Table Of ContentReligion als Phänomen
Theologische Bibliothek
Töpelmann
Herausgegeben von
O. Bayer · W Härle · H.-P. Müller
Band 111
W
DE
G_
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
Religion als Phänomen
Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische
Erkundungen in der Lebenswelt
Herausgegeben von
Wolf-Eckart Failing, Hans-Günter Heimbrock
und Thomas A. Lötz
W
DE
G
Walter de Gruyter • Berlin • New York
2001
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Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Religion als Phänomen : sozialwissenschaftliche, theologische und
philosophische Erkundungen in der Lebenswelt / hrsg. von Wolf-
Eckart Failing - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001
(Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 111)
ISBN 3-11-016852-9
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Inhaltsverzeichnis
Wolf-Eckart Failing / Thomas Α. Lötz:
Einführung 1
Teil I:
Das Interesse der Praktischen Theologie an der Phänomenologie
Wolf-Eckart Failing / Hans-Günter Heimbrock:
Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion.
Problemhorizonte und Leitbegriffe 15
Henning Schwer:
Die Bedeutung der Phänomenologie für die Konstitution
Praktischer Theologie 46
Teil II:
Phänomenologie als Gesprächspartnerin
Bernhard Waidenfels:
Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer
Religionsphänomenologie 63
Michael Moxter:
Die Phänomene der Phänomenologie 85
Teil III:
Phänomenologie und Religion
Hermann Deusen
Instinkt und Symbol. Semiotische Phänomenologie der Religiosität 99
Wolf-Dietrich Bukow:
Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen,
lebensweltlichen und kommunikativen Kontext 121
VI Inhaltsverzeichnis
Teil IV:
Erkundungen zu Leitbegriffen der Praktischen Theologie
Werner Schneider-Quindeau:
Bewegte Blicke. Erfahrungen mit dem Sehen in Film und Glaube 147
Thomas A. Lotr.
Zeichen 159
Wolf-Eckart Failing / Hans Günter Heimbrock.
Das Heilige 192
Die Autoren dieses Bandes 208
Personenregister 211
Wolf-Eckart Failing / Thomas Α. Lötz
Einführung
1. Der Ausgangspunkt
Dieses Buch verdankt sich einer Frankfurter Konsultation, einem wissen-
schaftlichen mutuum colloquium fratrum. Man nennt das sinnvollerweise nur
so, wenn echter Beratungsbedarf vorliegt. Wir bekennen uns dazu und hatten
Menschen eingeladen, von denen wir wußten oder denen wir zumindest be-
gründet unterstellen konnten, daß sie noch nicht fertig sind mit der Bemü-
hung, Gegenstand und Wirkung von Religion zu erkunden, das Interesse von
Theologie am Leben kenntlich zu machen und zur Aufhellung einer Lebens-
praxis beizutragen, die von beidem, Religion wie Theologie, mitbestimmt ist.
Die Herausgeber und ihr Umfeld arbeiten an der Programmatik einer
„Hermeneutik der religiösen Lebenswelt"1, einer „alltagsorientierten Prakti-
schen Theologie"2 bzw. einer „lebensweltorientierten Praktischen Theolo-
gie"3. Dieser Programmatik korrespondiert der variierte Anschluß an neuere
Entwicklungen in der Psychoanalyse, der ethnologisch orientierten Kul-
turanthropologie sowie der nachhusserlschen Phänomenologie bzw. Wissen-
schaftsansätzen, die stark von der Phänomenologie beeinflußt sind, wie etwa
die Gestalttheorie, oder Theorien, die Entsprechungen aufweisen wie der
Pragmatismus, vielleicht auch der Konstruktivismus. Im Hintergrund steht
die Tatsache, daß in dem Moment, in dem die Praktische Theologie sich nicht
mehr als Anwendung dogmatischer Vorgaben versteht, sie sich alle grundla-
gentheoretischen Probleme selbst ins Haus holt und damit Beratungsbedarf
grundlegender Art entsteht.
Wir haben in der gegenwärtigen Arbeitsphase den Akzent auf die Phäno-
menologie gelegt. Wir fragen also nach Bedeutung wie Belastbarkeit der
1 H.-G. Heimbrock, Frömmigkeit als Problem der Praktischen Theologie, in: Wissenschaft
und Praxis in Kirche und Gesellschaft 71 (1983), 18-32.
2 H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts,
Stuttgart 1992.
3 Vgl. R. Degen/W.-E. Failing/K. Foitzik (Hg.), Mitten in der Lebenswelt, Münster 1992;
H. Streib, Alltagsreligion oder: Wie religiös ist der Alltag? Zur lebensweltlichen Veror-
tung von Religion in praktisch-theologischem Interesse, in: International Journal of Prac-
tical Theology 2 (1998), 23-51.
2 Failing/Lotz: Einführung
Phänomenologie für Konstitution, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweise
und Forschungsstrategien der Praktischen Theologie.4
Sie erscheint uns nicht nur deshalb für Theologie interessant, weil - wie
Hermann Lübbe es sah - die husserlsche Phänomenologie „zu den in der
Philosophiegeschichte seltenen Theorien gehört, in denen, ohne Vermeidung,
jene Probleme nicht vorkommen, die sie der Gefahr einer Konkurrenz oder
Kollision mit der Theologie ausgesetzt hätten".5 Die Phänomenologie stellt
für uns aber nicht eine Regionalontologie für die Praktische Theologie dar.
Wir schließen auch weder an das frühe, interessante Programm einer „phä-
nomenologischen Theologie" an, das Theobald Süß 1961 vorlegte6, noch an
die 1994 vorgelegte Programmatik einer „phänomenologischen Dogmatik"
(Meckenstock, Deuser, Track, Herms)7, noch direkt an die Bemühungen von
H. Timm.8 Vielmehr sprechen wir vorsichtiger von der Fruchtbarkeit einer
phänomenologischen Orientierung in der Praktischen Theologie, nicht von
einer phänomenologischen Praktischen Theologie.9
4 Vgl. inzwischen W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Le-
benswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998; H.-G. Heimbrock (Hg.),
Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wende zur Lebenswelt,
Weinheim 1998; Th. A. Lötz, Ein Körper verschwindet. Zur Wahrnehmung der kirchli-
chen Bestattung, in: Pastoraltheologie 86 (1997), 392-410; ders., Hochzeit feiern. Die
kirchliche Trauung und das Heilige, in: E. Hauschildt u.a. (Hg.), Praktische Theologie als
Topographie des Christentums (FS W. Steck), Rheinbach 2000, 131-151; H.-G. Heim-
brock, Öffnung zum Leben. Ein Forschungsbericht zur Phänomenologie in der neueren
Praktischen Theologie, in: International Journal of Practical Theology 4 (2000), No. 2.
5 H. Lübbe, Die geschichtliche Bedeutung der Subjektivitätstheorie E. Husserls, in: Neue
Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 2 (1960), 319. Schon
Heidegger hatte das anders gesehen, vgl. M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie
(1927), Frankfurt/M. 1970, 13 ff.
6 Th. Süß, Phänomenologische Theologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theolo-
gie und Religionsphilosophie 5 (1963), 34ff. Vgl. ferner E. Farley, Phenomenology in
catholic and protestant Thought, in: ders., Ecclesial Man. A Social Phenomenology of
Faith and Reality, Philadelphia 1975, 235ff.; neuerdings H. Ott, Das Projekt einer Phä-
nomenologie des Glaubens, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religi-
onsphilosophie 41 (1999), 78ff.
7 W. Härle/R. Preul (Hg.), Phänomenologie (Marburger Jahrbuch Theologie VI), Marburg
1994.
8 H. Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des Alltags, Gütersloh 1983.
9 Nach Abschluß der Manuskripte dieses Bandes hat Wolfgang Steck den ersten Band
seiner Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie vorgelegt (W. Steck, Praktische
Theologie. Horizonte der Religion - Konturen des neuzeitlichen Christentums - Struktu-
ren der religiösen Lebenswelt, Band I, Stuttgart u.a. 2000). Stecks Theoriekonstruktion
„bedient sich zur Erstellung der zugleich mehrschichtigen wie mehrdimensionalen Topo-
graphie der religiösen Lebenswelt durchgängig einer mehrstufigen phänomenologischen
Methodik." (33) Die Debatte darüber, wie sich dieser Ansatz zu den hier vorgestellten
Überlegungen verhält, muß an anderer Stelle geführt werden.
Der Ausgangspunkt 3
Welchen Ausgangsimpulsen verdankt sich das Zugehen auf Begriff und Sa-
che der Phänomenologie?
1.1 Die konstitutive Bedeutung vortheoretischer Erfahrung
Es bleibt für die Praktische Theologie die Aufgabe vorgegeben, Bedingungen
und Möglichkeiten gelebter Religion in der Lebenswelt zu erkunden, kritisch
im Sinne christlicher Wahrheitssuche zu begleiten und behutsame Anregun-
gen zu geben für ihre Kultivierung wie Gestaltung.
Praktisch-theologisch intendiertes Handeln ist ein Wechselwirkungspro-
zeß, der in dem Maße, in dem er in der Lebenswelt erfolgt, durch die unmit-
telbare und vorprädikative Herausbildung von Subjektivität charakterisiert
ist. Diese entsteht ihrerseits auf signifikante Weise und entsprechend des so-
zialen Handelns mit anderen Subjekten, mit denen sie ineinandergreift, denn
die Lebenswelt ist die gemeinsam geteilte Welt. Dabei kann die alte Streit-
frage zunächst einmal suspendiert werden, ob wir es hier mit einem subjekti-
ven oder einem sozialen Apriori zu tun haben, denn die konstitutive Bedeu-
tung von Intersubjektivität und Geschichte ist generell vorausgesetzt.
Nur aus der Sicht der Lebenswelt kann die praktisch-theologische Wech-
selwirkung nicht als intellektualistische, rationale und technologische, son-
dern als vitale und leidenschaftliche Wechselwirkung enthüllt werden.
Was erbringt dazu die Phänomenologie?
Phänomenologie nach unserem Verständnis betont eine Reflexionsweise, die
nicht bloß auch alltägliche Erfahrungs- und Erlebnisvollzüge zur Sprache
bringt, sondern die als „Hermeneutik der Erfahrung" lebensweltliche Struktu-
ren des Handelns, leiblichen Verhaltens, Wahrnehmens und Denkens als
Fundament sowohl alltäglicher als auch wissenschaftlicher Sichtweisen
menschlicher Existenz und der Wirklichkeit aufzuweisen bemüht ist. Das
Husserlsche „Zurück zu den Sachen selbst" heißt zurückkehren auf diese
aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und
bezüglich derer alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, si-
gnitiv, sekundär bleibt.
Phänomenologische Thematisierung ist fur uns weder naiver Realismus
noch idealistischer Reduktionismus.
Paradoxerweise zeigen sich die Phänomene, die „Sache selbst", nicht als
das, was sozusagen auf der Hand liegt. Sie sind vielmehr verstellt und ver-
schüttet durch alltägliche wie wissenschaftliche Weisen des Betrachtens und
Handelns, die bis zur Kritiklosigkeit eingefahren sind. Um diese Routine zu
durchbrechen, ist ein Einstellungswechsel notwendig, der die Aufmerksam-
keit auf die ihr zugrundeliegende Erfahrung umleitet.
4 Failing/Lotz: Einführung
Die Folge einer Einbettung in die Lebenswelt berührt und verändert so-
wohl den Charakter von Vernunft (Husserl) als auch die Bestimmung des
Charakters von Religion und christlichem Glauben - so unsere Vermutung -
stärker als Husserl vorausgesehen und Theologen zu denken unternommen
haben. Und das gilt selbst dann, wenn sich näher belegen ließe, daß die eine
Lebenswelt (singularisch) keineswegs für alle alltägliche Sinnbildung ein
einheitliches und eindeutiges Fundament abgibt, und falls sich erhärten sollte,
daß es keine durchgängige Vernunftteleologie gibt - so die These von Bern-
hard Waidenfels10 und anderen.
Die Lebenswelt im strikt phänomenologischen Sinne ist ja nicht ein ande-
res Wort für Konkretion, sondern die Rede von der Lebenswelt verweist auch
die Praktische Theologie vor allem auf die Welt des beginnenden Auseinan-
ders, der Augenblicke des Übergangs von der Einheit zur Zweiheit, wo Han-
deln, Erkennen, Anschauung und Begriff, Bedeutung und Zeichen alles noch
ineinander und doch schon dabei ist - dort, wo es sich voneinander löst.
Es muß für die Praktische Theologie mit Interesse an gelebter Religion
bedeutsam sein, den unbemerkten Hintergrund, vor dem sich thematisch so
etwas wie Geist, neues Leben abhebt, selbst sich als Thema zu stellen. Sie
würde dann den umgebenden Horizont des Glaubens, in dessen Kontext sich
erst Dinge zu zeigen vermögen, auch selber ins Auge fassen können, und in
der Lage sein, das syntaktische Gerüst, dank dessen sinnvolle Rede über Gott
erst möglich wird, nun eigens zum Ausdruck zu bringen.
1.2 Die Bedeutung der Zwischenräume
Die phänomenologische Orientierung weist die Alternativen von Innerlich-
keit und Äußerlichkeit, von Privatem und Öffentlichem, von Innen (dem Sub-
jektiv-Psychischen und Mentalen) und Außen (dem Objektiven und Physi-
schen) ab und ist statt dessen imstande, zwischen diesen Polen zu vermitteln.
Daher kann sie als Korrektiv sowohl zur naturwissenschaftlich orientierten
reduktionistischen bzw. behavioristischen Verhaltenstheorie als auch zur
(philosophischen) Erlebnis- und Bewußtseinstheorie angesehen werden.
Noch einen Schritt weiter geht Bernhard Waldenfels, der dies nicht nur als
„Vermittlung" versteht, sondern als die Wahrnehmung von vermittelnden
Zwischenräumen.
Und was wäre, wenn Religion wie christlicher Glaube gerade in diesen
Zwischenräumen, an und auf den Schwellen und Übergängen, ihren produk-
tiven Ort hätten?
10 Vgl. B. Waidenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 21994.