Table Of ContentMartin Stempfhuber
Elke Wagner Hrsg.
Praktiken der
Überwachten
Öffentlichkeit und Privatheit
im Web 2.0
Praktiken der Überwachten
Martin Stempfhuber · Elke Wagner
(Hrsg.)
Praktiken der
Überwachten
Öffentlichkeit und Privatheit im
Web 2.0
Hrsg.
Martin Stempfhuber Elke Wagner
Universität Würzburg Universität Würzburg
Würzburg, Deutschland Würzburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-11718-4 ISBN 978-3-658-11719-1 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-11719-1
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung .................................................... 1
Martin Stempfhuber und Elke Wagner
Teil I Genealogie des Web 2.0
Indizieren – Die Politik der Unsichtbarkeit ........................ 17
Urs Stäheli
The Virtual Sphere. The Internet as a Public Sphere ................ 43
Zizi Papacharissi
Teil II Transformationen des Privaten
Die Zurichtung des Privaten .................................... 63
Armin Nassehi
Überwachung und die Digitalisierung der Lebensführung ........... 79
Jochen Steinbicker
Autonomie und Kontrolle nach dem Ende
der Privatsphäre .............................................. 97
Felix Stalder
Verhaltenslehren der Kälte – private
Kommunikation auf Facebook. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Niklas Barth
Selfies als Prosopopeia des Bildes. Zur Praxis
der Subjektkritik in Sozialen Medien ............................. 141
Ramón Reichert
V
VI Inhaltsverzeichnis
Neue Trends im Strukturwandel der Privatheit ..................... 157
Martin Stempfhuber
Teil III Transformationen des Öffentlichen
Publicly Private and Privately Public:
Social Networking on YouTube .................................. 183
Patricia G. Lange
Kopierte Kommunikation ...................................... 207
Christian Schweyer
Inverse Pathosformeln. Über Internet-Meme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Wolfgang Ullrich
Intimisierte Öffentlichkeiten. Zur Erzeugung
von Publika auf Facebook ...................................... 243
Elke Wagner
Einleitung
Martin Stempfhuber und Elke Wagner
Die Internetrevolution hat den Alltag, das Wissen und den Umgang mit Daten
von „Privatpersonen“ auf nicht vorhersehbare Weise verändert. Nicht nur wissen
wir alles, was wir über die Gesellschaft wissen, über die Massenmedien; was die
Gesellschaft über uns wissen kann, findet sie scheinbar mühelos im Web 2.0. Eine
frühere Phase des Umgangs mit Wissen und Daten im Internet hat ein berühmter
Cartoon im New Yorker treffend auf den Punkt gebracht: „On the Internet,
nobody knows you’re a dog“ (1993). Spätestens seit Edward Snowdens Veröffent-
lichung der scheinbar grenzenlosen staatlichen Möglichkeiten der Sammlung von
privaten Daten und Überwachung von privaten Kommunikationen, die das Web
2.0 überhaupt erst konstituieren, hat sich die Debatte zum Internet aber grund-
legend verschoben. Wie gehen staatliche Institutionen und kommerzielle Akteure,
wie Google, Facebook und Co. mit privaten Daten um? Diese Frage stand und
steht im Mittelpunkt zahlloser Diskussionen um die staatliche und kommerzielle
Nutzung privater Daten und die Konsequenzen der Auswertungen von Big Data.
So berechtigt und wichtig diese Diskussionen sind – sie scheinen in weiten Teilen
dennoch vorbei zu blicken an den individuellen Nutzungspraktiken der User.
Auffällig bei diesen Diskussionen ist, dass sie häufig aus der Perspektive der
bedrohten privaten User argumentieren, seltener aber die Frage stellen, wie die User
empirisch diese Debatten beobachten und auf sie reagieren. Diese Frage wiederum
mag zunächst naiv erscheinen angesichts der Macht der Überwachungs-Maschinerie.
M. Stempfhuber (*) · E. Wagner
Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
E. Wagner
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1
M. Stempfhuber und E. Wagner (Hrsg.), Praktiken der Überwachten,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-11719-1_1
2 M. Stempfhuber und E. Wagner
Eine von den Cultural Studies inspirierte Herangehensweise würde zu schnell Gefahr
laufen, die Kreativität und Widerspenstigkeit der Nutzer zu entdecken und überzu-
betonen.
Was im Folgenden aber versucht wird, ist, diese beiden Diskurs-Positionen
nicht dichotomisch gegeneinander auszuspielen; die folgenden Aufsätze ver-
suchen, den Fokus auf die Nutzerpraktiken zu legen, ohne eine starke Dichotomie
zu konstruieren, die die Macht der Medien der Kreativität der Nutzer gegenüber-
stellt. Bei der Beobachtung und empirischen Analyse konkreter Nutzer-Praktiken
müsste man beides in den Blick nehmen: einerseits die medialen Affordanzen,
andererseits die womöglich durchaus widerspenstigen Nutzungspraktiken der
User. Unsere Vermutung ist, dass sich empirisch zeigen lassen muss, wie sich
Praktiken und mediale Affordanzen vermitteln. Uns geht es also nicht darum,
allein von einem starken Medienbegriff und einem medialen a priori auszugehen;
und uns geht es auch nicht darum, die emanzipatorischen Nutzungspraktiken von
Usern zu feiern. Worum es uns geht, ist die konkrete Beobachtung von medialen
Vermittlungsverhältnissen. Dies soll bereits der Titel des Bandes verdeutlichen:
Die Praktiken der Überwachten. Es wird der Versuch unternommen, die Über-
wachten nicht vor-empirisch als Cultural Dopes oder widerspenstige, subversive
Akteure zu designieren. Ohne Diagnosen des Strukturwandels von Öffentlich-
keit und Privatheit, Beobachtungen, der neuen Qualität von Big Data, der Omni-
präsenz digitaler Speichermedien und neuer Überwachungsmöglichkeiten zu
leugnen, müssen sich deren Effekte in den Praktiken der Überwachten selbst
ablesen lassen.
Trotz der Notwendigkeit der datenschutzrechtlichen und persönlichkeitsrecht-
lichen Diskussion muss die Frage also auch soziologisch-empirisch gewendet
wenden: Wie gehen die individuellen User praktisch mit den medialen und kom-
merziell geprägten Vorgaben des Web 2.0 um? Wie gehen konkrete User empi-
risch damit um, dass sie wissen können, dass sie in ihrer Kommunikation im Web
2.0 Daten produzieren, die wiederum Wissen über sie selbst produzieren? Der
vorliegende Sammelband möchte diese Fragestellung aus unterschiedlichen empi-
rischen Perspektiven näher beleuchten.
Die forschungsleitende These des Sammelbandes ist, dass die Genese von
Öffentlichkeit und Privatheit sich spezifischen, empirisch nachvollziehbaren
Herstellungspraktiken verdankt, die jeweils an mediale Bedingungen gekoppelt
sind. Diese Ausgangsthese schließt einerseits an eine soziologisch fundierte
Tradition in der Erforschung der Hervorbringung von öffentlichen und priva-
ten Räumen an und erprobt andererseits ihre in historischen Analysen bewährte
Überzeugungskraft für eine empirische Rekonstruktion gegenwärtiger Medien-
kontexte. Betrachtet man Habermas Öffentlichkeitskonzept, so ist die Entstehung
Einleitung 3
bürgerlicher Publika nicht nur an die Privatheit der bürgerlichen Kleinfamilie
gebunden, sondern auch an Medien – und zwar gerade nicht nur an Zeitungen,
sondern auch an Romane, Briefe und Tagebücher, die im 18. Jahrhundert eine
veränderte Plausibilität der (öffentlichen) Rede vermitteln. Über den Austausch
von Gelesenem im privaten Salon entsteht eine vernünftige Rede, die sich an
Argumenten und dem Austausch von besser begründeten Meinungen orientiert
und schließlich nicht nur die private Leseerfahrung, sondern auch das Politische
nach seinen Gründen befragt. Über die Verschriftlichung von Gefühlen in B riefen
für den räumlich entfernten Leser werden zudem Semantiken für das Emotionale
ausgebildet und eine spezifische Gefühlslage eingeübt: die bürgerliche Empfind-
samkeit (Koschorke 1999), die zur Formulierung jenes Wertes dient, der die
Zivilgesellschaft begründen soll – der einer allgemein gültigen Humanität (vgl.
Habermas 1962/1990). Man kann hieraus ablesen, dass sich die Konstellation
von Öffentlichkeit und Privatheit auch über Medien herstellt, die zur Erzeugung
von Öffentlichkeit genutzt werden. Dieser Zusammenhang von medialen
Bedingungen und der Genese und Transformation von Öffentlichkeit und Privat-
heit, den Jürgen Habermas und Albrecht Koschorke für die bürgerliche Gesell-
schaft formuliert haben, nimmt der Sammelband für die Analyse der aktuellen
Herstellung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit im Internet auf.
Die Forschungsperspektive des Sammelbandes möchte diese Hinweise auf die
Veränderung von Inhalten durch neue mediale Formen insofern ernst nehmen,
als sie nach den medialen Einschreibungen in die aktuellen Veränderungen von
Öffentlichkeit und Privatheit fragt. Medien werden dabei nicht allein im Hinblick
auf Medien-Institutionen begriffen. Sie werden vielmehr in einem kulturwissen-
schaftlichen Sinn als symbolischer und technischer Generator zur Herstellung
von Bedeutungsgehalten verstanden. Aus Marshall McLuhans Zuspitzung, dass
das Medium die Message ist (McLuhan 1964/1994, S. 9) lässt sich für die Sozio-
logie zumindest die Fragestellung ableiten, ob und wenn ja wie mediale Über-
tragungsverhältnisse etwas produzieren können, dass es so vorher noch nicht
gegeben hat: Ändert sich tatsächlich etwas an der Praxis des Öffentlichen und
des Privaten durch den Einsatz von Medien, lässt sich anhand einer empirischen
Perspektive fragen.
Lässt man sich auf diese Perspektive ein, so kann es nicht um „Ö ffentlichkeit“
und „Privatheit“ als ontologische Seins-Bereiche gehen, sondern um die H erstellung
von Öffentlichkeit, die Herstellung von Privatheit und die Herstellung der
Unterscheidung/Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit. Ist es die Macht der
Medien? Sind es die kreativen Nutzer? Wie wird die Konstellation von Öffentlich-
keit und Privatheit empirisch-praktisch erzeugt? Einige Autoren dieses Bandes
haben ihre Befunde in Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
4 M. Stempfhuber und E. Wagner
geförderten Forschungsprojektes „Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0“ (WA
3374/2-1 und STE 2244/2-1) genau auf diese Frage hin erzielt. Das Forschungs-
projekt erprobte eben diesen Fokus auf die Herstellung von Öffentlichkeit und
Privatheit als programmatischen Zugang zur Erforschung von Nutzerpraktiken im
Web 2.0. Seine Ausgangsfrage zielte darauf ab, wie sich am Beispiel der derzeit in
der Nutzung zentralen Social Networking Sites (SNSs) wie Facebook, Gayromeo.de
und Patientenfragen.net die praktische Herstellung von Öffentlichkeit und Privat-
heit unter veränderten medialen Bedingungen transformiert. Der Schwerpunkt des
Projektes richtete sich auf grundsätzlich drei Themenfelder. Erstens wurde eine
empirische Analyse von Schreibpraktiken in Social Network Sites unternommen:
welche Schreibpraktiken werden sichtbar und wie stellt sich dadurch eine neue
Form der Herstellung von Publika ein? Zweitens wurden die hierbei erzielten
empirischen Befunde nicht isoliert betrachtet, sondern zeitdiagnostisch eingebettet
und an den soziologischen Diskurs angeschlossen: Inwiefern tragen veränderte
mediale Bedingungen zu einer neuartigen Fassung von Öffentlichkeit und Privat-
heit bei? Was folgt aus der empirischen Analyse des Projektes für die Soziologie
der Öffentlichkeit und der Privatheit? Und schließlich ging es darum, einen Beitrag
für die vorwiegend kulturwissenschaftlich verankerte Medientheorie zu leisten und
diese durch empirische Befunde zu hinterfragen.
Unser Projekt startete als eine ethnografische Analyse des Forschungsfeldes.
Heuristisch wurde der Feldzugang dabei zunächst in zwei Richtungen unter-
nommen. In einer Richtung wurde die Erzeugung von Öffentlichkeit in Rahmun-
gen, die traditionell eher als privat oder privatistisch gedeutet wurden, in den
Blick genommen. In einer ethnografischen Immersion in die Kommunikations-
kontexte von Facebook (siehe den Beitrag von Wagner in diesem Band) und
Planetromeo (ehemals: Gayromeo) und in Interviews mit darüber akquirierten
Informanten wurde gezielt nach möglichen Politisierungen von privater Nut-
zung von SNSs oder auffälligen Veröffentlichungsstrategien gesucht. In einer
entgegengesetzten Richtung haben wir uns der Herstellung von Privatheit in
einem (wiederum: traditionell) eher öffentlich gefassten Rahmen gewidmet. Hier
wurde zunächst die Intensivierung und Intimisierung von Beziehungen – von
Paarbeziehungen auf Dating-Seiten (Planetromeo und Grindr), aber auch von
Beziehungen und Freundschaften auf Facebook (siehe den Beitrag von Barth
in diesem Band) – fokussiert, die durch die Darstellung der eigenen Person
und durch Kommunikation vor einem zunächst noch unbestimmten Publikum
erfolgte.
Unser Forschungsplan ging von der Vermutung aus, dass es ergiebig sein
könnte, diese beiden Teilbereiche ständig aufeinander zu beziehen und sich gegen-
seitig erhellen zu lassen. Diese Intention hat sich im Verlauf der Datenerhebung
Description:Die forschungsleitende These des Sammelbandes ist, dass die Genese von Öffentlichkeit und Privatheit sich spezifischen, empirisch nachvollziehbaren Herstellungspraktiken verdankt, die jeweils an mediale Bedingungen gekoppelt ist. Diese Ausgangsthese schließt einerseits an eine soziologisch fundier