Table Of ContentNiklas Luhmann wurde
1927 in Lüneburg ge
boren — nach Kriegs
ende Studium der
Rechtswissenschaft in
Freiburg und Tätigkeit
in der öffentlichen Ver
waltung; von 1955-1962
im Kultusministerium in
Hannover - 1960/61
Studium der Soziologie
an der Harvard Univer
sität - seit 1962: Re
ferent am Forschungs
institut der Hochschule
Foto: Hartmut Wolf, Bielefeld
für Verwaltungswissen
schaften in Speyer, Abteilungsleiter an der Sozialfor-
schungsstelle in Dortmund, Promotion und Habilitation
für Soziologie in Münster — seit 1968: Ordinarius für
Soziologie an der Universität Bielefeld — seit 1974
Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der
Wissenschaften — 1975 Gastprofessor an der New
School for Social Research in New York. Einschlägige
Publikationen: „Funktionen und Folgen formaler Or
ganisation", 3. Aufl. 1976 — „Soziologische Aufklärung",
2 Bde., Bd. 1 (4. Aufl.) 1974, Bd. 2 1975 - „Politische
Planung", 2. Aufl. 1975 — „Gesellschaftsstruktur und
Semantik" 2 Bde. 1980 und 1981.
Analysen und Perspektiven
herausgegeben von
Wolfgang Bergsdorf und Warnfried Dettling
Band 8/9
Niklas Luhmann
Politische Theorie
im Wohlfahrtsstaat
GÜNTER OLZOG VERLAG MÜNCHEN — WIEN
Originalausgabe
ISBN 3-7892-7186-1
© 1981 by Günter Olzog Verlag GmbH D-8000 München 22
— Alle Rechte vorbehalten — Jeglicher, auch auszugsweiser,
Nachdruck ohne Einwilligung des Verlages ist untersagt —
Umschlagentwurf: Konrad Wacker, München — Gesamther
stellung: Franz Wedl OHG, Melk-Wien
Inhalt
I. Ziel und Wirklichkeit des Wohlfahrts
staates 7
II. Rückständige Theorie 12
III. Gesellschaftstheoretische Grundlagen . . 19
IV. Wohlfahrtsstaat: Politische Inklusion . . 25
V. Politik als selbstreferentielles System . . 33
VI. Hierarchie und Kreislauf 42
VII. Selbstbeobachtung 50
VIII. Umweltbezug 57
IX. Instabilität und Wandel 70
X. Drei Beispiele aus Wirtschaft, Erziehung
und Wissenschaft 75
XI. Funktion und Leistung 81
XII. Zwischenbetrachtung über Politikbegriffe
der politischen Theorie 89
XIII. Recht und Geld: Die Wirkungsmittel des
Wohlfahrtsstaates 94
XIV. Bürokratie 103
XV. Verwaltungspolitische Rationalisierung:
Organisation, Programme, Personal . . 112
XVI. Politische Optionen 118
XVII. Politische Verantwortung und politische
Theorie 126
XVIII. Zur Praxis 135
XIX. Zusammenfassung 143
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I. Ziel und Wirklichkeit des
Wohlfahrtsstaates
Der Wohlfahrtsstaat, der sich in den hochindustriali
sierten Zonen des Erdballs entwickelt hat, ist nicht zu
reichend begriffen, wenn man ihn als Sozialstaat auf
faßt, nämlich als einen Staat, der auf die Folgen der
Industrialisierung mit Maßnahmen der sozialen Hilfe
reagiert. Dies ist und bleibt ein wichtiges Moment seiner
Zielstruktur; aber Wohlfahrt meint und erfordert in
der gegenwärtigen Situation mehr als nur soziale Hilfe
und mehr als nur Ausgleich von Benachteiligungen.
Der klassische Begriff des Sozialstaates1) befindet sich
heute in einer Art Selbstauflösung. Einerseits treibt die
sozialwissenschaftliche Analyse das Bewußtsein der ge
sellschaftlichen Bedingtheit menschlicher Handlungsspiel
räume und menschlicher Schicksale immer weiter in die
Tiefe. Irgendwie erscheint dann alles, was dem Ein
zelnen widerfährt, als gesellschaftlich bedingt und in
sofern als unverdientes, ausgleichsbedürftiges Schicksal,
sein eigenes Handeln eingeschlossen. Es geht nicht mehr
nur, wie im 19. Jahrhundert, um „Folgen der Indu
strialisierung". Andererseits sind die besonders auffal
lenden und besonders schwierigen Sozialprobleme ty
pisch solche, in denen die Motivation der Benachteiligten
eine Rolle spielt, sei es in der Entstehung der Nachteile,
sei es für die Wirksamkeit von Hilfe2). Mit Schlag
worten wie Hilfe zur Selbsthilfe ist dies Problem zwar
benannt, aber nicht gelöst. Die Hilfe muß dann eine
*) Vgl. als eine Bestandsaufnahme Hans-Hermann Hart
wich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo,
Köln-Opladen 1970.
2) Dies Problem hat natürlich durchaus klassische Wurzeln
— so z. B. im Verhältnis von Sozialhilfe und Arbeitsmoti
vation. Siehe etwa Henry J. Aaron, Why Is Weifare so
Hard to Reform? Washington 1973, S. 35 ff. unter dem Ge
sichtspunkt eines „obstacle to reform".
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Änderung der kognitiven und motivationalen Struk
turen der Persönlichkeiten, ihres Wahrnehmens und
ihres Wollens einbeziehen, sie muß sich individuellen
Situationen anschmiegen, und das führt den Sozialstaat
technisch an die Grenzen seines Könnens und moralisch
vor das Problem der Begründung seines Eingreifens.
Wenn man von einer „Logik des Wohlfahrtsstaates"
sprechen kann, so ist diese durch ein kompensatorisches
Prinzip zu bezeichnen. Es geht um Kompensation der
jenigen Nachteile, die durch eine bestimmte Ordnung
des Lebens auf den Einzelnen entfallen3). Mit dem
Begriff der Kompensation hat man jedoch bestimmte
Erfahrungen, er tendiert zur Universalisierung, weil
je nach Problemstellung alle Unterschiede kompensiert
werden können und immer Unterschiede übrig bleiben
oder Neudefizite auftreten, die ihrerseits nach Kompen
sation verlangen. Wenn alles kompensiert werden muß,
dann auch das Kompensieren4). Begriff und Prozeß der
Kompensation werden reflexiv. Damit erreicht aber
auch die Kompetenz zum Kompensieren gedanklich und
materiell ihre Grenze "und gerät vor das Problem der
Inkompetenzkompensationskompetenz5).
3) Um nur eine typische Äußerung zu zitieren: „The essence
of this (gemeint ist: „ideal") component is compensation to
the individual for the negative consequences of a particular
Organization of life" (Berenice Madison, The Weifare State:
Some Unanswered Questions for the 1970's, Social Service
Review 44 [1970], S. 434—451).
4) Darauf läuft nach Odo Marquard auch die begriffsge
schichtliche Analyse hinaus: „Bei dieser Wanderung der
Täterschaft in bezug auf die Kompensation vom ökonomisch-
providentiellen Gott über die auf Balance bedachte Natur bis
zum emanzipatorischen Sozialisationsprogramm des absoluten
Pädagogen (perenniert) erneut ein Kompensationsproblem:
das der Kompensationsfolgeschäden-Kompensation" (Art.
Kompensation, Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 4, Basel-Stuttgart 1976, Sp. 912—918 [917]).
5) So Odo Marquard für die Philosophie. Siehe: Inkompe
tenzkompensationskompetenz: Über Kompetenz und Inkom
petenz der Philosophie, Philosophisches Jahrbuch 81 (1974),
S. 341—349.
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Mit dem Begriff der Kompensation wird, sobald er
als Anspruchsgrundlage anerkannt und praktiziert wird,
jene Eigendynamik in Gang gebracht, die vom Sozial
staat zum Wohlfahrtsstaat führt, die schließlich nichts
mehr ausnimmt und sich selbst verzehrt — wenn nicht
eben dies gesehen und die gedankliche Figur aufgegeben
wird. In dieser Situation muß dann die Frage nach der
jetzt noch möglichen Theorie des Wohlfahrtsstaates ge
stellt werden.
Neben diesen Problemen der begrifflichen Grund
lagen und der argumentativen Motorik des Wohlfahrts
staates fordern mindestens drei Erfahrungsbereiche dazu
auf, den Begriff des Wohlfahrtsstaates nicht auf den
des Sozialstaates zurückzuführen, sondern ihn allgemei
ner — und vielleicht zugleich eingeschränkter! — zu
bestimmen. Diese Bereiche hängen eng miteinander zu
sammen und belasten sich wechselseitig — auch in dem
Sinne, daß bessere Lösungen der Probleme im einen
Bereich die Probleme in anderen vergrößern können.
Ein Bereich liegt in den rasch zunehmenden Umwelt
veränderungen, die die Industriegesellschaft auslöst und
die sie nicht ohne Inanspruchnahme politischer Mittel
wird unter Kontrolle bringen können. Das gilt für das
Problem erschöpflicher Ressourcen ebenso wie für das
Problem der Belastung mit nichtverwertbaren Ab
fällen.
Ein zweiter Erfahrungsbereich ergibt sich aus den
anwachsenden Kosten des Wohlfahrtsstaates. Sie bilden
nicht allein ein tägliches Finanzierungsproblem, sondern
gefährden mit der zunehmenden relativen Größe des
Staatshaushalts im Verhältnis zu sonstigen Mitteln auch
die Differenzierung von politischem System und Wirt
schaftssystem.
Schließlich wird man davon ausgehen müssen — die
Zurechnung auf Ursachen ist hier aber besonders schwie
rig —, daß die moderne Gesellschaft mit Industrie,
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