Table Of ContentStudien zur Schul-
und Bildungsforschung
Band 40
Herausgegeben vom
Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB)
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Susanne Siebholz • Edina Schneider
Susann Busse • Sabine Sandring
Anne Schippling (Hrsg.)
Prozesse sozialer
Ungleichheit
Bildung im Diskurs
Herausgeberinnen
Susanne Siebholz, Susann Busse,
Edina Schneider, Sabine Sandring,
Anne Schippling, Zentrum für Schul-
Martin-Luther-Universität und Bildungsforschung Halle,
Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Halle, Deutschland
ISBN 978-3-531-18236-0 ISBN 978-3-531-18988-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-18988-8
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de
abrufbar.
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu-
stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über-
setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem
Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu
betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe
Springer Science+Business Media
www.springer-vs.de
Inhalt
Reinhard Kreckel
Vorwort.................................................................................................................9
Susanne Siebholz/Edina Schneider/Susann Busse/Sabine Sandring/
Anne Schippling
Prozesse sozialer Ungleichheit – eine Einleitung...............................................13
I Übergänge
Werner Helsper
Die Bedeutung von Übergängen im Bildungsverlauf. Einleitender Beitrag.......21
Marlis Buchmann/Irene Kriesi
Welche Rolle spielt das Geschlecht für den Schuleintritt und die Schulleistun-
gen im mittleren Primarschulalter?.....................................................................29
Susanne Siebholz
Der Übergang von der Grund- in die Sekundarschule bei Kindern in Heimen.
Erste Ergebnisse zu ihren Orientierungen in Bezug auf die Schulfindung.........43
Edina Schneider
Schulische Aufwärtsqualifizierungen bei Hauptschülern im Rahmen
biografischer Prozessverläufe – Potentiale eines schülerbiografischen
Zugangs..............................................................................................................57
Teresa Falkenhagen
Selektion oder Öffnung am Übergang vom Bachelor- zum Masterstudium?.....69
II Migration
Iris Bednarz-Braun
Migration und (Aus-)Bildung. Einleitender Beitrag...........................................87
Joachim Gerd Ulrich
Institutionelle Mechanismen der (Re-)Produktion von Ausbildungslosigkeit....93
6 Inhalt
Jörg Eulenberger
Erklärungsversuche für die schlechteren Übergangschancen in Ausbildung
von Aussiedler/innen........................................................................................107
Susann Busse
Bildungsorientierungen Jugendlicher mit vietnamesischem
Migrationshintergrund zwischen Stigmatisierung und Entthematisierung.......121
III Bildungsorte
Heinz-Hermann Krüger/Ursula Rabe-Kleberg
Orte der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten. Einleitender Beitrag.........137
Sascha Neumann
Kindheit und soziale Ungleichheit. Perspektiven einer
erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung...........................................141
Ulrike Deppe
Schulische Anerkennungsverhältnisse zwischen 13-Jährigen, ihren Eltern
und Freunden und die Konstruktion von Bildungsungleichheit. Ein
exemplarischer Fallvergleich............................................................................153
Daniela Winter
Kinder und ihre Bezüge auf das Materielle: Welchen Sinn und welche
Bedeutungen Kinder Artefakten geben.............................................................165
Beate Beyer
Chancengleichheit im Kindergarten? Inkludierende und exkludierende
Einstellungs- und Handlungsmuster in Einrichtungen früher Bildung.............177
Julia Canstein
Zivilgesellschaftliches Engagement für Schüler in Japan – Was kann es
angesichts sozialer Ungleichheit in der Bildung leisten?..................................189
Inhalt 7
IV Diskurse
Christiane Thompson
Diskurse und soziale Ungleichheit. Einleitender Beitrag.................................201
Sandra Koch
Der Kindergarten als Bildungsort – Wie Essen bildet......................................205
Anne Schippling
Am Übergang in eine französische Elitehochschule. Diskursanalytische
Perspektiven......................................................................................................217
Christiane Thompson
Zum Ordnungsproblem in Diskursen................................................................229
Schlussbeitrag
Jürgen Budde
Intersektionalität als Herausforderung für eine erziehungswissenschaftliche
soziale Ungleichheitsforschung........................................................................245
Autorinnen und Autoren...................................................................................259
Vorwort
Reinhard Kreckel
Der große österreichische Ökonom und Soziologe Joseph A. Schumpeter hat
einmal geschrieben, eine von sozialer Ungleichheit geprägte Gesellschaft gleiche
„einem Hotel oder einen Omnibus, die zwar immer besetzt sind, aber von immer
anderen Leuten“ (Schumpeter 1953/1927: 171). Einige bewohnen ein Luxusap-
partement, andere eine Besenkammer, wieder andere müssen ganz draußen blei-
ben. Die damit verbundene dualistische Vorstellung von einer relativ statisch
vorgegebenen hierarchischen Struktur gesellschaftlicher Positionen einerseits,
von dynamischen Prozessen der Positionsbesetzung und Statuszuweisung an-
dererseits findet sich in der klassischen sozialwissenschaftlichen Ungleichheits-
forschung wieder. Entweder geht es dort um Stände-, Klassen-, Schicht- oder
auch Milieustrukturen, oder es werden Prozesse sozialer Mobilität bzw. Immo-
bilität untersucht, die diese Strukturen voraussetzen.
Der Titel des vorliegenden Sammelbandes – „Prozesse sozialer Ungleich-
heit“ – signalisiert demgegenüber einen Perspektivenwechsel. An die Stelle des
Dualismus von Struktur und Prozess tritt die Vorstellung, dass Ungleichheits-
strukturen selbst als Prozesse verstanden werden müssen. Sie werden gleichzei-
tig als Voraussetzungen und als Resultate der ständig ablaufenden Rekrutie-
rungs- und Positionszuweisungsprozesse gesehen, in denen die Strukturen sich
andauernd erneuern.
Die forschungsleitende Idee der „andauernden Erneuerung“ von Strukturen
hat einen optimistischen Beiklang, der vielleicht unangemessen wirken könnte.
Aber wer „Prozesse sozialer Ungleichheit“ untersucht, will ja verstehen, wie es
immer wieder dazu kommt, dass die Lebenschancen unter den Menschen sehr
ungleich verteilt bleiben, trotz aller rechtlichen Garantien und politischen Re-
formbemühungen. In der Tat, soziale Ungleichheit ist ein hartnäckiger Fall, der
sich in immer neuem Gewand immer wieder reproduziert (vgl. dazu viel zitierte
Buchtitel wie Blossfeld/Shavit 1993 oder Tilly 1998). Aber sie lässt sich auch
verändern und reduzieren. Das „plus ça change, plus c’est la même chose“ ist
kein Naturgesetz.
In dem hier vorgelegten Band dominiert die mikroanalytische Perspektive,
also: das Bemühen, mit Hilfe von sorgfältig ausgewählten und methodisch kon-
trollierten Detail- und Einzelfallanalysen ergebnisoffen der Frage nachzugehen,
wie Selektions- und Statusfindungsprozesse verlaufen und von den Beteiligten
10 Reinhard Kreckel
erlebt werden und wo sie auf dem Kontinuum zwischen Reproduktion und Re-
duktion von sozialer Ungleichheit angesiedelt sind.
Die hier abgedruckten Beiträge sind alle im Kontext des Promotionskollegs
„Bildung und soziale Ungleichheit“ an der Universität Halle-Wittenberg entstan-
den. Damit wird, in Anknüpfung an Helmut Schelskys (1979/1956: 155) legen-
däre These von der „Schule als primäre, entscheidende und nahezu einzige Diri-
gierstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen des einzelnen in unserer Gesell-
schaft“, die Bedeutung des vielstufigen und vielgliedrigen Bildungssystems in
Deutschland ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die dahinter stehende
allgemeine Frage ist, wie sich die enorme Bildungsexpansion der letzten Jahr-
zehnte, die zunehmende Öffnung des Bildungssystems für Frauen, für Zuwande-
rer, für Angehörige bildungsferner Milieus usw. im Verbund mit dem dramati-
schen Strukturwandel im Bildungs- und Beschäftigungssystem und dem einma-
ligen Ereignis der deutschen Vereinigung auf die Verteilung von Lebenschancen
auswirkt. Diese Frage wird üblicherweise vor allem unter makrosoziologischer
Perspektive untersucht. Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie der
OECD im Jahre 2001 hat sie auch wieder große öffentliche Aufmerksamkeit und
bildungspolitische Brisanz gewonnen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass auch
der mikroanalytischen, qualitativen Forschung genügend Raum gegeben wird,
um ihre besonderen Stärken zur Geltung zu bringen – das Herausarbeiten des
Mosaiks von individuellen Biografien, Erfahrungen und Sonderkonstellationen,
ohne die die großen Linien und Verallgemeinerungen der Makroanalyse unver-
ständlich bleiben müssen.
Zwei Gesichtspunkte seien noch besonders betont, die meines Erachtens bei
der Lektüre dieses Bandes immer mitbedacht werden sollten: Zum einen ist es
gewiss nach wie vor berechtigt, an Schelskys Diktum vom Bildungssystem als
zentraler sozialer Dirigierstelle anzuknüpfen. Aber man sollte sich vor der Vor-
stellung hüten, moderne Gesellschaften könnten jemals so etwas wie „Meri-
tokratien“ im engeren Sinne werden, in denen der Zugang zu Spitzen- und Füh-
rungspositionen primär über Bildungszertifikate gesteuert wird. Das ist in
Deutschland weder in der Politik noch in der Wirtschaft der Fall, auch nicht in
Verwaltung, Justiz, Verbänden, Medien usw., am ehesten vielleicht noch im Bil-
dungssektor selbst, vor allem im Hochschulsektor, wo es immerhin die Habilita-
tion als Berufungsvoraussetzung für Professoren gibt bzw. gab. Aber schon für
Hochschulrektoren und Schuldirektoren gelten, ebenso wie für die Besetzung
von Spitzenpositionen in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, Kriterien,
die nichts mehr mit Bildung zu tun haben. Richtig ist – und neuere Elite- und
Führungskräftestudien belegen das immer wieder –, dass höhere Bildungsab-
schlüsse in allen gesellschaftlichen Bereichen immer stärker zur selbstverständli-
chen Vorbedingung für den Zugang zu Spitzenpositionen werden. Danach zählen
Vorwort 11
aber ganz andere, je nach gesellschaftlichem Sektor unterschiedliche Erfolgskri-
terien, vor allem: Durchsetzungsfähigkeit, Beziehungen und Fortune. Denn das
System der sozialen Ungleichheit ist, wie der große französische Soziologe
Pierre Bourdieu immer wieder betont hat, unweigerlich ein umkämpftes Feld.
Zweitens möchte ich daran erinnern, dass die Geltung von Helmut
Schelskys These an einen nationalstaatlichen Rahmen gebunden ist. Fasst man
dagegen die gesamte Weltgesellschaft ins Auge, wird sofort deutlich, dass die
Vorentscheidung über die Lebens- und Glückschancen eines Menschen nicht so
sehr von der Art der Schule abhängt, die er besucht hat, sondern von dem Ort auf
der Weltlandkarte, an dem er aufwächst – also: vom Zufall der Geburt, nicht der
eigenen Leistung. Angesichts des Umstandes, dass das Armuts- und Reichtums-
gefälle international gesehen enorm ist, hat der amerikanische Soziologe Glenn
Firebaugh (2003: 366) einmal berechnet, dass man „durch eine einzige Informa-
tion über die Individuen – nämlich in welcher Nation sie leben – etwa 70 % der
Varianz der Einkommen“ erklären kann, die sie verdienen. Denn die heutige
Weltgesellschaft ist – trotz aller Globalisierungsdynamik und -rhetorik – kein
offener Markt, in dem sich Menschen und Arbeitskräfte frei bewegen können.
Die Welt ist immer noch durch Staatsgrenzen segmentiert. Das heißt, die geogra-
fischen Orte, an denen Menschen aufwachsen und leben, sind politisch um-
grenzt. Pass und Visum gehören deshalb nach wie vor zu den wichtigsten Insti-
tutionen sozialer Ungleichheit. Nationalstaaten (und neuerdings auch: Staaten-
gemeinschaften wie die Europäische Union mit ihren Schengen-Grenzen) sind
entscheidende Schaltstellen für die Zuweisung von Lebenschancen im Weltkon-
text.
In derartige Makrozusammenhänge fügen sich die materialreichen Mikro-
analysen und Reflexionen dieses Bandes ein, die ich mit großem Gewinn gelesen
habe.
Literatur
Blossfeld, Hans-Peter/Shavit, Yossi (Hrsg.) (1993): Persistent Inequality. Boulder
Firebaugh, Glenn (2003): Die neue Geografie der Einkommensverteilung der Welt. In:
Müller, Walter/Scherer, Stefani (Hrsg.): Mehr Risiken – Mehr Ungleichheit? Frank-
furt a. M./New York: 363–388
Schelsky, Helmut (1979/1956): Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schule in
unserer Gesellschaftsverfassung. Eine Denkschrift (1956). In: Ders. (1979): Auf der
Suche nach Wirklichkeit. München: 131–159
Schumpeter, Joseph A. (1953/1927): Die sozialen Klassen im ethnisch-homogenen Mi-
lieu. In: Ders. (1953): Aufsätze zur Soziologie. Tübingen: 147–213
Tilly, Charles (1998): Durable Inequality. Berkeley
Prozesse sozialer Ungleichheit – eine Einleitung
Susanne Siebholz/Edina Schneider/Susann Busse/
Sabine Sandring/Anne Schippling
In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Forschungsarbeiten zu ver-
zeichnen, die das Spannungsfeld um Bildung und soziale Ungleichheit unter
verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen (z. B. im Überblick Kristen
1999; ZfE 1/2003; Engler/Krais 2004; Georg 2006; Becker/Lauterbach 2007;
Krüger et al. 2011). Während die internationalen Schulleistungsvergleichsstudien
mit ihren einschlägigen Ergebnissen zur Ungleichheit und Benachteiligung im
Bildungsbereich für eine große Präsenz in den öffentlichen Debatten sorgen, hat
sich eine heterogene Forschungslandschaft um diese Thematik gebildet. Die Be-
funde sind sehr vielfältig und kontrastreich, wenn nicht gar zum Teil wider-
sprüchlich, etwa bezüglich der Tendenzen einer Verschärfung bzw. einer Ab-
nahme von Bildungsungleichheiten im deutschen Bildungssystem (z. B. Ber-
ger/Kahlert 2005; Müller et al. 2007; Becker/Hecken 2008). Auch bei der Erklä-
rung des Phänomens der andauernden Bildungsungleichheit konkurrieren unter-
schiedliche theoretische Ansätze, etwa der auf Pierre Bourdieu zurückgehende
kulturtheoretische Ansatz (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1982, 1983) oder
entscheidungstheoretische Modelle der Rational-Choice-Theorie im Bereich der
Sozialwissenschaften (Boudon 1974; Erikson/Jonsson 1996; Breen/Goldthorpe
1997; Becker 2000; Goldthorpe 2007), die hinsichtlich der Problematik der Bil-
dungsungleichheit unterschiedliche Blickwinkel einnehmen und zum Teil er-
gänzt und neu thematisiert werden (z. B. Kristen 1999; Georg 2006; Be-
cker/Lauterbach 2007).
Dass Ungleichheiten in Bezug auf Bildungschancen zwischen den sozialen
Schichten bei gleichzeitiger Bildungsexpansion fortbestehen, gilt in den wissen-
schaftlichen Diskursen als unbestritten und ist hinreichend beschrieben worden
(vgl. z. B. Schimpl-Neimanns 2000; Becker 2003; Vester 2004; Geißler 2005;
Ditton 2007). Allerdings mangelt es an empirischen Befunden, wie und an wel-
chen Stellen soziale Ungleichheit in- und außerhalb des Bildungssystems ent-
steht (Vester 2006; Becker/Lauterbach 2007). Dieses Forschungsdefizit bezieht
sich auf Studien, die über einen mikroanalytischen Zugang die Mechanismen der
(Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Bereich der Bildung empirisch unter-
suchen.
S. Siebholz et al. (Hrsg.), Prozesse sozialer Ungleichheit,
DOI 10.1007/978-3-531-18988-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013