Table Of ContentKonzepte 50
der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner
Eske; Bockeimann
Propädeutik einer endlich gültigen
Theorie von den deutschen Versen
Max Niemeyer Verlag
Tübingen 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Bockelmann, Eske: Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen
Versen / Eske Bockelmann. - Tübingen : Niemeyer, 1991
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 50)
NE: GT
ISBN 3-484-22050-3 ISSN 0344-6735
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991
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elektronischen Systemen. Printed in Germany.
Satz: pagina GmbH, Tübingen
Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten
Inhalt
Prolog............................................................................. 1
I Das Konstitutionsproblem ........................................... 10
II 1624 .................................................................................. 21
III Zur Prosodie................................................................. 32
IV Der Status von Alternation
Sprache und Schema...................................................... 41
V Der Status von Alternation
Über Sprache hinaus...................................................... 49
VI Totalität und Irrtum ...................................................... 57
VII Aus der Geschichte des Musters................................... 70
VIII Verssprache und Prosasprache....................................... 86
Epilog............................................................................. 92
■
Prolog
Eine Theorie als endlich gültige einzuführen, heißt voraussetzen, daß
die bestehenden es nicht sind und die vergangenen es nicht waren.
Dem allgemeinen Verständnis mag solche Vorstellung widersprechen,
da ihm Metrik, die das Messen so hörbar bereits im Namen trägt, als
eines der exakten Verfahren in der Literaturwissenschaft gelten muß,
dazu bestimmt und befähigt, mit sicheren Hilfsmitteln einen jeden ge
gebenen Vers in ein Schema mathematisch klarer Symbole zu verwan
deln - wenn Metrik nicht gar umstandslos ihren Symbolen direkt
gleichgesetzt wird. Und für so klar und geschlossen wird sie als Verfah
ren erachtet, wenn man denn nur erst einmal über es verfügte, daß mit
der Verwandlung ins Schema es metrisch auch bereits sein Bewenden
hätte, daß damit bereits die Form eines Gedichts erkannt wäre. Schon
die magere Funktion der Schematisierung aber, für die allein ihr sicher
ein Großteil des Widerwillens und der verächtlichen Indifferenz gilt,
worunter sie und alle Befassung mit Versen zu leiden hat, schon diese
magere Funktion erfüllt Metrik nicht wirklich. Gerade auf ihrem ver
mutet eigensten Gebiet, der technischen Einsicht, ist sie unzulänglich
und des Messens nicht mächtig, und die enger mit ihr Befaßten sind
sich wohl bewußt, daß eine triftige grundlegende Theorie noch immer
fehlt und wieviel in ihr bisher beliebig zusammengebastelt wird.’ Mag
Metrik auch meistenteils, jedenfalls bei den neueren Versen, dazu ge
langen, in einem Versschema den Aufbau, das abstrakt Wiederkehren
de der Verse zureichend zu notieren, so vermag sie doch bereits nicht
mehr zu erklären, was die Grundlage ihrer Notationen ist; es fehlt ihr
von Anbeginn, was erst Voraussetzung wäre für das genauere Aushören
eines Verses, für die auch in technischen Kategorien zu bestimmende
Wahrnehmung des sprachlich Besonderen eines jeden einzelnen; es
fehlt ihr noch immer die konstituierende Einsicht: was Verse über
haupt zu Versen macht. Und damit fehlt ihr das Maß, um recht zu
messen; denn es wird stets erst an dem zu gewinnen sein, worin Spra
che zur Verssprache wird.
Eine kleine Zusammenstellung von Zitaten, die dieses Wissen belegen, bei
Christoph Küper: Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses. -
Tübingen 1988, S. 1 f.
2 Prolog
Weil in den deutschen Versen eben dies aber noch nicht erkannt ist,
was doch so unschwer zu erkennen scheint, teilen sich heute mehrere
beliebig nebeneinanderstehende Theorien in das Gebiet der Metrik.
Gerade der Mangel, daß sie jene erste und einfachste Frage nicht al
lenfalls beantworten können, verleiht ihnen den Nimbus des Exklusi
ven: weil der Metriker, der nicht angibt und herleitet, woher er weiß,
was er angibt zu wissen, zum Eingeweihten wird; und Metrik darin
zum Dogma und Numinosen. Der Metriker erteilt Bescheid darüber,
was das Wesen des Verses sei, und man hat es zu glauben. Das Beliebige
und Gesetzte des Bescheids aber macht diesen indifferent gegenüber
einem jeden anderen, der ihm widerspricht, und so kommt es zu der
gängigen Auskunft derer, die Literatur lehren, für die Analyse von Ver
sen solle man sich getrost derjenigen metrischen Lehre bedienen, mit
der man am einfachsten durchkomme; sie tun es nicht anders. Sie legen
die offen ungenügende Frage nahe und gehen selbst mit ihr um, nur ob
es möglich, nicht ob es richtig, der Sache angemessen ist, etwa Freie
Rhythmen nach Heusler zu notieren. Aber ihre Empfehlung hat Recht
so lange, als die bestehenden Theorien im Innersten vage und dogma
tisch bleiben zugleich: beliebig in beidem, da ihnen das Entscheidende
an ihrem Gegenstand, das, was ihm zugrundeliegt, verborgen geblieben
ist und da sie deshalb selber der Fundierung entbehren; sie dogmatisch
vorgeben oder, daß sie fehlt, überspielen. Auch unter denen, die we
nigstens von Berufs wegen über den Bau von Versen einiges wissen
müßten, da sie sich an deren Interpretation machen, ist aber die Kennt
nis auch nur der bestehenden Lehren notorisch wenig verbreitet, und
sicher ist das Lavieren, Schwanken und Danebentappen in den metri
schen Termini, das noch jede Studie zu Werken in Versform be
einträchtigt und schwächt, nur zu einem Teil dem anzulasten, daß die
Lehren untereinander bereits in der Terminologie gerade so schwan
kend sind, wie in ihrer Grundlage mangelhaft. Die jedoch selbst über
jene Kenntnis verfügen, haben sich zwangsläufig mit einer jener Leh
ren zu bescheiden in dem Bewußtsein, daß ihr zwar nicht rechter
Grund gelegt ist, aber doch auch keine, bei der es wäre, zur Verfügung
steht. Allgemein nützen die Interpreten dies, was sie in Not bringen
müßte, um die schlecht überlegene Warte einzunehmen, sie würden
nicht mit der Theorie, sondern mit der Ästhetik von Versen umgehen;
als wäre diese anders als in Begriffen zu entwickeln, die theoretisch,
was die Verse ausmacht, fassen und erschließen. Solche unkräftige, aus
weichende Ästhetik handelt das Metrische rasch und möglichst als Be
reich für sich ab und begibt sich danach erleichtert ans Deuten, ans
Inhaltliche. Die pflichtgemäß gebotenen metrischen Bestimmungen
bleiben karg, terminologisch unsicher, und sind beiseite geschoben un
ter dem impliziten Vorgeben, daß sich aus ihnen nichts weiter für die
Schwierigkeit in der Sache 3
Interpretation ergebe. Vor dem, was Metrik bisher zu bestimmen nur in
der Lage ist, hat dieser Gestus sogar noch sein billiges Recht.
Es ist eine eigentümliche Schwierigkeit in der Sache selbst, die diesen
deplorablen Zustand bedingt hat und, unerkannt, einen solchen weiter
bedingen würde. Solange er währt, bleiben der metrischen Analyse nur
jene zwei Möglichkeiten: Entweder hat die Erkenntnis dessen, was ei
nen Vers ausmacht, an den engen Grenzen haltzumachen, die mit der
Notation des Versschemas erreicht sind; das verlangt zunächst nur eine
gewisse Geschicklichkeit und ergibt aber keinen Aufschluß darüber,
was Verse über die bloße Erfüllung ihres Schemas hinaus befähigt, in
ihren klanglichen oder, um es anders zu nennen, in ihren technischen
Möglichkeiten dem unterschiedlichsten Gehalt sich anzumessen, ja
diesen Gehalt erst zu entfalten - er selbst bleibt unerkannt, wenn un
erkannt bleibt oder verkannt wird, was in den Versen klanglich wirkt.
Oder aber die Erkenntnis an den Versen, wenn es ihr um diesen Gehalt
genauer zu tun ist, verliert sich in unsicherem Gelände, in das nur
dogmatisch die festen Orientierungspunkte gesetzt sind. Wie tief das
reicht, was noch immer der Klärung bedarf, jene entscheidende
Schwierigkeit, darauf weist am augenfälligsten die Tatsache, daß bis
heute alle Versuche, eine Prosodie der deutschen Sprache zu bestim
men, erfolglos blieben. Bedeutende Dichter auch haben sich an diesen
Versuch gemacht; zwar konnten sie Verse dichten, aber die Bestim
mung der prosodischen Eigenart ihres Materials, mit dem sie dabei
umgingen, eine Bestimmung, die etwa in den antiken Sprachen so klar
und umfassend zu treffen ist, sie ist ihnen im Deutschen nicht gelun
gen. Sie wäre ihnen aber unweigerlich gelungen, wenn sie sich rein
prosodisch, bloß innerhalb des sprachlichen Materials halten ließe so,
wie es der Begriff von Prosodie zwingend zu erfordern scheint. Das
Rätsel der deutschen Prosodie löst sich aber selbst nur im engsten Zu
sammenhang mit dem - einem minder augenfälligen - des deutschen
Versbaus. Denn so, wie Prosodie und Versbau strikt aufeinander be
zogen sind, so ist gerade, was die grundlegende Schwierigkeit der Pros
odie formt, dasjenige auch, was jene andere Frage bis heute nur hilfs
weise Antworten finden ließ, nämlich, was im Deutschen Verse als sol
che bestimmt und wahrnehmbar macht. Erst dann wird Metrik klar
benennen können, wie sie zu ihren Schemata gelangt; erst dann auch
wird sie weiter kommen als zur Feststellung des Versschemas und die
Versform als sedimentierten Inhalt erschließen können: wenn sie jene
Rätsel löst. Ich werde es hier beginnen.
Inzwischen aber wird eine gültige Theorie selber das paradoxale Phäno
men zu erklären haben, wie bis heute es an dieser Theorie fehlen konn
te und dennoch Metrik und nicht ganz ohne Sinn zu betreiben war;
4 Prolog
und des weiteren jenes vor allem, weshalb während Jahrhunderten
Dichter haben Verse dichten können und also, da Verse der Metrik den
Gegenstand vorgeben auch dann, wenn diese ihnen die Vorschriften
macht, metrisch richtige Verse gedichtet haben, ohne daß geklärt sein
mußte, wie Verse überhaupt möglich sind und was sie fundiert. Dies,
was Verse zu Versen macht, es muß also wirksam sein, auch ohne daß
seine Wirksamkeit sich der theoretischen Bestimmung erschließt; je
dem Dichter und Leser geläufig und doch von der Metrik unerkannt
und dem Erkanntwerden sich wie selbsttätig entziehend. Dies wird
Theorie zu erklären und sie wird zu verstehen haben, was in der Ei
genart ihres Gegenstandes jene verdeckende Wirkung zeitigt, unter der
eben diese Eigenart den Metrikern nie vollends sich klärte und unter
welcher die Metriker den Gegenstand stets auch von sich aus verdun
kelten.
Doch wie sehr auch der Gegenstand selbst sich der Erhellung ver
weigert, er ist dennoch, wie ich zeigen werde, der Reflexion keineswegs
vollkommen entzogen. Die Misere der Metrik muß deshalb auch als
das Merkmal einer Geisteswissenschaft genommen werden, die aus der
richtigen Überzeugung, nicht zu den exakten Wissenschaften zu rech
nen, den falschen Schluß zieht, sie habe ihren Geist dadurch zu be
weisen, daß sie es nicht so genau nimmt. Die Not mit der Metrik zer
fällt deutlich in die zwei Abteilungen der Germanistik, die neuere und
die ältere. Die ältere, fest entschlossen, solange nur irgend möglich
durch keine neuere Einsicht sich von ihrer Auffassung der älteren Ver
se abbringen zu lassen, geht dort von Verhältnissen aus, wie sie erst in
den neueren Versen gültig wurden; die neuere, fest entschlossen, die
älteren Theorien durch neue zu reformieren, bleibt stets beirrt von Ver
hältnissen, wie sie nur in den älteren Versen galten. Objektiv zieht sich
die Grenzscheide zwischen beiden Abteilungen durch das Jahr 1624,
markiert von Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey, in dem
die später so genannte Alternation ratifiziert ist. Allerdings verliert die
ältere Abteilung, die allgemein auf jene und auf eine Dichtung nach
Akzenten schwört, allmählich an Terrain. Es ist nicht sehr lange her,
daß sie einsehen mußte, der Knittelvers, von dem ihr Dogma wie schier
von allen Versen Alternation verlangte, sei in seiner freien Spielart
durch nichts als den Reim, in seiner strengen außerdem nur durch die
Zahl der Silben gebunden gewesen, Silben also, die nicht etwa nach
schwer und leicht unterschieden waren und folglich darin gar nicht erst
alternieren konnten. Auch der Renaissancevers ist dem Alternations
dogma entwunden worden und als rein Silbenzählend festgestellt. Dar
über beruhigt sich die ältere Abteilung, das Silbenzählen sei bloß vor
übergehender fremder, welscher Einfluß gewesen, während das eigent
lich und echt Germanische im Vers Ordnung der Akzente verlange.