Table Of ContentAshkenasi Reformpartei und AuBenpolitik:
Abraham Ashkenasi
Reformpartei und
AuBenpolitik
Die Aufienpolitik der SPD Berlin-Bonn
Westdeutscher Verlag
Koln und Opladen 1968
ISBN 978-3-322-97924-7 ISBN 978-3-322-98466-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-98466-1
Verlags-Nr. 051042
© 1968 by Westdeutsmer Verlag GmbH, Koln und Opladen
Gesamtherstellung: Druckerei Dr. Friedrim Middelhauve GmbH, Opladen
Umsmlag: Herbert W. Kapitzki, Ulm
Inhalt
Erstes Kapitel: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Reformistische Parteien und AuBenpolitik .......................... 7
2. Die Haltung der SPD zur auBenpolitischen Situation der Bundesrepublik.. 10
Zweites Kapitel: Kurt Schumacher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 14
Drittes Kapitel: Politik der Opposition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23
Die Entwiddung des auBenpolitischen Programms der SPD 1949-1954. ... 23
Viertes Kapitel: Innerparteilicher Kampf und AuBenpolitik -
Die Berliner Sozialdemokratie 1946-1955 . . . .... ...... ........ .... ... 50
1. Die Entstehung der SPD im Nachkriegsberlin ........................ 50
2. Das politische Denken Ernst Reuters ................................ 54
3. Die eigenstandige Politik des Berliner Landesverbandes ................ 60
4. Die Periode nach Reuters Tod .................................... 97
Funftes Kapitel: Die AuBen-und Verteidigungspolitik der
Gesamtpartei 1955-1959 .......................................... 104
1. Die Verscharfung der Opposition in der Auseinandersetzung urn die Wieder-
bewaffnung .................................................... 104
2. Innere Kiimpfe -KuBere Solidaritat 1956-1959 ...................... 112
Sechstes Kapitel: Der Sieg des .. Rechten Fliigelsc in Berlin ................. 131
1. Brandts Machtiibernahme in der Regierung .......................... 131
2. Die Obernahme der Parteiorganisation .............................. 145
3. Der Brandt-Fliigel an der Macht .................................. 152
Siebtes Kapitel: Berlin und der Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171
Die Neuorientierung der sozialdemokratisdten Nadtkriegspolitik ........ 171
Achtes Kapitel: Ergebnisse .......................................... 182
Nachwort ........................................................ 187
Bibliographie ..................................................... 213
Register .......................................................... 217
Erstes Kapitel: Einleitung
1. Re/ormistische Parteien und AufJenpolitik
Nationale reformistische Parteien zeichnen sich dadurch aus, daB sie die bestehende
politische Ordnung innerhalb des eigenen Staates durch Reform zu verandern
suchen. 1m Parlamentarismus westlicher Pragung unterscheiden sich reformistische
Parteien von revolutionaren dadurch, daB sie jede Gewalt als Mittel ihrer Politik
ablehnen und bewuBt systemkonform arbeiten. Auch ist die ideologische Kompo
nente ihrer Politik nicht so stark ausgepragt wie bei den revolutionaren Parteien.
Seit Grundung der Komintern im Jahre 1919 ist es ublich geworden, die reformisti
schen Parteien unter dem Sammelbegriff Nicht-kommunistische Linke zusammen
zufassen. Zu ihr gehoren die britische Labour Party und die sozialdemokratischen
und sozialistischen Parteien des Kontinents, aber auch die japanischen Sozialisten.
Reformistische Parteien haben sich stets in erster Linie auf innenpolitische Fragen
konzentriert. Eine grundliche Auseinandersetzung mit auBenpolitischen Problemen
schien fUr sie von zweitrangiger Bedeutung gewesen zu sein 1. Sie standen oft jahre
lang dem Phanomen der Macht in der international en Politik gleichgultig oder ver
standnislos gegenuber. In der Regel betraten sie die politische Buhne als Opposi
tionsparteien. Diese Rolle, in Verbindung mit einem tiefverwurzelten MiBtrauen
gegenuber den konservativen Regierungsparteien, verfuhrte die reformistischen
Parteien allzu haufig dazu, die AuBen- und Militarpolitik konservativer Regierun
gen rigoros und pauschal zu verurteilen 2.
Tatsachlich konnte gerade die Tatsache, daB die Reformisten fur lange Zeit von der
Regierungsverantwortung ausgeschlossen waren, einer der Hauptgrunde fur ihre
Schwierigkeiten in auBenpolitischen Angelegenheiten sein. Denn je langer eine Par
tei in der Opposition steht, desto eher neigt sie dazu, die unabanderlichen Bedingun
gen der internationalen Politik als eine von der betroffenen Regierung herauf
beschworene Obergangssituation zu verstehen - insbesondere dann, wenn sie kei
nerlei Informationen erhalt. Keine Partei kann z. B. die Notwendigkeit gegenseiti
ger Zugestandnisse bei Verhandlungen sinnvoll beurteilen, wenn sie nicht vorher
uber die anstehenden Probleme informiert und konsultiert worden ist. Eine solche
1 Z. B. gingen selbst linke Theoretiker wie Hobson und Hilferding in ihren Betrachtungen
iiber die AuBenpolitik von der Wirtschafts- und Innenpolitik aus. Vgl. Wilfried Gott
schalch, StTukturveTandeTungen deT Gesellschaft in deT LehTe von Rudolf HilfeTding,
Berlin 1962.
2 Typisch ist folgende Bemerkung, die der junge Paul Herni Spaak zu machen pflegte:
»Nous repudions totalement Ie principe de la defense nationale en regime capitaliste.«
S. Helmut Bohn, Die Sozialisten und die VeTteidigung, Kaln 1957, S. 16. Stafford
Cripps auBerte sich ahnlich auf dem Parteitag der britischen Labour Party 1935. S.
Allan Bullodt, Ernest Bevin, Bd. I, Toronto, Melbourne, London 1960, S. 567.
8 Einleitung
auBenpolitische Urteilsfahigkeit setzt auch voraus, daB Vertreter der Opposition
Einsicht in vertrauliche Schriftstii<ke erhalten.
Die britische Labour Party der dreiBiger Jahre ist ein gutes Beispiel daflir, wie un
realistisc:h eine reformistische Partei auf auBenpolitische Ereignisse reagieren kann,
wenn sie keine Informationskanale zur Regierung hat oder ihr jegliches Gefiihl der
Gemeinsamkeit mit der Regierungspartei abgeht 3. Nac:h dem Zweiten Weltkrieg
bildete sich innerhalb der Labour Party eine starke oppositionelle Gruppe, die sic:h
gegen den eigenen Parteifiihrer Gaitskell wandte. Es ist bezeichnend, daB gerade
diejenigen zu dieser Attacke bliesen, die die geringste Regierungserfahrung hatten
und am weitesten von den Problemen der internationalen Politik entfernt waren -
namlic:h die Gewerkschaften und einige sozialistisc:he Intellektuelle. Diese Entwi<k
lung erreic:hte zwischen 1956 und 1960 ihren H6hepunkt, also zu einer Zeit, da die
Labour Party bereits langst wieder Oppositionspartei war.
1m Grunde ist keine Oppositionspartei gegen eine solehe Entwi<klung gefeit. Man
denke nur an die emotionale, den Gegebenheiten der internationalen Politik wenig
entsprechende Haltung der Republikanischen Partei in Amerika gegeniiber der
auBenpolitischen Zielsetzung der Demokraten unmittelbar nach dem Ersten Welt
krieg und Ende der dreiBiger Jahre.
Wenn wir hier also etwas iiber die auBenpolitischen 1mplikationen reformistischer
Politik aussagen wollen, so miissen wir stets beachten, daB die auBenpolitischen Vor
stellungen reformistischer Parteien durch die Rolle als Opposition mitgepragt wor
den sind. Dies gilt es urn so mehr festzuhalten, als es nac:h dem Zweiten Weltkrieg
in erster Linie reformistische Parteien waren, die in den groBeren europaischen
Landern bis in die 60er Jahre hinein die Opposition bildeten: so in der Bundes
republik, in GroBbritannien seit Anfang der fiinfziger Jahre, mit Einschrankungen
auc:h in Italien 4. Japan sollte an dieser Stelle ebenfalls genannt werden. Das Beispiel
der SPD und der japanischen Sozialisten scheint das hier relevante Problem am
deutlichsten zu illustrieren 5.
a Die von George Lansbury angeflihrte Unterhausfraktion der britischen Labour Party,
in der Pazifismus, Unerfahrenheit und MiBtrauen gegenliber allem Konservativen eine
groBe Rolle spielten, reagierte auf die neuen Diktaturen auf dem Kontinent zunachst
einmal damit, daB sie den Generalstreikgedanken wieder ausgrub. Die Unterhausfraktion
der Labour Party hatte bis 1935 nicht einmal einen VerteidigungsausschuB. Diese pazifi
stische Einstellung in reformistischen Kreisen und die durch die Oppositionshaltung be
dingte Naivitat war jedoch nicht auf die britische Labour Party beschrankt. Die nieder
landische Sozialistische Arbeiterpartei (SDAP) setzte sich selbst angesichts der deutschen
Bedrohung bis 1937 nicht flir die nationale Verteidigung und Verstarkung des Militars ein.
Die schweizerische Sozialdemokratische Partei und die belgische Sozialistische Partei
anderten ihre Einstellung auch nur ein Jahr frliher als die Niederlander. Bohn, op. cit.,
S.52-55.
4 Z. B. waren die Nenni-Sozialisten von 1948-1964 in der Opposition. Die Sozialdemo
kraten unter Saragat arbeiteten in derselben Zeit zwar mit verschiedenen Regierungen zu
sammen, sie bilden aber nur ungefahr ein Viertel der gesamten nichtkommunistischen
Linken in Italien.
S Der Demonstrationswert der romanischen sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Par
teien wird durch innere Zersplitterungen und personliche Rivalitaten stark beeintrachtigt.
Die britische Labour Party ist insofern als Beispiel fiir die Nachkriegsperiode nicht repra-
Einleitung 9
Die auBenpolitischen Schwierigkeiten dieser Parteien sind durch die Spaltung der
Welt in zwei einander feindlich gegenuberstehende Lager nachhaltig verscharft wor
den. Schon fur die Zeit zwischen 1917 und 1945 laBt sich eine grundsatzliche ideo
logische Aversion weiter Kreise des Reformismus gegenuber dem Bolschewismus
beobachten. Fur die Ernuchterung der Reformisten ist weitgehend die stalinistische
Praxis der sowjetischen Innenpolitik verantwortlich. Andererseits haben bestimmte
Gruppen in den reformistischen Parteien stets den wirtschaftlichen und wissen
schaftlichen Fortschritt der Sowjetunion bewundert und die Erfolge der sowjeti
schen Politik als schlussigen Beweis fUr die Fruchtbarkeit der Planwirtschaft ver
standen. In dies em Sinne haben die sozialistischen Vorstellungen der reformistischen
Parteien auch im auBenpolitischen Denken gegenuber der Sowjetunion eine Rolle
gespielt. So kann man fur die SPD die Regel aufstellen, daB ihre Mitglieder urn so
nachhaltiger fUr eine versBhnliche Haltung gegenuber der Sowjetunion eintraten je
starker ihr Denken auf die Verwirklichung eines konsequenten Sozialismus ausge
richtet war 6. Das gleiche gilt fur die nichtkommunistische Linke in anderen euro
paischen Landern.
Auf der anderen Seite ist die Bejahung des politischen und wirtschaftlichen Systems
der Vereinigten Staaten von Amerika in der demokratischen Linken nicht sehr weit
verbreitet gewesen. Man miBtraute dem amerikanischen System der freien Markt
wirtschaft. Sowohl Sozialisten als auch liberale Reformer zweifel ten in den funfzi
ger Jahren an der Fahigkeit der USA, mit anderen als militarischen Problemen
Fertig zu werden. Die nichtkommunistische Linke war der Ansicht, daB Amerika
die inneren Spannungen der sogenannten freien Welt nicht genugend beriicksich
tigte: die ungleiche Verteilung des Eigentums, die fortbestehenden Klassenunter
schiede, das reaktionare Verhalten der Konservativen etc. Die amerikanischen Mili
tarabkommen mit Spanien und Portugal riefen den Unwillen der Linken hervor.
Zuweilen machte sich im reformistischen Denken ein rastloser Skeptizismus gegen
iiber allen Aspekten des politischen Lebens in den USA breit. Als Beispiel sei hier
Waldemar von Knoeringen zitiert, der kaum als Radikaler bezeichnet werden kann.
Als Leiter der bayrischen Delegation auf dem Parteitag von 1954 in Berlin erklarte
von Knoeringen, die Welt sei vor die Alternative gestellt, lOentweder demokratisch
sozialistisch oder das Opfer irgendeiner Diktatur •.•, mag sie bolschewistisch oder
mag sie amerikanisch-faschistisch seine 7, zu werden.
Diese Neigung zur ideologischen SchwarzweiBmalerei schadete den Versuchen der
demokratischen Linken, die auBenpolitischen Probleme befriedigend zu IBsen. Fur
einige Vertreter der Linken stellten die USA eine genauso groBe potentielle Be
drohung dar wie die Sowjetunion. Zwar galt die SU als brutaler und unverfrore-
sentativ, als sie aus der Kriegskoalition und ihrer Regierungszeit zwischen 1946-1951
ein Gespiir fiir AuBenpolitik mitbrachte.
6 In der SPD gab es jedoch auch eine kleine Gruppe von Leuten, die sich der Verwirk
lichung eines konsequenten Sozialismus in Deutschland verschrieben hatte, aber dennoch
entschieden gegen die Sowjetunion eingestellt waren und eine realistische Haltung zu den
militarischen MaBnahmen zeigten, die notwendig waren, urn der sowjetischen Bedrohung
begegnen zu konnen. Das galt fiir Kurt Schumacher.
1 Die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratiso,en Partei Deutso,lands, Berlin
1954, S. 93.
10 Einleitung
ner, aber die subtilen Methoden der Druckausiibung von seiten der USA wurden
fiir ebenso gefahrlich gehalten.
So iibertrieben diese Befiirchtungen auch gewesen sein mogen, hervorgerufen wur
den sie u. a. durch uniiberlegte amerikanische .Aufierungen wahrend der Wahlen in
Italien und Deutschlands Anfang der fiinfziger Jahre 8.
Andere verleitete der Wunsch nach ideologischer Reinheit zu einer neutralen - oder
besser: passiven - Haltung im Ost-West-Konflikt. Sie vermieden es manchmal
nicht dadurch, die GroBmachte ganz allgemein mit bestimmten innenpolitischen
Gegnern zu identifizieren und auf diesem Wege innenpolitische Gegensatze auf die
internationale Politik zu iibertragen.
Es ware jedoch falsch anzunehmen, daB reformistische Gruppen a priori zu Oppo
sition oder Passivitat in der AuBenpolitik verurteilt sind. Die Teilhabe an der Re
gierungsverantwortung hat in einigen europaischen Reformparteien bedeutende
AuBenpolitiker hervorgebracht. Spaak, Hansen, Lange, aber auch Bevin und Gaits
kell waren hier als Beispiel zu nennen. Selbst in der SPD regte sich eine »realistische«
Opposition gegen die Parteilinie in der AuBenpolitik. Sie verurteilte die Haltung
der SPD als illusorisch. Die Aktionsbasis dieser Opposition waren vor allem Bre
men, Hamburg und Berlin, deren sozialdemokratische Biirgermeister mit den
auBenpolitischen Vorstellungen der Bundespartei nicht voll iibereinstimmten. In
Berlin wurde wahrend der gesamten Nachkriegszeit ein innerparteilicher Macht
kampf ausgetragen, in dem die Abweichung der Berliner SPD von der auBenpoliti
schen Linie der Mutterpartei eine beherrschende, wenn nicht die entscheidende Rolle
spielte.
Diese Studie wird sich mit den Reaktionen von drei reformistischen Gruppen auf
die AuBenpolitik einer konservativen Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg be
schaftigen. Es handelt sich dabei urn die Bundes-SPD einerseits, den Reuter-Brandt
Fliigel (d. h. den rechten Fliigel bzw. die Regierungsfraktion in Berlin) und den
Neumann-Fliigel (die Linke) der Berliner SPD andererseits. 1m Bund stand die
SPD im Berichtszeitraum durchgehend in Opposition zur CDU/CSU. Der Neu
mann-Fliigel kampfte nach zwei Seiten: gegen die Bundesregierung der CDU/CSU
und gegen den Reuter-Brandt-Fliigel der eigenen Partei. Die Reuter-Brandt-Gruppe
stellt in Berlin die Regierung. 1m folgenden solI versucht werden, die Hauptfak
toren herauszuarbeiten, die den ProzeB der auBenpolitischen Meinungs- und Wil
lensbildung in diesen drei Gruppen bestimmt haben.
2. Die Haltung deT SPD ZUT aupenpolitischen Situation deT BundesTepublik
Wilhelm Grewe, von 1958 bis 1962 Botschafter der Bundesrepublik in Washington,
jetzt deutscher NATO-Botschafter und zweifellos einer der einfluBreichsten Theo
retiker und Praktiker auf diesem Gebiet, hat die Ziele der deutschen AuBenpolitik
wie folgt umrissen:
8 Hier sind vor allem John Foster Dulles und Clair Booth Luce zu nennen. Ein (namentlim
nimt genannter) CDU-Politiker behauptet, daB die Einmismung Dulles' in die westdeut
smen Wahlen 1953 eine Million Wahler in die Arme der CDU getrieben habe. S. Uwe
Kitzinger, German Election Politics, Oxford 1958, S. 251.
Einleitung 11
1. Wiedergewinnung der staatlichen Souveranitat und der Handlungsfreiheit.
2. Sicherung dieser Souveranitat und Handlungsfreiheit sowohl gegen die Gefahr eines
von auBen gelenkten kommunistischen Staatsstreichs (z. B. nach dem Modell Prag 1948);
Sicherung insbesondere auch des freien Berlins gegen jeden Versuch, es politisch zu unter
werfen (z. B. nach dem Modell der Blotkade 1948/49).
3. Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, insbesondere West- und Mittel
deutschlands, Wiedereinsetzung Berlins in seine historische Rolle als Hauptstadt Deutsch
lands und territoriale Konsolidierung des deutschen Staatsgebietes durch einen frei ver
handelten Friedensvertrag auf der Grundlage einer friedlichen Verstandigung mit den
Nachbarvolkern tiber die strittigen Grenzfragen.
4. Starkung des freien Europas durch wirtschaftliche Integration und politische Zusam
menarbeit und ZusammenschluB in einer moglichst engen fOderativen Staatsgemeinschaft.
5. Sicherung des Weltfriedens durch internationale Entspannung und moglichst weitgehend
kontrollierte Abrtistung sowie Aufbau friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen
zu moglichst vielen Nationen der Welt. 9
Nach Grewes Auffassung war die politische Lage Deutschlands bestimmt:
1. durch den Zusammenbruch der deutschen Staatsgewalt 1945 und ihre Reorganisation
unter der Kontrolle eines Besatzungsregimes;
2. durch die Gefahr einer weiteren Expansion des Sowjet-Imperiums nach Westen und die
kommunistische Gleichschaltung Westdeutschlands;
3. durch die Aufspaltung des frtiheren Reichsgebietes in politisch streng getrennte Teil
gebiete: die Bundesrepublik, das Saargebiet, West-und Ostberlin, das sowjetisch besetzte
Mitteldeutschland und die Ostgebiete jenseits der Oder-NeiBe-Linie unter polnischer bzw.
sowjetischer Verwaltung;
4. durch den politischen und wirtschaftlichen Machtverfall des von kommunistischer Herr
schaft freien Europas zwischen den neuen Weltmachten in Ost und West;
5. durch die ideologische Spaltung der Welt in zwei feindliche Lager, durch die latente
Spannung und die akuten Konflikte zwischen diesen, durch die Entwitklung des kalten
Krieges und die standige Gefahrdung des Weltfriedens in einem Zeitalter, das zugleich
tiber todliche und die Existenz der Menschheit gefahrdende Massenvernichtungsmittel
verfiigt 10.
In der Dekade zwismen 1950 und 1960 entspram die bundesrepublikanisme AuBen
politik weitgehend der Analyse Grewes. Insbesondere die Bedeutung der Tatsache,
daB die deutsche Staatsgewalt unter der Kontrolle eines Besatzungsregimes reorga
nisiert worden war und stets mit der Moglimkeit einer kommunistismen Expan
sion nam Westen gerechnet werden muBte, hatte sim tief in das BewuBtsein der
westdeutschen Politiker eingegraben. Das heiBt, die Simerheit der Bundesrepublik
wurde als vorrangiges Ziel der AuBenpolitik gewertet. Die Niederlage im Krieg
und die ihr folgende Schwamung der moralismen, politischen und physischen Posi
tion Deutschlands auf dem Hintergrund eines kiihnen militarischen und ideologi
smen Expansionsdranges der Sowjetunion machten eine feste Bindung der Bundes
republik an den Westen zwingend. Aber Simerheit konnte - zumindest in den
ersten Jahren - nur urn den Preis politischer Abhangigkeit erkauft werden. Poli
tische Unabhangigkeit war in der damals bestehenden Situation ein Fernziel der
deutsmen Politik, nicht eine unmittelbar gegebene Moglichkeit. Die Adenauer-Re
gierung schatzte die relative Smwache der Bundesrepublik und die entsprechende
Abhangigkeit vom Westen, insbesondere von den USA, niimtern ein. Die dieser Ein
sicht entsprechende Biindnispolitik des Kanzlers, das Bekenntnis zur Idee einer west-
9 Wilhelm Grewe, Deutsche Aupenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960, S. 3.
10 Ibid., S. 2.
12 Einleitung
europaischen Gemeinschaft und die Unnachgiebigkeit gegeniiber dem Osten sicher
ten der Bundesrepublik in kritischen Augenblicken den Beistand der westlichen
Lander. Die exponierte Stellung der Bundesrepublik und die Furcht vor den
Sowjets fiihrte zu einer relativ inflexiblen, ja phantasielosen Politik. Es kann nicht
verleugnet werden, daB diese Haltung eine Verhartung der deutschen Spaltung be
wirkte. Andererseits war aber die Wiedervereinigung - wenn wir Grewes Analyse
folgen - gegeniiber der Sicherheit Westdeutschlands kein vorrangiges Zielll•
Die SPD, die eigene auBenpolitische Vorstellungen entwickelt hatte und mit diesen
eine scharfe Opposition gegen die auBenpolitische Linie der Bundesregierung be
trieb, war iiberzeugt, daB Adenauers Politik steril sei und verheerende Folgen fUr
die Frage der Wiedervereinigung haben miisse 12. Die Sozialdemokraten befUrwor
teten eine konsequente Ausrichtung der westdeutschen AuBenpolitik auf das Ziel
der Wiedervereinigung hin und kritisierten auf das scharfste aIle MaBnahmen, die
ihrer Ansicht nach eine vorrangige Verwirklichung dieses Ziels in Frage stellen
muBten. Hierbei scheinen sie fiir einige Jahre die tatsachlichen Gegebenheiten der
Ost-West-Konstellation in der Nachkriegszeit aus den Augen verloren zu haben.
Dariiber hinaus verkannten sie anscheinend auch einige Grundbedingungen jeglicher
internationalen Politik iiberhaupt. AuBenpolitische Ziele konnen nur erreicht wer
den, wenn geniigend militarische und (oder) politische und wirtschaftliche Macht zur
Verfiigung steht, um den Gegenspieler auszuschalten oder ihm einen KompromiB
lohnend erscheinen zu lassen. Versuche, sich das Wohlwollen der gegnerischen Seite
durch Konzessionen zu erkaufen, enden meist in einer Katastrophe. Bei der inneren
und auBeren Schwache wahrend der ersten Jahre ihres Bestehens lag die einzige
Moglichkeit der Bundesrepublik in einer Allianz, die zumindest ihre Stabilitat und
Sicherheit garantieren konnte. Selbstandige Aktionen gegen die erklarte Politik der
Sowjetunion waren in dieser Situation toricht gewesen. Aus der Einsicht in die
eigene Schwache eines Staates folgt - bei einer potentiellen oder wirklichen Be
drohung - logisch die Notwendigkeit, die eigene Verteidigungskraft durch ein
Biindnis mit anderen Staaten zu starken. Der SPD scheint diese Konsequenz der
bundesrepublikanischen Nachkriegssituation nicht voll eingeleuchtet zu haben. Mei
nes Erachtens hatte ihre Politik jedenfalls bedeutet, daB die Bundesrepublik als ein
11 Vgl. Alfred Grosser, Die Bonner Demokratie, Dusseldorf 1960, S. 305. "Die wesentlichen
Ziele der westdeutschen Politik im Jahre 1949 waren notwendigerweise: Wiedererlangung
der Souveranitlit, Eingliederung in das seit 1947 entstehende gemeinsame Europa als
gleichberechtigter Partner und Wiedervereinigung der verschiedensten Teile Deutschlands.«
Grosser meint, Adenauer sei entschlossen gewesen, das Nachkriegsdeutschland zu europai
sieren und fur dieses Ziel alle anderen Oberlegungen zuriickzustellen, selbst die Wieder
vereinigung. Vgl. S. 319. Was Adenauer unter ,.Europa« verstand, fuhrt Grosser nicht
aus. Vgl. in diesem Zusammenhang auch S. 325.
12 Obwohl z. B. die Oberburgermeister von Bremen und Hamburg mit der AuBenpolitik
der Gesamtpartei nicht immer einverstanden waren - etwa in der Frage des Europarats
oder Schumanplans - revoltierten die Hamburger und Bremer Mitglieder der sozial
demokratischen Bundestagsfraktion nicht gegen die SPD-Fuhrung. Einige SPD-Parlamen
tarier schatzten die auBenpolitische Situation der BRD durchaus anders ein als der Partei
vorstand. So 5011 Mommer einmal gesagt haben, die Verhinderung der deutschen Einglie
derung in die westliche Gemeinschaft ware fur die Sowjets ein ebenso groBer Gewinn
wie ihre gegenwartige Kontrolle uber Ostdeutschland. S. Bohn, op. cit., S. 84.