontologie im zweiten Teil von Platons Parmenides 243
Gaetano Longo
Der zweite Teil des platonischen Parmenides
Einige Bemerkungen zu den beiden ersten Folgerungen
der ersten Hypothese 261
Inhalt VII
V Rezeption
Claudia Lo Casto
Die platonischen Wurzeln des Lebensbegriffs bei Plotin 273
Francesco Cattaneo
Ideen und Leben
Platon in Nietzsches Geburt der Tragödie 284
Giuliana Gregorio
Lebendigkeit, Selbstbewegung und Erkenntnis
Zu Gadamers Interpretation des Timaios 299
Ausblick
Giovanni Panno
Historischer Aufriss zum Gedanken
der Selbstbewegung in der Antike 323
Register
Stellenregister 339
Sachregister 352
Personenregister 357
Michele Abbate, Julia Pfefferkorn und Antonino Spinelli
Vorwort
Die Frage nach der Selbstbewegung der Seele bzw. der Seele als Selbstbewegung
sowie ihres Lebendigseins gewinnt in Platons späteren Werken eine grundle-
gende Bedeutung. Dies zeigen insbesondere das Auftreten des Topos an zen-
tralen Stellen in mehreren (Spät-)Dialogen – vor allem Phaidros, Timaios und
Nomoi – sowie die angeregte Diskussion der Thematik im Platonismus. Die in
diesem Tagungsband versammelten Beiträge widmen sich somit aus unterschied-
lichen Perspektiven einem ‚Herzstück‘ der platonischen Philosophie.
Der Band umfasst die Vorträge der Tagung „Selbstbewegung und Leben-
digkeit bei Platon“, die vom 28. Oktober bis 1. November 2014 an der Universität
Salerno stattgefunden hat und von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert wurde. Die
Idee und Initiative für die Tagung und ihre Thematik verdanken sich dem haupt-
sächlich aus Nachwuchswissenschaftlern bestehenden Arbeitskreis „Logos“,
einer 2003 zwischen den Philosophischen Instituten der Universitäten Tübin-
gen und Messina gegründeten Kooperation, die sich seit einigen Jahren auf die
Philosophie Platons konzentriert. Die Arbeitsgruppe verfolgt in ihren jähr lichen
Treffen das dreifache Ziel einer vertiefenden Primärtextlektüre und -diskussion,
des Ausbaus der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und des kulturellen Aus-
tausches zwischen Deutschland und Italien sowie der individuellen Förderung
interessierter und begabter Nachwuchswissenschaftler. Die Auseinandersetzung
mit nacheinander dem Sophistes, dem Parmenides, dem Kratylos, zentralen Text-
stellen zur Ideenlehre sowie dem Timaios führten die Gruppe vor die unumgäng-
liche offene Frage nach der Rolle der Seele in Platons Spätphilosophie.
Die Veranstaltung bestand aus einer internationalen Tagung, zu der deut-
sche und italienische Wissenschaftler geladen waren, sowie einem Workshop für
Nachwuchswissenschaftler, in dem gemäß dem Konzept des Logos-Arbeitskrei-
ses viel Raum für die gemeinsame Diskussion der Vorträge und zentraler Text-
stellen gegeben war. Die Beiträge beider Veranstaltungsteile sind in diesem Band
enthalten.
Der Athener: […] Wenn jedoch etwas, das sich selbst in Bewegung gesetzt hat, ein anderes
verändert, dieses dann wieder ein anderes und so die bewegten Dinge in die Tausende und
Abertausende gehen, wird da der Anfang ihrer gesamten Bewegung etwas anderes sein als
die Veränderung, die von der sich selbst bewegenden Bewegung ausgeht?
[…] Als Anfang aller Bewegungen also und als diejenige, die als erste in stillstehenden
Dingen entsteht und in bewegten Dingen ist, ist die sich selbst bewegende Bewegung,
so werden wir sagen, zwangsläufig die älteste und mächtigste unter allen Veränderun-
gen […].
X Michele Abbate, Julia Pfefferkorn und Antonino Spinelli
[…] Wenn wir diese Bewegung irgendwo entstanden sehen, in etwas Erdigem oder Wäßri-
gem oder Feuerartigem, sei dieses getrennt oder auch vermischt, was für einen Zustand
sollen wir dann in einem solchen Ding annehmen?
Kleinias: Fragst du mich etwa, ob wir sagen sollen, daß es lebt, wenn es sich selbst bewegt?
Der Athener: Ja.
Kleinias: Nun, daß es lebt, natürlich.
Der Athener: Und weiter: Wenn wir in irgend etwas eine Seele sehen, ist dies dann anders
oder genau dasselbe? Müssen wir zugeben, daß es lebt?
Kleinias: Nicht anders. […]
Der Athener: Was nun den Namen ‚Seele‘ trägt, wie lautet dessen Definition? Haben wir
eine andere als die eben genannte: ‚die Bewegung, die sich selbst bewegen kann‘?
Kleinias: ‚Sich selbst bewegen‘, behauptest du, komme als Definition demselben Seienden
zu, dem auch der Name zukommt, mit dem wir alle es als ‚Seele‘ bezeichnen?
Der Athener: Das behaupte ich.
(Lg. 894e–896a; Übersetzung: Klaus Schöpsdau, 2011)
Auf geschickte Weise verbindet der Athener, der Gesprächsführer in Platons
letztem Dialog, in diesem zentralen Textausschnitt aus Nomoi X die drei Haupt-
begriffe des vorliegenden Tagungsbandes: Selbstbewegung, Lebendigkeit und
Seele. Unter den zehn Bewegungen wird die Selbstbewegung, die „sich allem
Tun und allem Erleiden harmonisch einfügt und wahrhaft als Veränderung und
Bewegung alles Seienden“ (Lg. 894c) zu bezeichnen ist, als eine besondere Bewe-
gung hervorgehoben. „Unendlich weit, so müssen wir doch wohl behaupten, ragt
die Bewegung hervor, die sich selbst bewegen kann, während die anderen alle
hinter ihr zurückstehen“ (Lg. 894d), resümiert der Athener. Ihrer Entstehung und
ihrer Kraft nach sei sie deshalb die erste. Der Begriff der Lebendigkeit wird ins
Spiel gebracht, wo Selbstbewegung in etwas Körperlichem, etwas, das aus Erde,
Wasser oder Feuer besteht, wahrnehmbar wird. Insofern anschließend festge-
stellt wird, dass auch der beseelte Körper als lebendiger bezeichnet wird, dient
hier der Begriff der Lebendigkeit als Brücke zur Identifizierung der Selbstbewe-
gung mit der Definition (λόγος) der Seele.
Ihre Verknüpfung mit dem Bewegungsursprung und der Unsterblichkeit
weist der Seele eine Mittlerfunktion zwischen dem ewigen intelligiblen und dem
geschaffenen wahrnehmbaren Kosmos zu. Sie ist der zentrale Ort der kognitiven
und schöpferischen Vermittlung, an dem sich Ideen und Gegenstände, Denken
und Wahrnehmung, Eines und Vieles begegnen. In einer präzisen Beschrei-
bung der Seele, die sich der Frage stellt, was es eigentlich meint, „sich selbst“
zu bewegen, laufen daher alle grundlegenden Themenkomplexe des spätplatoni-
schen Œuvres zusammen: Ontologie, Epistemologie, Kosmologie, Staats theorie
finden alle ihren gemeinsamen Mittelpunkt in der vermittelnden und alles ur-
sprünglich bewegenden Seele.