Table Of ContentDie "Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie" stellen eine
Sammlung solcher Arbeiten dar, die einen Einzelgegenstand dieses Gebietes in wissenschafl:
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aus dem Gebiete der Psychiatrie: Prof. Dr.M. MULLER
Bern, BolligenstraBe 117
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fur die gesamte Neurologie und Psychiatrie", der "Deutsche Zeitschri/l fur NeT'llenheilkunde"
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MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
M. MOLLER - BERN' H. SPATZ -GIESSEN • P. VOGEL - HEIDELBERG
HEFT 94
PSYCHOPATHEN
DASEINSANALYTISCHE UNTERSUCHUNGEN
ZUR STRUKTUR UND VERLAUFSGESTALT
VON PSYCHOPATHIEN
VON
HEINZ HAFNER
DR. MED., DR. PHIL., PRIVATDOZENT FOR PSYCHIATRIE UNO NEUROLOGIE
AN DER UNIVERSITll.T HEIDELBERG
MIT EINEM GELEITWORT VON
DR. DR. he. LUDWIG BINSWANGER
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· GOTTINGEN . HEIDELBERG
1961
Aus der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universitat Heidelberg
Direktor: Prof. Dr. W. v. BAEYER
ISBN 978-3-540-02731-7 ISBN 978-3-642-87999-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-87999-9
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werden diirften
© by Springer-Verlag OHG I Berlin-Gottingen-Heidelberg 1961.
Inhaltsverzeichnis
I. Geleitwort (L. Binswanger)
II. AufriG der problemgeschichtlichen Situation 8
III. Die Freilegung des psychopathologischen Erfahrungshorizonts 12
Vorgehen und Beweisstruktur der psychiatrischen Daseinsanalyse . 19
Kritische Einwiinde gegen die psychiatrische Daseinsanalyse . 27
Die Frage nach der "Pathogenese" . . . 30
Die psychopathologische Diagnose und ihre Voraussetzungen 32
IV. Ein hochstaplerischer Betriiger
Lebensgeschichte des Daniel Fiirst . 38
Kindheit und Jugend 39
Erwachsenenalter . 42
Altern und Tod 48
Klinische Vorbemerkungen . 58
Daseinsanalyse . 59
Einfiihrung . 59
Die Kindheitswelt 59
Die "freundliche Dbereinstimmung" 60
Die Welt des Erwachsenen. . . . 65
Die Zeit der Feste . . . . . . 67
Die "spielerisch-Ieichtfertige Daseinsform" 71
Bedrangnis und Freiheit. 75
Die Sprache 78
Die Mitseinsweisen 83
Die Zeitlichkeit 90
Alter und Niedergang 93
Die Verlaufsgestalt 99
V. Ein psychopathischer Hypochonder
Lebensgeschichte des Peter Krumm 109
Daseinsanalyse . . . . . 125
Diagnostische Vorbemerkungen 125
Die Kindheitswelt . . . . 126
Die "Ausweglosigkeit" . 128
Der verfehlte "Aufgabencharakter" des Daseins 129
Der Bruch zwischen individueller und sozialer Haltung . 130
Das existenzielle Gewissen . 131
Hoffnung und Entmutigung . . 134
Der Leib . . . . 139
Bedriickung und Druck im Leibe . 142
Wiirme und Kiilte 144
Die hypochondrische Krankheitswelt 145
Geschichtlichkeit und Verlaufsstruktur 147
VI. Ein "stimmungslabiler" Psychopath
Lebensgeschichte des Emil Barth 152
IV
Daseinsanalyse . . . . . 160
"Charakterbildung" und Kindheitswelt 160
Entmutigung und Schwermut . 162
Stimmung als "Aufenthalt" . . . . 165
Die Welt der "Pflicht" . . . . . . 168
Die "Dberhohung" der Wirklichkeit in Stimmung und Phantasie . 170
Die "Phasen" depressiver Verstimmung 175
Zusammenfassung und Verlaufsgestalt 180
VII. Psychopathie als klinische "Einheit" 184
"MaW' und "Ordnung" . . . 186
Die "psychopathische Daseinsverfassung" 189
Psychopathische Durchbruchshandlung und neurotische Ausdruckshandlung . 194
Die "soziale Rolle" .......... 198
Die psychopathische Abwandlung der mitweltlichen Ordnung als Verfehlung des
"Aufgabencharakters". . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199
Die lebensgeschichtliche Ausformung der "psychopathischen Daseinsverfassung" 201
Die existenziellen Voraussetzungen "psychopathischer Charaktertypen" 205
Grundsatzliche Moglichkeiten und Grenzen der Typenbildung 206
Psychopathische Daseinsverfassung und "Anlage" 208
"Psychopathische" Verlaufsgestalten 209
N a c h w 0 r t 213
Literatur 215
N arne n v e r z e i c h n i s 223
Sac h v e r z e i c h n i s 225
I. Geleitwort
von
Ludwig Binswanger
1.
In der noch sehr jungen Geschichte der phanomenologisch-daseinsanalytischen
Psychiatrie nimmt die vorliegende Arbeit von HEINZ HAFNER insofern einen beson
deren Platz ein, als sie sich erstmals systematisch an einem nicht-psychotischen Gebiet
versucht, an dem immer noch umstrittenen Gebiet der Psychopathien. Urn zu ver
stehen, was hier geschieht, miissen wir in Ermangelung einer gemde heute so drin
gend notwendigen allgemein-psychiatrischen Methodenlehre etwas weiter ausholen.
Der Ursprung der phanomenologisch-daseinsanalytischen Forschungsrichtung in
der Psychiatrie liegt in dem Ungeniigen, ja Leiden unter dem Mangel an einer phano
menologisch-humanen oder menschlichen Vergleichbarkeit der je eigenen Lebenswelten
geisteskranker und gesunder Menschen und in clem una:bHissigen systematischen Suchen
nach einer wissenschatfHichen Methode zur Abhilfe dieses Mangels. Hierzu erOOfneten
sich mit der Zeit zwei Moglichkeiten. Die erste ergab sich aus der phanomenologisch
apriorischen, ontologischen Freilegung des menschlichen Daseins durch MARTIN HEID
EGGER in "Sein und Zeit" vom Jahre 1927, die zweite, von mir aber erst vor kurzem
(1960) ergriifene, in der Phanomenologie der transzendentalen Konstitution des
spaten HUSSERL, meinem Verstandnis erst voU erschlossen durch W. SZILASIS "Ein
fiihrung in die Phanomenologie Edmund Husserls" vom gleichen Jahre. DaB die vor
liegende Arbeit von HEINZ HAFNER sich noch ganz auf HEIDEGGER stiitzt, versteht
sich von se1bst. Insofern sie aber auch ihrerseits von der phanomenologischen Inter
pretation der jeweiligen Lebenswelten seiner Kranken, der Leben~welt der Kindheit
und des Erwachsenenalters, sowie von der in beiden zutage tretenden phanomenologi
schen Verlaufsgestalt ausgeht, tragt sie einen ausgesprochen phanomenologischen Charak
ter, der auch im Sinne des spaten HUSSERL noch weiter ausgeschopfl: werden konnte.
Was nun das Neuland betriffi:, das HAFNER mit dem vorliegenden daseinsanaly
tisch-phanomenologischen Versuch 'betritt, so konnte man des Glaubens sein, die Ver
haltnisse hinsichtlich ,der menschlichen Vergleichbarkeit der je eigenen Lebenswelten
der Psychopathen und derjenigen der Gesunden lagen hier giinstiger als hinsichtlich
der bisher untersuchten Welten geisteskranker Menschen, besaBen wir doch schon eine
sehr griindlich bearbeitete menschliche Vergleichsbasis unter dem Titel des mensch
lichen Charakters und der mensch'lichen Personlichkeit. Wie allgemein bekannt, hat
sich der psychiairische Scharfsinn schon lange damit befaBt, das Pathologische an den
"psychoparhiseh.en Charakteren" oder das Abnorme an den "abnormen Personlich
keiten" psychologisch, d. h. auf Grund der naiven oder natiirlichen Menschenerfahrung
und ihrer Sprache oder theoretisch auf Grund psychologischer oder psychopathologi
scher Theorien herauszuarbeiten, wogegen unser Autor seinen - phanomenologisch
daseinsanalytischen - Standpunkt immer wieder abzuheben unternimmt. (In dieser
Hafner, Psychopathen
2 Geleitwort (L. Binswanger)
Abhebung braucht weder yom Autor noch yom Schreiber dieser Zeilen eine Gering
schatzung jener immensen Ar'beit erblickt zu werden, vielmehr nur ein Mittel zur
deutlichen Herausbildung des eigenen phanomenologisch-daseinsanalytischen Stand
punktes.) Abgesehen davon, daB sowohl hinsicht'lich der Definition der Begriffe des
Charakters, der Personlichkeit oder der Person und ihres Verhaltnisses zueinander
keine Einigkeit erzielt werden konnte, haben wir einzusehen, daB von der Erzielung
einer solchen Einigkeit und der Moglichkeit einer wissenscha!ftlichen Definition jener
Begriffe keine Rede sein kann, so lange sie lediglich auf Grund einer psychologisch
wissenscha'ftlichen Theorie - und sei es auch eine Personlichkeits-, person-wissen
schaftliche oder gestalt-psychologische Theorie - konstruiert sind und jeder phano
menologischen Erfahrungsgrundlage und jeder apriorisch-ontologischen Interpretation
entbehren.
Es ist nun interessant zu sehen, wie unser Autor diese doppdte Aufgabe, die der
empirisch-pihanomenologischen Erfahrungsmethode und die der ontologischen Inter
pretation im Hin'blick auf das Sach- oder Gegenstandsgebiet der "Pathocharaktero
logie" oder der "psychopathischen Abnormitat" ins Werk setzt. (Wir schicken gleich
voraus, daB dabei die Erledigung def ersten Aufgabe nach der eigenen Absicht des
Autors bei weitem iiberwiegt.) DaB HAFNER trotz dieser Beschrankung mit seiner
Aufga'be recht eigendich ringt, sehr weitlaufig verfahrt und sich otft wiederholt, immer
im Bestreben, dem Leser sein Anliegen recht deutlich zu machen, darf uns angesichts
des Neulandes, das er mit seiner Untersuchung betritt, nicht in Erstaunen versetzen.
Der "Vorwurf" der Weitlaufigkeit richtet sich aber keineswegs auf seine "Mammut
krarrkengeschichten", wie sie der Autor selber einmal nennt, bilden sie doch die eigent
liche Erfahrungsgrundlage seines ganzen Unternehmens und kann diese Grundlage
nicht griindlich genug vor unseren Augen ausgebreitet werden. Denn was hier ent
scheidend ist, clas ist, im Gegensatz vor allem zur phanomenologischen Daseinsanalyse
der Manie und Melancholie und in weitgehender Obereinstimmung mit der der
Schizophrenie, wie der Autor so klar zeigt, die Geschichtlichkeit des Daseins, einzig
und allein in Erscheinung tretend und interpretierbar am Verlauf der je eigenen
Lebens- und Krankheitsgeschichte. In deren Darstellung und Interpretation liegt denn
auch das Schwergewicht der vorliegenden Arbeit.
In weiser Beschrankung begniigt sich unser Autor mit der Analyse von drei "Fal
len", dem Fall eines "hochstaplerischen Betriigers", eines "psychopathischen Hypo
chonders" und eines "stimmungslabilen Psychopathen". Dabei steht ihm das Wissen
um die bisherigen Errungenschaiften der gesamten psychiatrischen Daseinsanalyse, und
damit das freie Verfiigenkonnen iiber dieselben, sowie die Kenntnis weiter Gebiete
der Literatur cler klinischen Psychoparhie-Forschung zur Verfiigung, alles bezeugt in
sehr ausfiihrlichen Literaturangaben. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung
der phanomenologischen Gestalt, des phanomenologischen Wesens oder Eidos des
jeweiligen Daseinsverlaufs, aufgezeigt, wie bereits erwahnt, schon an der kindlichen
Welt und der Obereinstimmung der Gestalt derselben mit derjenigen der Erwach
senenwelt. Am ii'berraschendsten und eindringlichsten wird diese 'Obereinstimmung
sichtbar im ersten Fall, dem Fall des hochstaplerischen Betriigers Daniel Fiirst. Dabei
weist cler Autor ausdriicklich darauf hin, daB es sich hier, wie natiirlich auch in den
anderen, ebenfalls sehr klar interpretierten Entfa!tungen der Lebensgeschichte, nicht
etwa um die heute so weit gediehene gegensrandlich-historisc'he Erforschung von Ein
fliissen der Eltern auf die Kinder handelt (S. 61), noch auch um eine N otwendigkeit
Geleitwort (L. Binswanger) 3
der lebensgeschichtlichen Entfaltung (S. 100) (im Sinne eines "Ereignis- und Wirkungs
zusammenhanges"). Gerade hier scheiden sich die Methoden des gegensrandlichen Be
greifens und Erklarens und des phanomenologischen Sehens oder Schauens der "Ge
stalt eines Daseinsganges".
Haben wir somit eine Basis der Vergleichbarkeit der Lebenswelten des gesunden
und des klinisch als psychopathisch bezeichneten Menschen, so kommt nun alles darauf
an, zu zeigen, worin die betreffenden Welten sich unterscheiden. Da aber Welt nur ist
in der Weise des existierenden Daseins, das als In-der-Welt-sein faktisch ist (HEID
EGGER), muB bei jener Unterscheidung nicht nur gezeigt werden, wie die Weltlichkeit
der jeweiligen Welten, sondern auch wie die Gestalten des gesamten Daseins und die
Strukturen des Daseinsverlaufs bei den von der Klinik als psychoparhisch bezeichne
ten Menschen sich von derjenigen des als gesund bezeichneten Menschen abheben
lassen. Und zwar darf es sich dabei, wie ii:berall in der daseinsanalytischen Psychiatrie,
keineswegs nur urn das Anschaulichmachen eines "Minus", einer Einschrankung oder
Reduktion des Daseins auf gewisse Seinsmogl1ichkeiten handeln, vielmenr kommt alles
darauf an, die Weise des jeweiligen Andersseins der Struktur des jeweiligen Daseins
und seines Ganges oder seiner Verlaufsgestalt "positiv", d. h. in seiner Eigenart, zur
Anschauung zu bringen. Die Losung dieser Aufgabe gelingt unserem Verfasser aus
gezeichnet. Die Kriterien, mittels derer er diese Aufgabe lOst, sind also diejenigen der
Heideggerschen Existenzialen des Daseins iiberhaupt, zunachst der Existenz, als der
M oglichkeit des Freiseins fiir das eigenste Seinkonnen, des Ergreifens und Verfehlens
dieser Moglichkeit, m. a. W. des Gliickens oder MiBgluckens des Daseins, von HAFNER
zusammengefaBt als "existenzielles Gewissen", das er sorgfaltig von dem "autorira
ren" und vor allem von dem ethischen Gewissen ahhebt. Das MiBgliicken des Daseins,
anschaubar gemacht an der Gestalt oder dem Strukturgefiige des Daseinsganges, nam
lich seines "Stillstandes", seiner Ausweglosigkeit oder "starren" Konsequenz, wird
von HAFNER mit Fug und Recht in aHererster Linie aufgewiesen an dem MiBgliicken
des Daseins als Mitsein und Miteinandersein, m. a. W. an deren Einschrankung auf
ganz bestimmte, die Struktur und den Gang des ganzen Daseins bestimmende und
insofern in der Tat "schicksalbestimmende" Mitseinsweisen. Auch hieran sieht man,
daB hier die Geschichtlichkeit des Daseins im Mittelpunkt der phanomenologischen
Interpretation steht. Hat doch HEIDEGGER mit aller nur wunschenswerten Klarheit
gezeigt, daB Geschichtlichkeit gleich urspriinglich ist nicht nur mit Zeitlichkeit, Welt,
Geschichte und Schicksal, sondern erst recht auch mit Mitsein und Gemeinschaft.
Im ersten Fall gelingt es dem Autor in hervorragendem MaBe, die fur den betref
fend en Menschen entscheidende oder "maBgebende" Weise des Mitseins von der Kind
heit bis zum Tode aufzuzeigen. Es ist die Weise der "freundlichen 'Obereinstimmung"
im Sinne der "Illusion des unbeschrankten Aufgenommenseins" als des eigentlichen
"Aufenthaltes" des Daseins, in welchem "Aufenthalt" es im Verein mit dem leicht
fertig-spielerisch-optimistischen In-sein in der Welt "kein Zuriickgehen auf die Wahr
haftigkeit", sondern nur ein "Dberspielen der Wahrheit" im Sinne des gesamten
"betriigerisch-hochsta plerischen" In-der-Welt-seins gibt.
Im zweiten Fall, dem des "psychopathischen Hypochonders" Peter Krumm, ist die
Weise des Mitseins gekennzeichnet durch das "Ausweichen vor Druck, Bedrangnis,
Harte und Kalte (Vater) und das Suchen nach Warme (Mutter), aIle diese Ausdriicke
sowohl in der geistigen und seelischen ais erst recht in der leiblichen Bedeutungsrichtung
gemeint. Aus dieser Universalitat der Bedeutungsrichtungen wird erst verstandlich,
1*
4 Geleitwort (L. Binswanger)
inwiefern hier "der Leib" als der eigentliche "Aufenthalt" der Existenz gesehen
und bezeichnet werden kann und inwiefern die Existenz hier am und im "Leib"
scheitern oder zum Stillstand kommen muK
Was uns im ersten Fall das Angewiesensein des Daseins auf /reundliche Uberein
stimmung mit der Mitwelt urn jeden Preis, auch urn den Preis des hochstaplerischen
Bramarbasierens vor Augen stellt, im zweiten Fall das Angewiesensein auf mitwelt
liche und auf eigenweltlich-Ieibliche Warme, das ist im dritten Fall des "stimmungs
labilen Psychopathen" Emil Barth das Angewiesensein des Daseins - ebenfalls von
Kindheit an - auf die "Zu-Stimmung" der Mitwelt, die hier aber nicht erreicht wird
durch hochstaplerisches Bramarbasieren, sondern durch Flucht in die "Stimmung", die
phantasiegetragene Verherrlichung der Mitwelt. War der "Aufenthalt der Existenz"
im erst en FaIle die leichtfertig-spielerisch-"optimistische" Daseinsfreude, im zweiten
der Leib, so ist sie im dritten die Stimmung im Sinne "schwarmerischen Gefuhlsuber
schwangs", "suBer MelanchoIie", "suBer Traurigkeit", unendlichen "Tranenmeers".
HAFNER zeigt sehr klar, wie und inwiefern Emil Barth seinen Aufenthalt von Kindheit
an uber Bedrangnis, Bedruckung und Versagung hinweg in Stimmung und Phantasie
gefunden hat, genauer: in einer stimmungsgetragenen, illusionaren :Vbereinstimmung
mit Welt und Mitwelt, einer phantasiegetragenen "Uberhohung" der bedruckenden
Tiefe der Welt, wie sie sich auch in Sprache, Gebaren und Stil nachweisen laBt. Mit
dem hier nur kurz angedeuteten Aufweis der existenziellen ("Dberbriickungs"-)Rolle
einer solchen "Gestimmtheit" hat HAFNER ein neues Licht auf eine mogliche Rolle
der Gestimmtheit im Dasein geworfen.
Alle diese Aufenthalte bedeuten wie gesagt notwendigerweise einen Stillstand oder
ein Aneinendegelangen der Existenz als einer ausweglosen, verfehlten oder miB
gluckten.
Mit all dem nahern wir uns dem, was HAFNER in bezug auf seine FaIle die "Ver
laufsstruktur des ganzen Daseinsganges" (z. B. S. 99 ff.) nennt.
Wenn wir auch nicht zu ausfuhrlich werden wollen, miissen wir doch noch einmal
des zentralen Wesensmerkmals im Daseinsverlauf psychopathischer Menschen geden
ken, in dessen Herausarbeitung unter dem Titel der Fassade die Kunst der Inter
pretation bei unserem Autor sich in ganz besonderem MaBe zeigt. HAFNER begnugt
sich, wie wir sahen, nicht damit, aufzuzeigen, in welchen Weisen miBgliickten Daseins
die Daseinsverlaufe bei seinen Psychopathen in Erscheinung treten, vielmehr geht er
iiber die (negative) Feststellung der Verfehlung der eigensten existenziellen Moglich
keiten hinaus zu der (positiven) Feststellung, daB es auch hier dem Dasein urn sein
Ganz-sein-konnen geht und daB es auch da, wo dies durch einen "Bruch seiner Ent
faltungsmoglichkeiten" gefahrdet ist, die Einheitlichkeit der Welt "auf einem anderen
Wege wieder herzustellen sucht" (S. 62). Damit kommen wir auf den wichtigen Be
griff der Fassade. HAFNER knup£t hier an das "Auseinanderbrechen der Konsequenz
der naturlichen Erfahrung" bei Schizophrenen an, sowie an die Verdeckung unver
sohnlicher Alternativen durch "verstiegene Idealbildung". In dieser Verdeckung sieht
er eine Extremform dessen, was er hier beim Daseinsverlauf seiner Psychopathen auf
zeigt, und was er, wie gesagt, die Fassade nennt. Fassade ist der Ausdruck fur aIle jene
uns bereits bekannten "Verdeckungen des unverwirklichten Seinkonnens", mittels wel
cher das Dasein sich bei psychopathischen Menschen gerade nicht in "antinomischen
Spannungen", wie bei Schizophrenen, sondern in jener uneigentlichen, den Bruch ver
deckenden Einheitlichkeit austragt, die seine Welt kennzeichnet. Oder: Unter dem
Geleitwort (L. Binswanger) 5
Begriif der Fassade wird der jeweils gelebte Entwurf verstanden, der die "existenzielle
Dissoziation" (leider ein nicht sehr gllicklicher Ausdruck!) verdeckt. In diesem
Entwurf kommen die eigentlichen verschlitteten Daseinsanliegen "auf abgewandelte
Weise" in Welt und Mitwelt zum Austrag: 50 werden z. B. Enge und 5chwere bei
Daniel Flirst (Fall I) "in der illusionaren Unbegrenzrheit eines leichtfertigen Optimis
mus" liberspielt, wird bei Peter Krumm (Fall II) das zum Warmebedlirfnis abgewan
delte mitmenschliche Anliegen "in der physikalischen Warmezufwhr ausgetragen"
(5. 145 f.) oder kommt es bei Emil Barth (Fall III) zu einer stimmungs- und phantasie
getragenen Dberhohung der Wirklichkeit". Die "Fassade" ist es, "die ein Gllicken des
Daseins vor einem Horizont abgewandelter oder uneigentlicher 5einsmoglichkeiten
verheiih". In einer sol chen Fassade flihrt das Auft au chen der unerflillten Anliegen,
des verfehlten 5einkonnens, zur "Verfestigung des gelebten Entwurfs". "Auf dies em
Wege kommt es zu einer fortschreitenden Institutionalisierung des abgewandelten
Gewissens", was .zugleich "eine wachsende Erstarrung des gelebten Entwurfs und des
Daseinsgeschehens liberhaupt bedeutet." Damit, und das 'ist hier das Wichtigste,
"schrumpft die Moglichkeit einer Umkehr, ein Zurlickkommen des Daseins auf sein
verfehltes 5einkonnen und auf ein entschlossenes Ergreifen der ihm liberantworteten
Moglichkeiten" (5.105 if.). Damit hangt zusammen die "pathologische Bestandigkeit",
ja "Monotonie", die wir in den Lebenslaufen vieler Psychopathen antre!ffen.
Aus all dem sollte klar geworden sein, mit welchem Recht der Autor als das Ziel
seiner Untersuchungen die "methodische existenzielle Fundierung der klinischen Psy
chopathie-Diagnostik in Gestalt objektiver, (namlich transzendental-objektiver) Ent
wurfs- und Verlaufscharaktere" bezeichnet (5.208). Dabei ist er sich bewuEt, daE wir
yom eigentlichen Ziel, die psychopathische Daseinsweise zu ergrlinden, geschweige denn
die Flille ihrer Erscheinungen zu libersehen, noch weit entfernt sind. 5icherlich behaup
tet er aber eher zu wenig als zu viel, wenn er erklart: "Unser Bemlihen galt dem Frei
legen einiger Zugangswege zum Verstandnis der Psychopathen" (5.213).
II.
Was schlieElich den tiefgreifenden Unterschied zwischen daseinsanalytischer und
klinischer Psychiatrie und das Fundierungsverhaltnis beider Methoden betriffi, so ist
beides in clieser 5chri,ft so ausgiebig und grundsatzlich dargelegt worden, daE es nur
noch weniger Worte bedarf. 5icherlich geht es der Daseinsanalyse urn nichts weniger
als urn formelhafte Endergebnisse, sicherlich liegt ihr nichts Ferner als eine Erstarrung
in Formeln und ein Po chen auf formelha!fte Ergebnisse, und nichts Ferner als cler
Glaube, damit je an ein Ende zu gelangen. Andererseits muE auch sie, wie jede wissen
schaftliche Methode, imstande sein, ihr wissenschaftliches Anliegen, ihre Methode, deren
wissenschaftliches Fundament, und ihre wissenschaftlichen Befunde formulieren zu kon
nen. Von all dem gibt unsere 5chrift sowohl im allgemeinen als im Hinblick auf ihr
spezielles Thema einwandfrei Kunde. Es handelt sich bei der Daseinsanalyse urn mehr
und anderes als urn eine "Sinn"-ErschlieEung, namlich urn eine bestimmte Art der
Erfahrung, und zwar urn die Erfahrung eines in der Geschichtlichkeit des Daseins
grlindenden Geschehens und Geschehenszusammenhanges, Freilich vollig verschieden
von einem kausalen, genetischen oder Wirkungszusammenhang liberhaupt. Diesen
Unterschied bis aufs Letzte klarzumachen, ist nicht 5ache einer daseinsanalytischen