Table Of ContentReiner Nachtwey
Pflege - Wildwuchs - Bricolage
Reiner Nachtwey
Pflege
Wildwuchs
Bricolage
Asthetisch-kulturelle Jugendarbeit
+
Leske Budrich, Opladen 1987
D 82
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Nachtwey, Reiner
Pflege - Wildwuchs - Bricolage: iisthet.-kulturelle Jugendarbeit 1 Reiner Nachtwey. -
Opladen:
Leske + Budrich, 1987.
ISBN-13: 978-3-8100-0637-0 e-ISBN-13: 978-3-322-87743-7
001: 10.1007/978-3-322-87743-7
©1987 by Leske + Budrich GmbH, Opladen
Gesamtherstellung: Druckhaus Beltz, Hemsbach/Bergstra8e
VORBEMERKUNG
Die vorliegende Arbeit wurde im FrUhjahr 1986 abgeschlossen und von
der RWTH Aachen als Dissertation angenommen.
Bis zur Herausgabe der Dissertation in der vorliegenden Form habe ich
geringfUgige Anderungen vorgenommen. FUr die Betreuung der Arbeit bin
ich Frau Professor Dr. Irmgard Zepf zu Dank verpflichtet.
5
INHALT
Seite
I. EINLEITUNG
Problemstellung und Skizzierung der Arbeit ••..•....•••••••••• 13
II. Erster Hauptteil
HISTORISCHE UNTERSUCHUNG
Die Entwicklunq asthetisch-kultureller Erziehungsformen in
"Hausern der offenen TUrh..................................... 29
1. Forschungsansatz zur historischen Untersuchung •......•.•..•.• 29
2. Jugendpflege, offene Jugendarbeit und musisch-kulturelle Erzie-
hung in der Zeit von 1945 - 1955 ••.•..•.......•.....••.•..•. 40
2.1 Die Entwicklung in den ersten Nachkriegsjahren ••.....•.•...• 40
2.2 Restaurative Formierung und Stabilisierung als Grundtendenzen
musisch-kultureller Erziehung in den frUhen 50er Jahren ..... 46
2.2.1 Zur Situation in der offenen Jugendarbeit ............•...••• 46
2.2.2 'Jugend' ohne Jugendkultur. Zum 'Bild' von Jugendlichen und
ihren kulturellen Praktiken •.•..........•.....•.•.......•.•• 52
3. Musisch-kulturelle Erziehung als "Einverleibung von Form" ... 55
3.1 Die Rolle von Musikpflege, Tanzpflege, Laienspiel, Werkarbeit
und bildnerischem Gestalten in der zweiten Halfte der 50er
Jahre ..............•..•.•...••....•..•.•....•••.•......•..•• 57
3.2 Revision und 'Modernisierung' musischer Erziehung .•...••.••. 62
3.3 Ein kritischer Blick auf die Entwicklung der 50er Jahre:
L. Rossners Oberlegungen zum Zusammenhang von padagogischer
Arbeit in und der Entwicklung jugendkultureller Prak-
~DT's
t i ken ..........•........•.•......•.....•••.......•........... 65
4. Exkurs
Von der Musischen Bildung zur Sozial-kulturellen Animation.
Eine exemplarische Analyse der Entwicklung asthetisch-kultu
reller Erziehung in der Jugendarbeit am Beispiel der
"Akademie Remscheid fUr musische Bildung und Medienerziehung". 70
5. Asthetisch-kulturelle Erziehung in HOTs und ihr Verhaltnis zu
Formen jugendkulturellen Ausdrucks in den 60er Jahren ....•..• 83
6. Legitimationsprobleme offener Jugendarbeit am Ende der 60er
und zu Beginn der 70er Jahre •...•.••..•....•..•.•..........•. 92
7. Offene Jugendarbeit und kulturpadaqogische Praxis in den 70er
und frUhen BOer Jahren ..................................••.•. 99
7
Seite
7.1 Kulturpadagogische Konzeptionen als neuer Orientierungs-
rahmen •.•.•••...••••........••.••••..•..••..•.••••. •.••...... . 102
7.1.1 Exkurs
Zur Veranderung und Erweiterung des Kulturbegriffs und des
Begriffs des .•...••.•••.•.•••..••...•• ,......... 102
~sthetischen
7.1.2 Konzeptionen kultureller Arbett .•.•••.....•••.....•..••....•. 105
7.2 Die Entwicklung in der Jugendarbeit ..•....••.••..••.•.•...•.. 111
7.3 Konstanz und Wandel padagogischer Praxis.
Ein Gepsrach Uber 20 Jahre Werk- und Kunsterziehung in "Hausern
der offenen TUr".............................................. 121
8. Eine abschlieBende Problematisierung •....••.••.....•••...•... 144
8.1 Zum Prinzip der Offenheit •••.••..••.•.•.•.•..•..•.•.••..•.•.. 144
8.2 Zum Verhaltnis von Habitus und padagogischer Praxis •••..•••.. 149
9. Zusammenfassung der Ergebnisse 154
III. Zweiter Hauptteil
ETHNOGRAFISCH-SYNCHRONE UNTERSUCHUNG
Formen aktueller asthetisch-kultureller Praxis Jugendlicher in
der offenen Jugendarbeit aus der Sicht eines Kulturarbeiters 161
1. Entwicklung eines Untersuchungsansatzes zur ethnografisch-
synchronen Untersuchung ••.....•..••.•••.•••••••••.•...•••..•. 161
1.1 Subkultur und Gegenkultur: Eine begriffliche
Ju~e~d~ultur.
Prazlslerung •••.••.•••.••..••.••••••••••.••••••.••••..•...... 161
1.2 Veranderte Voraussetzungen zur Entwicklunq jugendlicher Kultu-
ren in der Nachkriegszeit •.•••••.•..•••••••••••••.•••.•••.... 166
1.3 Zum Verhaltnis von Adoleszenz und Kultur ••..••.•••...•.•...•. 168
1.4 Bricolage als stilUbergreifende Struktur juqendkultureller
Praxis....................................................... 172
1.5 Stilbildungen als Formen asthetisch-kultureller Praxis Jugend-
1 icher •••••••••••.•••••.•••••.•••••••••••••••••••••••.....•.. 176
1.6 Entwicklungstendenzen sub- und gegenkultureller Stilbildun-
gen ••••.•••••.•.•.••.•.••••.•..••.•••.••••••.••••••••..••.•.• 180
2. Zum Verhaltnis von Alltag. Kultur und Alltagsasthetik •..•.••• 183
3. Methodische Oberlegungen zur ethnografisch-synchronen Metho-
de ••••.•••••.••.•••••.•••••••.•••••••.••.•••••.••••.••.•••.•• 190
8
Seite
3.1 Ethnografische Zugangsweise .•••••••••••••••••.•.••••••••••••• 191
3.2 Zur Funktion und Interpretation von Bildern aus dem Alltag
Jugendl i cher ••••••••••••.•.••••.•••.•••..••.••.••.•....•••••• 194
3.3 Erzahlung und Collage als Darstellungsformen •••••...••••••••• 198
3.4 Bemerkungen zum Quellenmaterial 199
4. Asthetisch-kulturelle Praktiken zweier Jugendcliquen •.....••• 203
4.1 Ein Blick Uber die Grenzen des Untersuchungsfeldes.
Zur kulturellen Praxis einer SchUlerclique .••.....•..•.•••.•• 203
4.1.1 Stil und visuelle Selbstdarstellung der Clique •....•..••.•••• 204
4.1.2 Die Bedeutung von Originalitat und Kunstorientierung •.••••••. 218
4.2 Asthetische Praxis am Beispiel einer Fanclique. "AC/DC",
"Piranhas" und die Htille. Eine Entdeckungsreise in eine un-
bekannte Bilderwelt ..•.••.•.•.•••••••.••.•..•.••..•••.•.••••• 219
4.3 Exkurs
Jugendliche als Bildtrager: Die Praxis des Accessoire-
gebrauchs •••..•...............••.....••.•••.....•••.•.••.•... 236
5. Bilder an Wanden. Zur Praxis der Wandbemalung ..••....••••••.• 239
6. Formen asthetisch-kultureller Prozesse im Spannungsfeld von
offiziellen und heimlichen Wandmalereien in HOTs.
Zwei Beispiele .•••..•.••........•.••..••••.••..••..•....•..•. 247
6.1 Die Zersttirung der Einheitlichkeit. Ein Beispiel zum Ver-
haltnis von Raumgestaltung und visueller Bricolage .••.••.•••• 247
6.2 Krieg der Bilder ............................................. 254
7. Das Bild vom Schlaraffenland und seinem wundervollen Baum.
Zum Gebrauch eines Symbolzusammenhangs in Jugendzentren •....• 257
8, Abmalen. Beobachtungen und Oberlegunqen zum Verhaltnis von
Vormachen und Nachmachen .••......•.•..••....•....••.•..•••.•. 261
9. Das Wandbild vom Auge und die Augen in der Disco .••......•.•• 274
10. AbschlieBende Problematisierung .....••..•................•... 281
11. Zusammenfassung der Ergebnisse der ehtnografisch-synchronen
Untersuchung .•.•••.•.•......•.•.•.••.........•..•.••.....•..• 288
9
Seite
IV. SCHLUSS
ROCKBLICK UNO AUSBLICK .•.•.•••.•.•••........•......•...•.•.•. 293
ANMERKUNGEN •••.•......••....•..••..............••...........• 301
LITERATURVERZEICHNIS 340
ABBILDUNGSNACHWEIS .•.......••.....••.••........•..•....••.... 358
10
VORWORT
1971 gab Hans Magnus Enzensberger e1ne Anthologie von Kinderreimen un
ter dem Titel "Allerleirauh" heraus: In der Einleitung spricht er von
einer "Allgegenwart der Poes1e", deren Unzerstorbarkeit und deren za
hes Leben er da entdeckt, wo es am elementarsten, in einfachster Form
und im gewohnlichen Alltag auftritt: da, wo Kinder auf der StraBe oder
in Hinterhofen ihren rythmischen Singsang, ihre Verse und Lieder beim
Kreis- oder HUpfspiel Uber Generationen hinweg tradieren. Mehr als in
reprasentativen Schaustellungen offiziell gehandelter und dargebotener
Kunst wird in diesen versteckten Orten des Alltags erkennbar, wie der
kUnstlerische Sinn - eben in der "Allgegenwart der Poesie" - poten
tiell Ausdrucksvermogen eines jeden Menschen ist; ja, Enzensberger
geht so weit, daB er in Bezug auf den poetischen Sinn von einem "Le
bensmittel" spricht. ~hnlich auBerten sich auch die Entdecker der "Art
brut", wie z.B. J. Dubuffet, der den originaren, unverbrauchten kUnst
lerischen Gestus da auffindet, wo man Kunst nicht vermutet: in den
psychiatrischen Anstalten, an den Mauern der Vorstadte in Form von
Graffiti, oder dort, wo sich Kinder und Jugendliche weitgehend unge
stort artikulieren konnen.
Nicht nur die Schonheit, UrwUchsigkeit und der Fantasiereichtum
dieser Formen machten die ersten Sammler solcher Bilder betroffen,
sondern auch die untrennbar mit der Starke im kUnstlerischen Ausdruck
verbundene Widerstandskraft gegen Vereinnahmung und Bevormundung, ge
gen Gleichschaltung jeglicher Art.
Seit der Sammlung der Kinderreime durch H.M. Enzensberger und
seit der Konstatierung einer "Art brut" sind Jahre vergangen und
langst sind diese Desiderate ungezahmter, wildwUchsiger Ausdrucksfor
men yom Zugriff des Marktes, d.h. der Vermarktung, erfaBt.
Dennoch laBt sich ein derartig spontanes Ausdrucks- und Darstel
lungsbedUrfnis immer (noch) in den Spiel-, Such- und Widerstandbewe
gungen von Kindern und Jugendlichen finden und deuten - vielfach durch
11
die Bilderwelt der Reklame und des Konsums hindurch, die Jugendliche
eben so zu "knacken" verstehen wie andere von Erwachsenen vorgegebene
Technologien. So zahlebig die wildwUchsige asthetisch-kUnstlerische
Ausdrucksgebarde sein mag, so verletzlich ist sie gegenUber dem ver
einnahmenden lugriff und so sehr entzieht sie sich dem ausschlieBlich
quantifizierenden diskursiven, wissenschaftlichen Blick.
Reiner Nachtwey spUrt in der vorliegenden Untersuchung die noch
nicht "besetzten" Freiraume der Jugendlichen mit Entdeckerlust auf,
die auch als eine Art Selbstentdeckung gelesen werden kann. Ohne den
Gestus padagogischer Besserwisserei beschreibt er das Spannungsfeld
zwischen jugendlichem 'Eigen-Sinn' und EinfluBnahme durch Erwachsene
im vorgegebenen Rahmen einer Institution, die nach dem Krieg als
Lernort fUr demokratisches Verhalten konzipiert war: den "Hausern der
offenen TUr". Reiner Nachtwey beschreibt und analysiert nicht als
Voyeur oder nur distanzierter Beobachter. Sein empathisches Sehen und
kUnstlerisches Denken, das durch eigene kUnstlerische Tatigkeit ent
wickelt wurde, in Verbindung mit wissenschaftlich diskursiver Analyse
machen es moglich, das Phanomen asthetischer Praxis Jugendlicher ins
Blickfeld zu bringen und neue Raume fUr ihre Entfaltung aufzuzeigen.
Ihre Prasentation in Wort und Bild unter Einbeziehung soziologischer,
padagogischer und auch historischer Fragestellungen, laBt die vorl ie
gende Arbeit zu einem Amalgam werden zwischen kUnstlerischer und wis
senschaftlicher Reflexion, wie sie nur aus existentiell erfahrener
Alltagssituation hervorgebracht werden kann.
Die so dargestellte und reflektierte asthetische Praxis erscheint
zum Aufbau der Person - hier des Jugendlichen - wie zum Aufbau der li
vilisation als lebensnotwendig und in der existentiellen Gebundenheit
an die Alltagssituation wegweisend fUr zukUnftige kulturelle und
kUnstlerische Arbeit, die nicht mehr eine sterile "Apartheidskunst"
sein kann, wie dies Arnulf Rainer in seinem Interview in der TAl vom
16.12.1986 formuliert:
"Die Theorien der Reinheit des Ungemischten und der Abgeschlos
senheit sind heute schon auf der anthropologischen Ebene unmog
lich. Heute stoBen Leute aus den verschiedenen Kulturen, aus
den verschiedenen Weltenden zusammen. Die Welt wird ein Schmelz
tiegel, die Kultur ein Amalgam.
Das Apartheidsdenken, also daB der einzelne Stil, die ein
zelnen Formen oder auch die einzelnen Gesichter von Menschen
reingehalten werden mUssen, geht heute nicht mehr, einfach,
weil die Real itat ganz anders ist."
Irmgard lepf
12