Table Of ContentRene Nünlist
Poetologische Bildersprache
in der frühgriechischen Dichtung
Beiträge zur Altertumskunde
Herausgegeben von
Michael Erler, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen,
Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen
Band 101
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig
Poetologische Bildersprache
in der frühgriechischen Dichtung
Von
Rene Nünlist
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1998
Gedruckt mit Unterstützung der Max Geldner-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Nünlist, Rene:
Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung /
von Rene Nünlist. - Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1998
(Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 101)
Zugl.: Basel, Univ., Diss., 1996
ISBN 3-519-07650-0
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© 1998 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig
Printed in Germany
Druck und Bindung: Röck, Weinsberg
Meinen Eltern
Vorwort
Diese Untersuchung ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im
Sommersemester 1996 der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität
Basel vorgelegen hat.
Die ersten Anregungen zu dieser Arbeit gehen letztlich auf verschiedene
Lehrveranstaltungen zurück, in denen Herr Prof. Dr. J. Latacz die spärlichen
Reste der frühgriechischen Lyrik überhaupt erst 'zum Sprechen gebracht' hat.
Mit der Zeit hat sich daraus eine gemeinsame kritische Auseinandersetzung mit
den Texten und der dieser Untersuchung zugrunde gelegten Fragestellung ent-
wickelt, ohne die dieses Buch nie geschrieben worden wäre.
Für die Übernahme des Korreferats danke ich Herrn Prof. Dr. B. Seiden-
sticker und Herrn Prof. Dr. F. Graf. Ihre Anregungen und Vorschläge waren mir
in mehrfacher, insbesondere methodischer Hinsicht eine willkommene Hilfe.
Herr Prof. Dr. W. Iser und Herr PD Dr. H. Raguse haben dem Nicht-Spezia-
listen einen Weg durch das nicht immer leicht zu überblickende Feld von litera-
turwissenschaftlichen Fiktions- und Textpersonen-Modellen gewiesen, wofür
ich ihnen dankbar bin.
Herrn Prof. Dr. E. Heitsch danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die
Reihe der 'Beiträge zur Altertumskunde'. Der Druck wurde durch einen groß-
zügigen Beitrag der Max Geldner-Stiftung unterstützt.
Aus meinem Freundeskreis haben Anja Huovinen, Martin Müller, Barbara
von Reibnitz, Karin Schlapbach und Christine Walde verschiedene Teile der
Arbeit sorgfältig gelesen und eingehend mit mir diskutiert. Für die aufmunternde
Kritik sei ihnen auch an dieser Stelle herzlich gedankt.
Bei der Überprüfung der Stellen erwies sich Simone Vögtle als unschätzbare
Hilfe.
Alle genannten Personen haben die vorliegende Arbeit auf vielfältige Weise
gefördert. Wie üblich tragen sie weder die Verantwortung für die stehengeblie-
benen Fehler, noch stimmen sie den einzelnen Interpretationen durchwegs zu.
Basel, im Mai 1998 Ren6 Nünlist
INHALT
Vorwort VI
Α EINLEITUNG 1
(a) Definition von 'Bildersprache' 1
(b) Definition von 'poetologisch' 10
(c) Bestimmung des Textkorpus: Frühgriechische Dichtung 11
(d) Ist frühgriechische Dichtung Fiktion? 13
(e) Das 'Ich' im lyrischen Gedicht; die 'Epinikien-Debatte' 23
(f) Die Präsentation des Materials und ihre methodischen Implikationen 25
(g) Kurzdefinitionen wiederkehrender literarischer Motive 31
(h) Zitierkonventionen 34
Β DIE BILDER 37
1 Tiere 39
(a) Singvögel 39
(b) Adler 56
(c) Biene 60
(d) Raubtiere 63
(e) Andere Tiere 65
2 Bote 68
(a) Der Dichter als Bote 69
(b) Das Lied als Botschaft 75
(c) Der Dichter als Zeuge 80
3 Handwerk 83
(a) Allgemeine Begriffe 85
(b) Bauwesen 98
(c) Metallverarbeitung 107
(d) Textil Verarbeitung 110
(e) Vergleichung zwischen Dichter und bildendem Künstler 119
4 Heilkunst 126
5 Landwirtschaft 135
6 Jagd und Sport 142
(a) Schußwaffen und Wurfgeräte 142
(b) Kampfdisziplinen 154
7 Licht 162
vm Inhalt
8 Fließen 178
(a) Gießen 180
(b) Zerfließen -Fluß 189
(c) Durst nach Liedern 194
(d) Inspirationsflüssigkeit 195
(e) Symposion-Bilder 199
9 Blumen, Blüten und Kränze 206
(a) Blumen 206
(b) Blüte 209
(c) Blumen pflücken 212
(d) Kranz 215
10 Körperschmuck 224
11 Weg 1-zu Fuß 228
12 Weg 2 - mit dem Wagen 255
13 Weg 3 - zu Schiff 265
14 Weg 4 - fliegen 277
15 Geld 284
16 Xenia 291
17 Wecken 295
18 Honig 300
19 Einzelbilder 307
20 Appendix 1: Das Schiff der Symposiasten 317
21 Appendix 2: Inspirationsgottheiten 326
C ZUSAMMENFASSENDE AUSWERTUNG 329
(a) Die poetologischen Bilder in ihrer Gesamtheit 330
(b) Die einzelnen Dichter und ihre poetologischen Bilder 338
(c) Übergreifende Tendenzen in der Verwendung poetologischer Bilder 352
(d) Die Verbreitung der Lieder 355
(e) Fazit 362
Bibliographie 365
Indices 388
Α. EINLEITUNG
(a) Definition von 'Bildersprache'
Mit 'Bildersprache' ist das Sprechen in Bildern gemeint. Sie gehört zu den
Tropen, deren Kennzeichen das 'uneigentliche Sprechen' ist.1 Ihren Kern bilden
sprachliche Zeichen, die nicht nur ihre eigenen Denotate und Konnotate aufwei-
sen, sondern zusätzlich (und bisweilen vornehmlich) für anderes stehen. Bilder-
sprache umfaßt somit Redeformen, in denen ausdrücklich oder unausdrücklich
ein Vergleich erfolgt: Vergleiche, Gleichnisse, Metaphern, Allegorien.2 Freilich
gehören nicht alle vergleichenden Tropen zur Bildersprache. Die ebenfalls auf
einem Vergleich basierenden Tropen Metonymie und Synekdoche sind nicht
Teil der Bildersprache:3 Das für die Bildersprache entscheidende Zusammentref-
fen eigentlich nicht zueinander gehöriger Elemente ist bei ihnen nicht wirklich
vorhanden, weil sie Wörter miteinander in Beziehung setzen, die bereits in
gewisser Weise verwandt sind. Metonymie und Synekdoche bezeichnen einen
bestimmten Aspekt von etwas und stehen in dem Sinn nicht für etwas.4
'Uneigentliches Sprechen' ist vor allem in bezug auf die Metaphern zu diffe-
renzieren: Die vorliegende Studie hängt nicht der 'Substitutionstheorie' an, die
Metaphern ausschließlich als Stellvertreter eines 'eigentlich Gemeinten' ver-
1 Quint. 9.1.4: est... tropos sermo a naturali et principali significatione translatus ad aliam
ornandae orationis gratia, vel, ut plerique grammatici finiunt, dictio ab eo loco, in quo propria est,
translata in eum, in quo propria non est. Vgl. Arist. Po, 1457b6-7: μεταφορά δε έοτιν όνόμακκ
άλλοτρίου έπιφορά. Allerdings hat 'Metapher' bei Aristoteles eine weitere, ungefähr mit 'Tropus'
gleichzusetzende Bedeutung, die Einschränkung des Begriffs auf einen bestimmten Tropus ist
nacharistotelisch (Lausberg 1990, 283). Quintilians Gegensatzpaar proprius vs. non proprius lautet
bei Aristoteles μεταφοράι/κατά μεταφοράν vs. κύριον/είωθόο, z.B. Top. 123a33-36, vgl. den
Kommentar von Bywater (1909) zu Po. 1457bl.
2 Vgl. Silks Definition von 'imagery' (1974, 5): "By imagery I mean primarily metaphor, simile
and the various forms of comparatio; the tropes and schemes, that is, based on analogy and simi-
larity."
3 Vgl. u.a. Silk (1974,6); Müller (1974,4).
4 Diese prinzipielle Unterscheidung ist im Einzelfall oft nicht leicht zu treffen. Gerade zwischen
Metapher und Metonymie sind die Grenzen fließend (Lausberg 1990,295).
2 Α. Einleitung
steht.5 Statt dessen wird das einflußreiche Metaphernmodell von Richards (1965,
urspr. 1936) zugrunde gelegt. Richards geht von einem zweigliedrigen Syntagma
aus, das aus vehicle und tenor besteht (Nieraad 1977, 53-54).6
"As used by Richards, the tenor is >the underlying idea<, and the vehicle the other
idea, the one brought in from outside, so to speak, the one to which the tenor is,
in logical terms, compared." (Silk 1974,9).
"Tenor und vehicle bezeichnen zwei Wörter, deren Kontexte in einem spezifi-
schen Spannungsfeld (tension) stehen, das durch überraschend evozierte Ver-
gleichs- oder Ähnlichkeitsmomente im weitesten Sinn unter Einschluß bewußt
aktualisierter Disparatheiten zwischen den mit den Metaphemgliedem verbunde-
nen Vorstellungsbereichen konstituiert wird." (Nieraad 1977,53).
Diese Metaphernauffassung wird als 'Interaktionstheorie' bezeichnet, weil ihr
zufolge nicht der eine Begriff den andern ersetzt (Substitution), sondern beide in
einem Spannungsfeld stehen, d.h. miteinander interagieren.7
Beispiel:
II. 16.39 (Patroklos möchte in den Kampf ziehen):
ήν πού τι φόοχ Δαναοΐοι γένωμαι.
'Ob ich wohl ein Licht den Danaem werde'.
Nach der Substitutionstheorie steht φόακ ('Licht') für 'Rettung, Hilfe'. Der
Dichter habe Patroklos eigentlich sagen lassen wollen: 'ob ich wohl den Danaern
eine Rettung werde'. Dem würden die Verfechter der Interaktionstheorie mit
Recht entgegenhalten, daß der Tropus so nicht zu seinem vollen Recht kommt,
weil die Konnotate von <pococ dabei weitgehend unberücksichtigt bleiben. Das
von der Metapher hervorgerufene Affektbündel ginge auf diese Weise verloren.
Der Dichter hätte gar keine Metapher verwenden müssen.8 - Die Berechtigung
des Einwands ist evident: Der Reiz der Metapher liegt gerade im Spannungsver-
hältnis zwischen vehicle ('Licht') und tenor ('Rettung'). Diese Spannung aufzu-
lösen bedeutet, die Metapher um ihr entscheidendes Merkmal zu bringen. Eine
Metapher sagt ja immer mehr, als durch die Substitution ausgedrückt werden
kann. Daher können Metaphern in letzter Konsequenz nie erschöpfend erläutert
werden.
5 Die (mit Aristoteles beginnende) Geschichte der Substitutionstheorie und deren Grenzen sind
in geraffter Form dargestellt bei Nieraad 1977,11-14 (mit Lit.).
6 Im deutschen Sprachraum wird dafür oft die Terminologie von Weinrich benutzt (Kurz 1993,
22: 'Bildspender' für vehicle, 'Bildempfänger' für tenor), die aber den Sachverhalt weniger präzise
wiedergibt, weshalb in der vorliegenden Aibeit die englische Terminologie beibehalten wird.
7 Kurz 1993, 8, mit einer Liste der wichtigsten Vertreter in Anm. 3. - Vgl. auch den program-
matischen Titel von Silks Studie 'Interaction in Poetic Imagery' (1974).
8 Ricceur 1975, 30: "C'est l'id6e de substitution qui parait la plus lourde de consdquence; si en
effet le terme mdtaphorique est un terme substituö, l'information fournie par la mdtaphore est nulle le