Table Of ContentMichael Becker· Hans-Joachim Lauth
Gert Pickel (Hrsg.)
Rechtsstaat und Demokratie
Michael Becker . Hans-Joachim Lauth
Gert Pickel (Hrsg.)
Rechtsstaat und
Demokratie
Theoretische und empirische Studien
zum Recht in der Demokratie
Westdeutscher Verlag
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1. Auflage August 2001
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ISBN-13: 978-3-531-13645-5 e-ISBN-13: 978-3-322-80399-3
DOT: 10.1007/978-3-322-80399-3
Inbalt
Einleitung
Michael Becker, Hans-Joachim Lauth und Gert Pickel:
Die Demokratie und das Recht. Beitrage zu Theorie und Praxis
politisch-rechtlicher Selbstbestimmung ..................................................................... 7
Tbeoretiscbe Gruodlageo oDd Probleme
Hans-Joachim Lauth:
Rechtsstaat, Rechtssysteme und Demokratie ........................................................... 21
Michael Becker:
Grundrechte versus Volkssouverlinitat.
Zur Achillesverse des demokratischen Prozeduralismus .......................................... 45
Axel Schulte:
Demokratie und Rechtsstaat als Wechselbeziehung.
Zur Interpretation des Verhaltnisses von Demokratie und
Rechtsstaat in der politischen Philosophie von Norberto Bobbio ............................ 69
Jorg Faust:
Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaftsordnung ................................................... 91
Peter Waldmann:
Alternative Normensysteme zur staatlichen Rechtsordnung in
Lateinamerika ......................................................................................................... 112
Philippe C. Schmitter:
Contrasting approaches to political engineering:
Constitutionalism and democratization .................................................................. 130
6 Inhalt
Empirische Befunde I: Fallstudien
Linda Helfrich-Bernal:
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Kolumbien? .............................................. 139
Elke Grawert:
Verkniipfungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im politischen
Reformprozess in Tansania .................................................................................... 163
Harald Mey:
Islamisches Rechtssystem und Demokratisierung.
Ubedegungen am Beispiel Iran .............................................................................. 184
Malte Woydt:
Belgien auf dem Weg zu mehr Rechtsstaat und Demokratie ................................. 202
lain Byrne and Stuart Weir:
The Uncertainties of the Rule of Law in Britain .................................................... 224
Empirische Befunde II: Vergleichende Untersuchungen
Peter Thiery:
Demokratie und Rechtsstaat in Lateinamerika ....................................................... 252
Carsten Q. Schneider:
Korruption und Vertrauen in Implementationsinstitutionen:
Ein Vergleich Lateinamerikas mit konsolidierten Demokratien ............................ 275
Gert Pickel:
Legitimitat von Demokratie und Rechtsstaat in den osteuropaischen
Transitionsstaaten 10 Jahre nach dem Umbruch .................................................... 299
Autorenverzeichnis ................................................................................................. 327
Die Demokratie und das Recht. Beitrage zu Theorie und Praxis
politisch-rechtlicher Selbstbestimmung
Michael Becker, Hans-Joachim Lauth und Gert Pickel
Die Beschaftigung mit dem Rechtsstaat hat in den letzten Jahren eine erhebliche Be
deutungssteigerung erfahren. Ein maBgeblicher Grund fUr diese Aktualitat ist einem
geschiirften Blick fdr die realen Verhaltnisse geschuldet, der von zwei Interessen
motiviert war. Zum einen hat die Praxis des Staats-und Regierungshandelns im Zu
ge der intemationalen Kooperation - speziell im Bereich der Entwicklungszusam
menarbeit - eine erhOhte Aufinerksamkeit erfahren. Vorrangiges Ziel war und ist die
Etablierung von good governance, worunter eine starkere Transparenz und Rechts
f6rrnigkeit des staatlichen Handelns verstanden wurde - oder kurz gesagt: ein funk
tionierender Rechtsstaat. I Zum anderen richtete sich das Interesse im Zuge der
weltweiten Demokratisierungswelle auf den Rechtsstaat. Mit zunehmender Ver
breitung der Demokratie wurde immer starker deutlich, dass viele der jungen Demo
kratien nur begrenzt den Erwartungen entsprachen, die mit ihnen verbunden worden
waren. Zwar waren viele relevante input-Regeln im demokratischen Sinne entfaltet
worden (Wahlen, kommunikative Freiheiten, Organisationsfreiheit), doch die Praxis
des Staats-und Regierungshandelns differierte in mancherlei Hinsicht weiterhin von
derjenigen etablierter Demokratien.
Als ein zentraler Unterschied wurde die als defizitar entwickelte Rechtsstaatlich
keit empfunden was zur Etikettierung solcher Demokratien mit dem Attribut ,illibe
ral' fiihrte (Zakaria 1997; Merkel 2000). Eine zentrale Beobachtung lag dieser Inter
pretation zugrunde (O'Donnell 1999a): Wahrend in etablierten Demokratien westli
cher Provenienz die Einrichtung des Rechtsstaats vor der Einfiihrung der Demokra
tie erfolgte, (ver)kehrte sich die Sequenz in vielen jungen Demokratien um. Demo
kratien entstanden, ohne dass bereits die rechtsstaatliche Infrastruktur voll entfaltet
worden war. Neben der Diskussion der damit verbundenen Konsequenzen stellte
sich die Frage, wie eine nachholende rechtsstaatliche Entwicklung erfolgen k6nnte.
Daher war es erforderlich, den Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie ei
ner umfassenderen Reflexion zu unterziehen als bislang geschehen.
Die Er6rterung der Fragen der Herrschaftsorganisation sowie der Vergleich der
verschiedenen Herrschaftsformen sind so alt wie die wissenschaftliche Beschafti
gung mit der Politik. Aristoteles hat als einer der ersten eine Bestandsaufnahme der
empirisch vorfindbaren Regierungsformen untemommen und eine Analyse ihrer
Vor- und Nachteile vorgelegt. Die Begriffe, die er zur Kennzeichnung der in seinem
Sechserschema unterschiedenen Typen verwendete, sind zwar auch heute noch im
Vgl. den Weltbankentwicklungsbericht 1997: Der Staat in einer sich andemden Welt, Bonn 1997.
Die globale Perspektive verlangt, Rechtsstaat nicht nur auf dem Rechtsstaatsverstandnis bundesrepu
blikanischer Provenienz zu verstehen, sondem in einer abstrakten und systematischen Weise zu be
greifen (vgl. die Beitrage von Lauth, Becker und Schulte in dies em Band).
8 Michael Becker, Hans-Joachim Lauth und Gert Pickel
Gebrauch, aber die beiden Kriterien, die er in Anschlag brachte, das quantitative
("wer herrscht") und das qualitative ("wie wird geherrscht") scheinen jegliche Be
deutung verloren zu haben. Das quantitative Kriterium - wenn wir es im Sinne di
rekter Demokratie verstehen - deshalb, weil einerseits in so gut wie allen Staaten
des (post-)industriellen Zeitalters eine unmittelbare Herrschaft des Demos unmog
lich und an ihre Stelle eine mittelbare Herrschaft getreten ist, und weil andererseits
die Vielfalt der real existierenden Herrschaftsformen damit (auch unter Hinzunahme
des qualitativen Kriteriums) nicht annahemd zu erfassen gewesen ware. Die moder
ne vergleichende Politikwissenschaft hat aufgrund dieser Entwicklung eine stattliche
Anzahl von neuen Begriffen zur Beschreibung demokratischer Systeme hervorge
bracht (vgl. Schmidt 2000), die einmal auf den institutionellen Apparat eines politi
schen Systems abstellt ('prasidentielle' oder ,parlamentarische' Demokratie) oder
auf den gesellschaftlichen Unterbau und den dadurch notwendig werdenden Mecha
nismus der Entscheidungsfindung (,Konkordanz'- beziehungsweise ,Konkurrenz
demokratie'); gelegentlich werden auch nur temporar zu beobachtende Phanomene
als Klassifizierungskriterium vorgeschlagen (wie z.B. mit dem Begriff ,Erziehungs
demokratie ').
Aristoteles' qualitatives Kriterium, das auf die Intentionen des oder der Herr
schenden abzielte (die gut oder schlecht sein mochten), hat zunachst mit Beginn der
Neuzeit an Uberzeugungskraft verloren. Dies h1ingt zum einen mit der Schwierigkeit
zusammen, das ,Gute' oder das ,Gemeinwohl' aufrationalistischer Basis zu begriin
den. Zum anderen - und durchaus in Verbindung mit erst genannter Problematik -
wurde die Einschatzung der Eigennutzorientierung stark relativiert, als sein Antipo
de Hobbes befand, der womoglich schlechte Charakter eines Souverans sei das bei
weitem kleinere Ubel gegeniiber den Unwagbarkeiten eines staaten-und darum auch
herrscherlosen Naturzustandes. Was bei Hobbes als einem der ersten neuzeitlichen
Theoretiker vor allem deutlich wurde und was bei den antiken Autoren eher eine
nachgeordnete Rolle spielte, war der ausdriickliche Verweis darauf, dass politische
Herrschaft immer rechtlich konstituierte Herrschaft ist. Hobbes' Souveran stiftet
Frieden (oder besser: erzwingt einen Waffenstillstand) durch stehende Gesetze, wel
che die Untertanen als Befehle anzusehen haben (was zu tun sie sichjedoch vertrag
lich bereit erklart haben). Nur wenn die souveranen Befehle allen bekannt sind und
sie auch in Gerichtsverhandlungen Anwendung fmden, bleibt der Kriegszustand ge
bannt. Die Qualitat der Rechtsherrschaft wird hier sehr stark, wenn auch nicht voll
smndig ausgeblendet.
In diesem Punkt hat die positive oder die deskriptive Rechtstheorie Hobbes be
erbt. H.L.A Hart (1994), einer der groBen englischen Rechtsphilosophen des 20.
Jahrhunderts, hat in seinem epochalen Werk iiber den "Begriff des Rechts" den Ein
tritt einer Gesellschaft in das Reich des Rechts von dem Vorhandensein sogenannter
"sekundarer" Regeln abhangig gemacht. Zwar verfiigten alle Gesellschaften iiber
primare Regeln des gerechten Verhaltens, aber diese hatten den Nachteil, dass nicht
irnmer klar sei, ob eine Regel gelte bzw. welche; sie seien dariiber hinaus relativ
statisch; und schlieBlich mangele es oft an Sanktionen im Falle einer Regeliibertre
tung. Eine rechtliche Ordnung iiberwinde aIle diese Schwachen durch die besagten
sekundaren Regeln, mit denen sich aus der Menge der geltenden Regeln die Teil-
Einleitung: Die Demokratie und das Recht 9
menge der Rechtsregeln, die mit Zwangsgewalt zu bewehren sind, identifIzieren und
auch anwenden und andem liisst. Aus dieser deskriptiven Sicht ergeben sich beinahe
gar keine normativ-moralischen Anforderungen an das Recht, die erfiillt sein miis
sen, will eine rechtliche Ordnung als legitime Ordnung gelten. Allenfalls ein Interes
se miisse man, so Hart, voraussetzen: das Interesse der meisten Menschen an ihrem
UberIeben. Harts Rechtsbegriff befmdet sich darnit einer explizit moralischen Lesart
des Rechts diametral entgegengesetzt.
Nun sind bekanntlich weder die politische Theorie noch die Praxis der liberal
demokratischen Staaten dem hobbesschen Modell gefolgt und das gleich in zweifa
cher Hinsicht (Bockenforde 1991, Grimm 1994). Zum einen werden die rechtlichen
Regeln iiberall in der westIichen Welt nicht von einem Ein-Personen-Souveran ver
rugt, sondem von einer dafiir vorgesehenen Institution, dem Parlament, gesetzt (das
seine Existenz, so es nicht evolutionar entstanden ist, wie das englische, wiederum
einem Beschluss eines anderen autorisierten Gremiums: der verfassunggebenden
Versammlung verdankt). Und zum anderen werden weder diese Rechtsregeln pro
duzierenden Parlamente noch die Konstituanten als souveran im vollen Sinne des
W ortes verstanden, wonach sie nicht nur die obersten poIitischen Entscheidungsin
stanzen verkorperten, sondem injeder Hinsicht ungebunden waren (Dworkin 1994).
In ,jeder Hinsicht" hieJ3e dann vor allem in normativ-moralischer Hinsicht.
Die erwahnten westlichen Demokratien zeichnen sich vielmehr durch die Garan
tie eines in den Grundziigen iibereinstimmenden Grundrechtekatalogs aus, der auch
als Grenze politischer Herrschaft aufgefasst werden muss. Und insofem die darin fI
gurierenden Grundrechte als moraIische Rechte aufgefasst werden, liisst sich sagen,
dass die klassische Frage nach dem "guten Herrscher" hier in verwandelter Form
wieder auftaucht: "Gute" Herrschaft hangt dann allerdings nicht mehr von individu
ellen Dispositionen, sondem von der Qualitiit des (Verfassungs-)Rechts bezie
hungsweise der Rechtsstaatlichkeit staatlicher Herrschaft ab.2 Gute Herrschaft setzt
nicht gute BOrger, die dann entsprechend herrschen, voraus, sondem BOrger werden
zu guten BOrgem, wenn sie unter einer guten Verfassung leben - das erhofften sich
bereits Rousseau und Kant.
Nun ist allerdings gerade gegen diesen, wie man wohl sagen darf, Beinahe
Konsens in Verfassungsfragen unter den Staaten der westlichen Welt in der letzten
Zeit ein Einwand ventiliert worden, der eine gewisse Bedeutung dadurch erhielt,
dass er nicht ledigIich von den hiesigen Gegnem eines starken Konstitutionalismus,
sondem auch von den poIitischen EIiten anderer Kulturkreise vertreten wurde. Die
ser Einwand kann als Beleg fiir Huntingtons (1993) ,,modernization without wester
nization" - These verstanden werden und besagt: Die unveraul3erlichen Menschen
rechte sind als konstruierte oder als geschichtlich gewachsene Rechtsanspriiche auf
christlich-hurnanistischem Boden entstanden, somit kulturrelativ und also nicht (oh
ne W eiteres) exportfahig. Mit anderen Worten, ein politisches System kann durch
aus demokratisch sein, obwohl in ihm nicht das "Modul" liberaler Abwehrrechte
2 Entsprechend ist der zentrale MaBstab von good governance die Errichtung eines effizienten Rechts
staats, der dann wiederum die Grundlage zur Erreichung weiterer Ziele ist, die nun allerdings unter
schiedlich ausgerichtet sein konnen (Wachstum, Stabilitlit, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit,
Partizipation etc.).
10 Michael Becker, Hans-Joachim Lauth und Gert Pickel
vorhanden ist. Der westliche Menschenrechts-Diskurs, der in Teilen allzu empfmd
lich auf Imperialismusvorwiirfe reagiert, harte jedoch nicht immer auf den oder die
Absender dieser Botschaft geachtet, mit dem man sich iibrigens iiberraschend
schnell auf einen Katalog der biirgerlichen Pflichten einigen konnte. Absender der
unliebsamen Post waren, und darauf harte u.a. Amartya Sen aufmerksam gemacht,
nicht selten selbstherrliche Despoten in autoritaren Staaten, die ein nahe1iegendes
eigenes Interesse an der Relativierungsthese der Menschenrechte besaJ3en. Der men
schenrechtliche Universalismus muss sich aber auch deswegen kein schlechtes Ge
wissen einreden lassen, weil er auf verwandte Auffassungen innerhalb vieler Kultu
ren zahlen kann.3
Einmal angenommen, dass, von einer sozusagen "metakonstitutionalistischen"
Perspektive aus, Konsens iiber das Verhaltnis von Recht und Demokratie dabinge
hend besteht, dass einerseits eine "gut" verfasste Demokratie bestimmte Grund
rechte, inklusive der negativen Rechte, gewahren muss und dass andererseits legiti
mes Recht nur aus demokratischen Prozeduren hervorgehen kann - dies angenom
men, bleiben immer noch viele wichtige Fragen einer auf dem Wege politischer
Selbstbestimmung herbeizuf'iihrenden bzw. herbeigefUhrten Rechtsordnung unbe
antwortet. So muss beispielsweise zum einen eine vergleichende Perspektive auch
Analysekategorien fUr jene Regel-Phanomene entwickeln, die zwar handlungsregu
lierend und damit konfliktvenneidend sind, die aber nicht den Status positiven
Rechts itmehaben und sogar in Konkurrenz mit diesem treten konnen. Zum anderen
haben sich alleine in der Sphare Westeuropas und N ordamerikas unterschiedliche
Sichtweisen auf das Verhaltnis von politischer Selbstbestimmung und Recht heraus
gestellt und es fragt sich, ob diese Vielfalt, die sicher pragenden Charakter iiber die
sogenannte "westliche" Zivilisation hinaus hat, nicht noch einmal vergroBert wird,
wenn man den Kreis der betrachteten politischen Systeme erweitert.
Insbesondere hinsichtlich der jungen Demokratien, wie denen auf dem Gebiet
des ehemaligen Ostblocks, taucht die Frage nach der Handhabbarkeit und der Rea
litat der rechtsstaatIichen Demokratie auf. Die Pionierstudien der politis chen Kultur
forschung in der Mirte des vorigen Jahrhunderts (AlmondIVerba 1963) haben zwar
die Unabdingbarkeit einer zivilen Kultur fUr liberal-demokratische Systeme be
hauptet, zugleich aber auch methodische Schwierigkeiten bei der Messung der rele
vanten Einstellungen offenbart. Dariiber hinaus stand die Erfassung des Rechtsstaats
nicht im Zentrurn so1cher Studien. Nicht selten fiihrt dies noch bis heute zu einer ge
nerellen Unterstellung der Existenz eines Rechtsstaates, der in empirischen Untersu
chungen keiner Uberpriifung mehr bedarf. AhnIiches gilt fUr die Gewahrleistung
von Freiheiten und Biirgerrechten in Demokratien. In der an Einstellungen orien
tierten politischen Kulturforschung wird sie in institutionell etablierten Demokratien
vorausgesetzt und selten bei den Biirgem beziiglich ihrer Wichtigkeit und der Wahr
nehmung ihrer Existenz hinterfragt.
Nicht zuletzt dieses Vorgehen fUhrt aber oft dazu, dass bei Erklarungen der Le
gitimitat politischer Herrschaft der Aspekt der RechtsstaatIichkeit - der Rechte und
der Verfahren - oftmals ausgeblendet wurde (siehe Pickel und Schneider in diesem
3 Siehe dazu Amartya Sen, Freedom as Development, New York 1999, Kap. 10 (Culture and Human
Rights); dariiber hinaus RUland (1996), Senghaas (1998) und Tetzlaff (1997).
Einleitung: Die Demokratie und das Recht 11
Band). So blieb die zentrale Frage der politisehen Kulturforsehung naeh der Stabili
Hit politiseher Systeme einseitig beantwortet. Zumindest ist die Stabilitat einer De
mokratie und die hohe Akzeptanz ihrer Grundprinzipien dureh die BUrger nieht zu
erkIaren, wenn diese vor aHem auf der Zufriedenheit mit der reehtsstaatlichen Per
formanz beruht. Zudem kann mit einer solchen Siehtweise dem bereits angespro
chenen Typus der "illiberalen Demokratie" nicht Rechnung getragen werden, da mit
ihr per se die Konstituierung einer Demokratie auch ohne Rechtsstaat als moglich
angesehen wird.
In eine ahnliche problematische Richtung zielt eine gleichfaHs anzutreffende Po
sition in der politikwissenschaftliehen Forschung: Die formale Anerkennung der
Menschenrechte wird hier mit der Etablierung eines Rechtsstaats gleichgesetzt. Die
se Annahme ist jedoch nicht selbstverstandlich, wie die Unterscheidung zwischen
einem formaIen und einem materiellen Rechtsstaat nachhaItig zeigt. Geht erster in
Riehtung des von Hart explizierten Rechtsverstandnisses, sieht sieh zweiter in der
Tradition der "westIichen" Menschenrechte verankert. Die Diskrepanz zwischen
Menschenrechten und Recht kann waehsen, wenn Recht, tiber das formaIe Rechts
staatsverstandnis hinaus, das immerhin zentrale Verfahrensrechte beinhaItet, nur mit
der Moglichkeit der Positivierung von mit ZwangsgewaIt behafteten Regeln assozi
iert wird, wenn Recht also nur das staatlich gesetzte Recht ist. Eine Aufgabe der po
litischen Theorie ist es daher, das VersUindnis von Rechtsstaat zu kIaren, das auch
die Folie fur die empirischen Untersuchungen bildet (siehe die Beitrage von Becker,
Schulte, Lauth).
Eine andere - gleiehfalls theoretische wie empirische - Aufgabe schlieBt sieh an.
Sie wurde bereits mit der Frage der Rechtsbindung demokratischer Herrschaft auf
geworfen und betrifft das VerhaItnis von Rechtsstaat und Demokratie - oder prazi
ser: Welches Rechtsstaatsverstandnis ist der Demokratie am angemessensten? Bei
der Klarung dieser Thematik sei vorausgeschiekt, dass aIle vorliegenden Beitrage
von der Pramisse eines prozeduralistischen Demokratieverstandnisses ausgehen.
Kann Demokratie ohne Rechtsstaat gedacht werden (wie manche Theoretiker nahe
legen, vgl. Schmidt 1999: 191) oder ist Rechtsstaat eine notwendige Bedingung oder
gar Bestandteil von Demokratie, wie andere suggerieren (Bobbio)?
Das Aufgreifen dieser Thematik erschopft sieh jedoch nieht nur in der Behand
lung theoretischer Fragen, sondem schlieBt die empirische Ebene mit ein. Ein simp
ler SachverhaIt unterstreicht nachdruckIieh die Relevanz. So werden, wie erwahnt,
etliche junge Demokratien mit dem Etikett ,illiberal' versehen und gleiehsam aIs de
fizitare Demokratie verstanden, die signifikante Mangel in der Auspragung ihrer
Rechtsstaatlichkeit aufweisen. IIIustrierend lassen sieh hierzu die Befunde von Free
dom House anfiihren, die political rights und civil liberties getrennt messen (Karat
nycky 1999; PianolPuddington 2001). Hierbei zeigt sieh, dass in einer Reihe von
Landem, in denen die politischen Partizipationsrechte gegeben sind, dies fur die
bUrgerlichen Freiheiten nieht im gleiehen MaBe behauptet werden kann. Auch wenn
die Problematik dieser Messung berticksiehtigt wird (LauthIPickeVWelzel 2000), so
kann sie doch als Indiz fur den angemerkten SachverhaIt einer begrenzten Rechts
staatliehkeit in den entsprechenden Demokratien dienen.