Table Of ContentMonographien aus dem
53
Gesamtgebiete der Psychiatrie
Herausgegeben von
H. Hippius, Munchen . W. Janzarik, Heidelberg
C. Muller, Prilly-Lausanne
Band 44 Psychopathie - Soziopathie - Dissozialitat
Zur Differentialtypologie der Personlichkeitsstorungen
Von H. SaB
Band 45 Biologische Marker bei afTektiven Erkrankungen
Von H. E. Klein
Band 46 Psychopharmakoendokrinologie und Depressionsforschung
Von G. Laakmann
Band 47 Himmechanismen normalen und schizophrenen Denkens
Eine Synthese von Theorien und Daten
Von M. Koukkou-Lehmann
Band 48 Die Sprache der Psychiatrie
Eine linguistische Untersuchung
Von H. Feer
Band 49 Phase-IV-Forschung
Antidepressiva in der Nervenarztpraxis
Von M. Linden
Band 50 Verlaufe behandelter und unbehandelter Depressionen
und Angststorungen
Eine klinisch-psychiatrische und
epidemiologische Verlaufsuntersuchung
Von H. U. Wittchen und D. v. Zerssen
Band 51 Halluzinationen
Ein Beitrag zur allgemeinen und klinischen
Psychopatllologie
Von M. Spitzer
Band 52 Basissymptome und Endphanomene der Schizophreoie
Eine empirische Untersuchung der psychopathologischen
Dbergangsreihen zwischen defiziHiren und produktiven
Schizophreniesymptomen
Von J. Klosterkotter
Band 53 Psychisch kranke Straftater
Epidemiologie und aktuelle Praxis
des psychiatrischen MaBregelvollzugs
Von N. Leygraf
Norbert Leygraf
Psychisch kranke
Straftater
Epidemiologie und aktuelle Praxis
des psychiatrischen MaBregelvollzugs
Mit 95 Abbildungen
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York
London Paris Tokyo
Privatdozent Dr. Norbert Leygraf
Westf. Wilhelms-UniversWit Munster
Klinik fUr Psychiatrie
Albert-Schweitzer-StraBe 11
D-4400 Munster
lSBN-13:978-3-642-83487-5 e-1SBN-13:978-3-642-83486-8
DOl: 10.1007/978-3-642-83486-8
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Leygraf, Norbert:
Psychisch kranke Straftater : Epidemiologie u. aktuelle Praxis d. psychiatr. Massregelvollzugs 1
N. Leygraf. - Berlin; Heidelberg; New York ; London; Paris; Tokyo: Springer, 1988
(Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie ; 53)
ISBN-13 :978-3-642-83487-5
NE:GT
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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1988
Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1988
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VORWORT
Wenn Du mir keine Salben filr meine Wunden geben kannst,
so kannst Du mir helfen, indem Du kein Salz hineinstreust.
(Persisches Sprichwort)
Die vorliegende Arbeit versucht, die Befunde einer umfassenden epidemiologischen
Untersuchung darzustellen und deren Ergebnisse in kritischer Abwagung adaquater
Interpretationsmoglichkeiten zu beschreiben. Dabei wurde im Text so weit wie moglich
auf tabellarlsche Darstellungen verzichtet bzw. diese moglichst durch graphische Dar
stellungen ersetzt. FUr den·an Einzeldaten interessierten Leser erfolgt jewells ein Hin
weis auf die entsprechenden Tabellen, die im Anhang zusammengefaBt sind.
Die Ergebnisse der Untersuchung werden in zwei Tellen dargestellt: Einer Beschrei
bung der Patienten des MaBregelvollzuges folgt die Darstellung ihrer Unterbringung
und Behandlung. Diese Untertellung erscheint in einigen Abschnitten vielleicht etwas
willktirlich. So wird die Unterbringungsdauer bereits im ersten Tell beschrieben, ob
wohl dieses Thema strenggenommen zum Themenbereich der Unterbringungspraxis
gehOrt.
Diese Zweitellung hat hauptsachlich folgenden Grund: Wahrend im ersten Tell
Befunde dargestellt werden, die sich unmittelbar auf die gewonnenen Daten stiitzen,
gehen im zweiten Tell diuiiber hinaus auch personliche Beobachtungen des Verfassers
in die Darstellung der Unterbringung und Behandlung ein. Dabei wird versucht, den
Gesamteindruck wiedeciugeben, der bei der Untersuchung (fast) alIer Einrichtungen
des psychiatrischen MaBregelvollzuges in der Bundesrepublik entstand.
Die Durchfiihrung dieser Untersuchung ware nicht ohne die Hilfe zahlreicher Per
sonen und Institutionen moglich gewesen. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einma!
herzlich gedankt.
Die finanzielle Unterstiitzung der Untersuchung erfolgte seitens des Schwerpunkt
programms 'Empirische Sanktionsforschung' der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Den Leitern der einzelnen Einrichtungen sowie ihren Mitarbeitern ist nicht nur fUr
ihre Unterstiitzung bei der Erhebung, sondern auch fUr die hierbei vielfach gewahrte
groBziigige Gastfreundschaft zu danken.
Herr Professor Dr. G. Heinz und Herr Professor Dr. R. Tolle haben die Unter
suchung durch ihre vielfrutige Unterstiitzung moglich gemacht und sie mit vielen hilf-
VI
reiehen Anregungen und Hinweisen begleitet. Herro Dr. K. Windgassen danke ieh fUr
die Durehsicht des gesamten Textes und eine Reihe kritiseher Anmerkungen.
Die Durehfiihrung dieser bundesweiten Erhebung hat mehr als zwei Jahre lang eine
fast standige Abwesenheit von der Familie mit sieh gebraeht. Aueh wahrend der
spateren Auswertung der Daten war ieh fUr meine Frau und unsere Kinder mehr
auBerlich als innerlich priisent. Ein besonderer Dank gilt daher meiner Frau, die meine
auBere und innere Abwesenheit nieht nur wohlwollend ertragen, sondem mieh stets
auch zur Fortfiihrung der Arbeit ermuntert hat.
Miinster, im April 1988 Norbert Leygraf
INHALT SVERZEICHNIS
A. Einleitung
1 Historischer Hintergrund des MaBregelvollzuges 1
2 Praxis des psychiatrischen MaBregelvollzuges • • • • • • • • • • • • • • 3
2.1 Anwendungshaufigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
2.2 Organisationsstruktur . . . . • . . • • . . • . . . • . . . . . . . . . . . . 6
B. AufgabeJ)stellung und Methodik
1 Untersuchungsziele ............................ . 8
2 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.1 Erfassungskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2 Untersuchungsmethode .......................... . 11
2.3 Erhebungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.4 Exkurs: Zurn Realitiitsbezug der Aktenunterlagen • • • • • • • • • • • • 15
3 ErfaBte Patienten und Reprasentativitiit ••••••••••••••••• 17
4 Statistische Auswertung. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 18
C. Ergebnisse
Die Patienten des psychiatrischen MaBregelvollzuges
1 Demographiscbe Daten . . . . . . . . . . . . . • . . . . . .. . . . . . . . 19
1.1 Methodische Vorbemerkung • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 19
1.2 Alter . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . 20
1.3 Familienstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1.4 GeschlechterVerteilung ............••............• 24
1.5 Soziographische Daten ••••••••••••••••••••••••••• 27
1.5.1 Methodische Vorbernerkung • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 27
1.5.2 Herkunftsfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ., . 28
1.5.2.1 Familienstruktur ., . . . . . . . . . . . . ., . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.5.2.2 Psychische Stprungen und dissoziales Verhalten ••••••••••••• 29
1.5.2.3 Sozialstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.5.3 Schul-und Berufsausbildung • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 32
1.5.4 Sozialdaten im biographischen Verlauf • • • • • • • • • • • • • • • • • • 34
1.5.5 Diskussion der soziographischen Daten • • • • • • • • • • • • • • • • • • 37
1.5.5.1 Primarfamilie und Bildungsniveau • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 37
1.5.5.2 Soziale Schicht . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . • . . ., . . . . . . . . 40
VIII
2 Rechtsgrundlage der jetzigen Unterbringung •• 43
3 Krankheitsformen • • • • • • • 45
3.1 Methodische Vorbemerkung 45
3.2 Einweisungsdiagnosen • 46
3.3 Aktuelle Diagnosen ••••••••••• 47
3.4 Inte~enzbeftwnde 50
3.5 Suchtproblematik. • • • • • • • • 54
3.6 Vorbehandlung • • • 54
3.7 Soziobiographische Faktoren und Erkrankung 56
3.8 Gutachtenmangel. • • • • • 60
3.8.1 Einleitung und Ubersicht • • • • • • 60
3.8.2 Untersuchungsmangel ••• 64
3.8.3 Negative Voreinstellungen 66
4 Unterbringungsdelikte 67
4.1 Art, Haufigkeit und soziobiographischer Hintergrund • 67
4.2 Schuldfii.higkeit • • 71
4.3 Vordelinquenz • • • • • 75
5 Epidemiologie 84
5.1 Pravalenz und Inzidenz der Unterbringung • • 84
5.1.1 Bundeslander • • • • • 84
5.1.2 Krankheitsformen 90
5.1.3 Deliktgruppen 94
5.2 Alkohol und Delinquenz 97
5.3 Krank oder kriminell? •• 99
6 Unterbringung: Dauer und Bedingungeu 106
6.1 Bisherige Untersuchungen und Methodik • 106
6.2 Unterbringungsdauer •••••••••••• 109
6.3 Krankheiten • 110
6.4 Delikte •••• 115
6.5 Regionale Unterschiede • • • • • • • • • 119
6.6 Soziale Bedingungen • • • 122
7 Wiederholte Unterbringung. • 126
7.1 _V orunterbringungen • • • 126
7.1.1 Haufigkeit und Zeitpunkt • • • • • • • • 126
7.1.2 Regionale Unterschiede 127
7.1.3 Deliktgruppen 129
7.1.4 Krankheitsformen 130
7.2 Widerruf einer bedingten Aussetzung • • • • • 131
7.2.1 Haufigkeit und Griinde • • • • • • • • • • • • • • 131
7.2.2 Widerrufsdelikte • • • • • • • • • 133
7.3 Gefahrdung der Offentlichkeit? 135
IX
II Die Praxis des psychiatrischen MaBregelvollzuges
1 Die Einrichtungen 138
1.1 Das auBere Bild ••••••• 138
1.2 Sicherheitsaspekte •••••• 139
1.3 Organisationsformen und personelle Ausstattung 143
1.3.1 Forensisch-psychiatrische Stationen • • • • • • 143
1.3.2 Forensisch-psychiatrische Abteilungen 144
1.3.3 Forensisch-psychiatrische Krankenhauser •• 145
1.3.4 Zentralisation oder Dezentralisierung? 145
2 Die Behandlung •••••••••••• 148
2.1 Therapeutisches Klima 148
2.1.1 Bauiiche Voraussetzungen •••••• 149
2.1.2 Stationsordnung 150
2.1.3 Entmiindigung •• 151
2.1.4 Voreinstellungen • • • • • 155
2.2 Stufenplan und Vo11zugslockerung.e.n 156
2.3 Arbeitstherapie • • • • • • 160
,
2.4 Bildungsmoglichkeiten. • 162
2.5 Somatische Behandlung • 163
2.6 Psychotherapie • • • • • 165
2.7 Sozialkontakte und Ubergangseinrichtungen 166
3 Die Fortdauer der Unterbringung 169
3.1 Das Prognoseproblem 170
3.2 Prognosepraxis 171
3.3 Folgerungen ••• 174
D. Zusammenfassung
1 Soziale Bedingungen • • .. ... 176
2 Krankheiten '. • • 177
"
3 Delikte •••• 178
4 Widerrufsunterbringungen 179
5 Unterbringungsdauer 180
6 Epidemiologie 181
7 Einrichtungen •• 182
8 Behandlung ••• 182
9 Gefiihrlichkeitsprognose • 183
10 Ausblick •.•••••.•. 183
..................................
E. Llteratur 185
F. Anhang
1 Abbildungen 197
2 Tabellen ••••• 203
3 Erhebungsbogen 264
A. EINLEITUNG
1 Historischer Hintergrund des MaBregelvollzuges
Die rechtliche Grundlage des psychiatrischen MaBregelvol1zuges geht zuriick auf das
am 24. November 1933 von der nationalsozialistischen Reichsregierung erlassene "Ge
setz gegen gefahrliche, Gewohnheitsverbrecher und iiber MaBregeln der Sicherung und
Besserung". § 42b a.P. StGB dieses Gesetzes bestimmte die Unterbringung zurech
nungsunfiihiger oder vermindert zurechnungsfiihiger Straftiiter in eine Hell- und Ptlege
anstalt, soweit "die offentliche Sicherheit es erfordert". Bis zum Inkrafttreten dieses Ge
setzes war die Einweisung -auch straffiillig gewordener -psychisch Kranker lediglich in
polizeirechtlichen Bestimmungen (vergleichbar den jetzigen Landesunterbringungs
gesetzen) geregelt, die Entscheidung hieriiber oblag den jeweiligen PolizeibehOrden.
, Zwar erfolgte die Einfiihrung dieses MaBregelkataloges (der u.a. auch die Einwei
sung in eine "Trinkerhellanstalt", die Unterbringung in einem "Arbeitshaus", die Siche
rungsverwahrung sowie die "Entmannung gefiihrlicher Sittlichkeitsverbrecher" regelte)
erst durch die Nationalsozialisten, und auch die Handhabung dieses Gesetzes war in
der Zeit bis 1945 offensichtlich durch nationalsozialistisches Gedankengut gepriigt (s.
hierzu u.a. Hiirten 1937 und Exner 1939). Vorausgegangen war dieser "gewaltigen
Neuerung" (Meggendoif 1940) jedoch eine bereits jahrzehntelange Beratung iiber mog
liche SicherungsmaBnahmen gegeniiber gefiihrlich erscheinenden psychisch Kranken
(Obersicht s. Blau 1984). Die Entwicklung spezialpriiventiver, sichernder MaBregeln
wurden zur damaligen Zeit im iibrigen nicht nur in Deutschland, sondem auch in den
meisten anderen europiiischen Liindem erortert (z.B. Bohrsch 1927, Bromberg 1927,
Go1l1927, Delaquis 1927).
Entsprechend der zwiespaltigen Stellung des MaBregelvol1zuges "zwischen iirztli
chem und juristischem Denken" (Peters 1985) hatte sich diese Diskussion aus zwei
unterschiedlichen Intentionen heraus entwickelt:
Juristischerseits wurzelte die Forderung nach einem psychiatrischen MaBregelvollzug
in den Bestrebungen, durch gesetzliche Regelungen die Offentlichkeit besser vor
gefiihrlichen Geisteskrapken zu schiitzen. So meinte z.B. Amon (1896) eine erhebliche
Zunahme der "Geisteskranken unter den Verbrechem" festzustellen. War jedoch bei
einem Straftiiter die Schuldfiihigkeit entsprechend dem damaligen § 51 a.F. StGB auf
gehoben, so muBte er freigesprochen werden, ohne daB dem Strafrichter anderweitige
Interventionsmoglichkeiten offenstanden. Dabei fiihlten sich die gutachterlich tiitigen
Psychiater hiiufig mit dem Makel behaftet, durch die Feststellung einer aufgehobenen
Schuldfiihigkeit·den "Verbrecher der gerechten Bestrafung zu entziehen" (Rasch 1984a,
2
S. 16). So stellte auch Hiirten (1937) nach Einfiihrung des MaBregelvollzuges mit einer
gewissen Genugtuung fest, daB "der sattsam zitierte 'Jagdschein' ... mit dem neuen
Strafrecht ein fUr allemal aus der Mentalitat des Publikums verschwinden" werde.
Den strafrechtstheoretischen Hintergrund eines solchen MaBregelrechtes bildete im.
wesentlichen die durch Franz v. Liszt konzipierte "Zweispurigkeit" des Strafrechtes (eine
Ubersicht dieses sog. "Marburger Programms" gibt Frisch 1982). Unter Betonung des
spezialpraventiven Charakters der Strafe wurde die Bestrafung fUr die Tatschuld er
giinzt durch die Sicherung bei sozialer Gefahrlichkeit. Bereits Bleuler (1904/05) kriti
sierte jedoch die in diesem Konzept enthaltene "Doppelbestrafung der vermindert Zu
rechnungsfiihigen". Ausgehend von den von v. Liszt gemachten Vorschlagen werde
diese Tatergruppe zunachst - entsprechend dem AusmaB ihrer Schuld - bestraft, um
dann in Hinblick auf ihre GeIahrlichkeit in eine Heil- und Pflegeanstalt untergebracht
zuwerden.
Die zweite - psychiatrische - Wurzel des MaBregelrechtes lag in den vermehrten
Liberalisierungsbemiihungen der psychiatrischen Krankenhauser. Mit diesem "open
door-" bzw. "no restraint-" System wurde die "Vermischung von irren Verbrechern, von
Mordern, Einbrechern, StraBenraubern usw. mit schuldlosen Kranken" (Fliigge
1904/05) als unhaltbarer Zustand angesehen. Basierend auf solchen "quasi-moralischen
Begriindungen" (Rasch 1984b) beganri eine Ausgrenzung der psychisch kranken
Rechtsbrecher aus dem Bereich der allgemein-psychiatrischen Versorgung -ein Trend,
der trotz gegenteiliger Vorschlage der Psychiatrie-Enquete weiter fortdauert (Burg
hardt u. Rasch 1985). Dabei standen im Kernpunkt dieser um die Jahrhundertwende
gefiihrten Diskussion bereits die gleichen Fragen, die bis heute als unvermindert aktuell
anzusehen sind (eine Ubersicht der damaligen Diskussion findet sich bei Aschaffenburg
1912): 1st die Behandlung psychisch kranker Straftater in die allgemeine psychiatrische
Versorgung zu integrieren (Sander 1886 und 1904/05) oder ist eine Unterbringung in
zentrale Sonderanstalten anzustreben (Amon 1896); sind solche Einrichtungen dem
Strafvollzug oder dem psychiatrischen Krankenhaus anzugliedern (Aschaffenburg
1902).
Nach dem Kriegsende 1945 wurde der psychiatrische MaBregelvollzug zunachst in
beiden Folgestaaten.des Deutschen Reiches fortgefiihrt. Die in. beiden Staaten einset
zenden Beratungen zu einer Reform der Strafgesetzgebung erbrachte jedoch schlieB
lich eine unterschiedliche Entwicklung. Seit dem Jahre 1969 ist im Strafgesetzbuch der
DDR ein MaBregelvollzug nicht mehr vorgesehen. Die Unterbringung psychisch kran
ker Straftater, sofem sie auch weiterhin als gefahrlich anzusehen sind, erfolgt hier im
Rahmen des allgemein-psychiatrischen Unterbringungsrechtes (Szewcyk 1964, Spate u.
Rogoli 1984).
In der Bundesrepublik entschloB sich der Gesetzgeber dagegen zu einer Beibehal
tung des MaBregelsystems. Es wurde im Rahmen der 2. Strafrechtsreform 1975 auch in
die neue Strafgesetzgebung iibernommen, wobei in der Umkehrung der Uberschrift des
entsprechenden Abschnittes Getzt: "MaBregeln der Besserung und Sicherung" statt zu
vor: "MaBregeln der Sicherung und Besserung") eine "programmatische" Absichtserkla
rung des Gesetzgebers zu einer "Abkehr yom Verwahrungsgedanken" gesehen wurde
(Venzlaff 1977a). Auf seiten der forensischen Psychiatrie wurde diese Reformgesetzge
bung als ein "imponierendes Programm rur die ldinftige Kriminalpolitik" begriiBt (Ehr
hardt 1969).