Table Of ContentÖffentliche Vernunft?
Edition
Wissenschaft & Demokratie
Herausgegeben von
Wilfried Hinsch
Band 1
Öffentliche Vernunft?
Die Wissenschaft in der Demokratie
Herausgegeben von
Wilfried Hinsch und Daniel Eggers
ISBN 978-3-11-061420-6
e-ISBN (PDF) 978-3-11-061424-4
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061452-7
ISSN 2629-6292
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-Non Commercial-No Derivatives
4.0 Licence. For details go to http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.
Library of Congress Control Number: 2019949328
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 Wilfried Hinsch, Daniel Eggers, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Umschlagabbildung: © W. Hinsch
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
www.degruyter.com
Geleitwort
Wissenschaft in der Demokratie – das Thema des vorliegenden Bandes berührt
allgemein die Frage nach der Rolle und Funktion von Wissenschaft in der Ge-
sellschaft.
InDeutschlandistdieFreiheitundUnabhängigkeitvonWissenschaftrecht-
lich und institutionell verankert – etwa durch Artikel 5 des Grundgesetzes und
durch das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen. Erst auf dieser Basis kann
Wissenschaft ihren Zweck ohne Einschränkungen erfüllen, nämlich freie, nur
demErkenntnisgewinnverpflichteteForschungundLehredurchzuführen.Sieist
insbesondere rechtlich nicht dazu verpflichtet, ihr Tun ökonomisch oder durch
Nützlichkeitsnachweisezurechtfertigen.
Allerdings erwartet die Gesellschaft zu Recht, dass die Wissenschaft ihre
ErkenntnisseundihrWissenzurVerfügungstellt,etwafürBildung,Ausbildung
und Weiterbildung, bei technischen und medizinischen Innovationen und als
BasisfürdenDiskursüberwichtigegesellschaftlicheHerausforderungen.
Der Kontrast zwischen der Unabhängigkeit der Wissenschaft und den ge-
sellschaftlichenErwartungengegenüberderWissenschaftistnichtimmerspan-
nungsfrei und muss stets reflektiert und neu austariert werden. Insbesondere
große gesellschaftliche Herausforderungen stellen eine Bewährungsprobe dar,
denndieGesellschafterwartetsubstanzielleBeiträgezuderenBewältigung.Da-
bei überwiegt allerdings oft ein instrumentelles Verständnis von Wissenschaft,
das von ihr die Lieferung passgenauer Lösungen erwartet. Die inhärente Kom-
plexität von Klimawandel, Welthunger oder wachsender Ungleichheit macht
einfache Lösungen jedoch nahezu unmöglich. Enttäuschungen sind vorpro-
grammiert.Mehrnoch:UnscharfeodervermeintlichwidersprüchlicheAussagen
vonForscherinnenundForschernwerfendieFragenachderGlaubwürdigkeitund
Leistungsfähigkeit von Wissenschaft auf und bekräftigen den Eindruck von
WissenschaftundForschungalsweltfremdundwenignützlich.
GenauhiersetzendieAngriffederPopulistenan:Typischerweiseunterstellen
sie, dass ‚die da oben‘ nicht wissen,was ‚die normalen Menschen‘ wollen. Sie
malen das Bild einer entrückten Elite, die nicht zum Wohle der Allgemeinheit
handelt,sondernvornehmlichzumeigenen.HierzupräsentierensiesichalsAl-
ternative. Das Bild der ‚abgehobenen‘ Wissenschaft im Elfenbeinturm fügt sich
darinnahtlosein.AndersalsfrühertrifftdasheuteoffenbareinenNerv.
Forscherinnen und Forscher müssen sich deshalb fragen,ob sie der Gesell-
schaftgegenüberangemessenagieren.Allgemeingehtesdarum,regelmäßigund
verlässlichüberdaseigeneTunzuberichten,überneueErkenntnisseund Mög-
lichkeiten – aber auch über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese
OpenAccess. ©2020Axel Freimuth, Ulrich Radtke, publiziertvon De Gruyter. DiesesWerkist
lizenziertunter der Creative CommonsAttribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0.
https://doi.org/10.1515/9783110614244-001
VI Geleitwort
AufgabenimmtderWissenschaftniemandab.EswirdZeit,sieanzuerkennenund
ernstzunehmen.Inunsererimmerkomplexeren,technologie-intensivenWeltist
Wissenschaftmehrdennjeetwas,dasalleangeht.Umsowichtigeristdieange-
messeneKommunikationüberdenStatusvonWissenschaft,ihreAufgabenund
Ziele.
MitdemWissenschaftsforumzuKölnundEssenhabenessichunserebeiden
Universitäten zum Ziel gesetzt, die öffentliche Debatte über die Rolle der Wis-
senschaftinder Gesellschaftmitzugestalten.Im Fokus stehen dabeisowohlder
Austausch mit den relevanten gesellschaftlichen Akteuren als auch die wissen-
schaftliche Selbstreflexion. Die dort und anderswo vorgebrachten Diskussions-
beiträge und Impulse versammelt die neue Reihe Edition Wissenschaft & De-
mokratie,diedervorliegendeBanderöffnet.
UnserherzlicherDankgiltProfessorWilfriedHinsch undseinenMitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern sowie allen Unterstützerinnen und Unterstützern des
Wissenschaftsforums aus den Universitäten Duisburg-Essen und Köln. Ein be-
sondererDankgiltzudemderStiftungMercatorundderFritzThyssenStiftungfür
ihregroßzügigeFörderungdesWissenschaftsforums.
Wir hoffen und wünschen,dass der Band und das Wissenschaftsforum Ge-
legenheit geben, miteinander ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu
bleiben – und dabei gerne auch in der Sache und über die Sache zu streiten.
Prof.Dr.Dr.h.c.AxelFreimuth Prof.Dr.UlrichRadtke
RektorderUniversitätzuKöln RektorderUniversitätDuisburg-Essen
Inhalt
Wilfried Hinsch, Daniel Eggers
Einleitung 1
Politik & Vertrauen
E. Jürgen Zöllner
Die Verantwortung der Wissenschaft 11
Krista Sager, Gert G. Wagner
Wissenschaft unter Druck: Vertrauensverlust oder Zeichen gewachsener
gesellschaftlicher Relevanz? 21
Silja Vöneky
Wissenschaftliche Politikberatung 35
Kommunikation
Nicola Kuhrt
Wissenschaftsjournalismus zwischen Utopie und Netzpessimismus 49
Daniel Eggers
Kontrolle ist besser 61
Annette Leßmöllmann
Hochschulkommunikation und Gemeinwohl 73
Orte offener Wissenschaft
Wilfried Hinsch, Lukas H. Meyer
Universitäten 87
VIII Inhalt
Maike Weißpflug, Johannes Vogel
Museen 105
Über die Autoren 119
Wilfried Hinsch, Daniel Eggers
Einleitung
Dervorliegende ersteBandderEdition Wissenschaft &Demokratie isteineVer-
öffentlichung des Wissenschaftsforums zu Köln und Essen. Er geht auf einen
Workshop im März 2018 in Essen zurück. Das 2016 in Köln gegründete Wissen-
schaftsforum soll dem freien Austausch und der Selbstverständigung von Wis-
senschaft,ÖffentlichkeitundPolitikdienen.Universitätenmüssensich,sounsere
Überzeugung,nebendenAkademienundForschungsorganisationenmitderfür
siecharakteristischenStimmenvielfaltandenkontroversenundgesellschaftlich
zunehmendwichtigenDebattenbeteiligen.
Die Edition Wissenschaft & Demokratie ist eine neue Reihe des Walter de
GruyterVerlages,inderErgebnisse–undZwischenergebnisse–derDiskussionen
imWissenschaftsforumveröffentlichtwerden.Sieistdarüberhinausfür alleof-
fen, die sich mit Beiträgen und neuen Ideen zu Problemen im Verhältnis von
Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik zu Wort melden wollen. Die einzelnen
BändesindalsTaschenbücherimBuchhandelerhältlich.Siewerdenaußerdem
im Open Access auf den Webseiten des Verlags (www.degruyter.de) und des
Wissenschaftsforums (www.wissenschaftsforum.uni-koeln.de) kostenlos zu-
gänglichsein.
GedanklicheKlarheit,eineverständlicheSpracheundinnovativepraktische
Perspektiven sind naheliegende Anforderungen an eine Buchreihe mit wissen-
schaftspolitischen Ambitionen. In einem von Science and Technology Studies,
Luhmann’scher Systemtheorie und Foucault’scher Gouvernementalité geprägten
DiskursüberdieWissenschaftsindsiejedochnichtselbstverständlich.Ohnedas
Bemühen, sie zu erfüllen, erscheint es freilich von vornherein vergeblich, in
praktischerAbsichtüberWissenschaftundDemokratiezuberaten.
Die politische Ethik der Demokratie beruht darauf, dass Menschen ver-
nunftbegabteunderkenntnisfähigeWesensindunddasssiegrundsätzlichüber
alle für eine gerechte Gesellschaft nötigen Anlagen und Fähigkeiten verfügen.
Ohne dieseAnnahme würdedasIdealeiner politischen Gesellschaft von Freien
und Gleichen kaum einleuchten. Die Vorstellung kollektiver Selbstbestimmung
erschiene ohne den Glauben an eine in hinreichendem Maße von vernünftigen
ErwägungengeleitetedemokratischeÖffentlichkeiteigentümlichbodenlos.
Für moderne, durch Wissenschaft und Technik geprägte Gesellschaften
konkretisiertsichdieVorstellungeinervon„vernünftigen“Erwägungengeleiteten
ÖffentlichkeitimSinneeiner„wissenschaftlichinformierten“Öffentlichkeit.Dies
bedeutet nicht, dass im Lichte der Erfolge der empirischen und historischen
Wissenschaften in den vergangenen 300 Jahren nur mehr empirisch-wissen-
OpenAccess. ©2020 Wilfried Hinsch,Daniel Eggers, publiziertvon De Gruyter. DiesesWerk
ist lizenziertunter der CreativeCommons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0.
https://doi.org/10.1515/9783110614244-002
2 WilfriedHinsch,DanielEggers
schaftliche Erkenntnisse vernünftig wären. Die Entwicklung der normativen
Disziplinen und insbesondere der Gerechtigkeitstheorie seit Ende des Zweiten
Weltkriegs zeigt, dass Werturteile und Normvorstellungen nicht grundsätzlich
anders als empirisch-wissenschaftliche Aussagen einer rationalen Begründung
undÜberprüfungzugänglichsind.Undnatürlichgibtesnicht-wissenschaftliche
Einsichten und Wissensformen (technische Fähigkeiten, Faustregeln, lokales
Wissen, ethische Überzeugungen, ästhetische Bewertungen), die vollkommen
vernünftig,rationalbegründetundimÜbrigenpraktischverlässlichsind.
DieNotwendigkeiteiner„wissenschaftlichinformierten“Öffentlichkeitergibt
sichdaraus,dassinderWelt,inderwirleben,eingroßerAnteildervernünftigen
Erwägungen,diefürFragenderpolitischenGerechtigkeitunddesGemeinwohls
relevantsind,indereinenoderanderenFormaufwissenschaftlichbegründeten
Erkenntnissenberuhen.
AusdiesemGrundführenmangelndeVertrautheitmitderWissenschaftund
einMangelanVerständnisfürwissenschaftlicheDenk-undArbeitsweiseninder
ÖffentlichkeitnichtnurzuProblemenfürdieWissenschaftundihreEinrichtun-
gen. Sie stellen auch die Überzeugungskraft des Ideals demokratischer Selbst-
bestimmung in Frage. Demokratische Gleichheit kann nicht bedeuten,dass die
Unwissenheit des einen ganz genauso gut ist wie das Wissen der anderen,wie
schon der russisch-amerikanische Biochemiker und Science Fiction Autor Isaac
AsimovinseinerDiagnoseeinesvermeintlichdemokratischen„KultesderIgno-
ranz“indenVereinigtenStaatenAnfangder1980erJahrekritischanmerkte.Die
Probleme beginnen mit der fehlenden Bereitschaft, in einzelnen Bereichen die
Existenz wissenschaftlicher Expertise anzuerkennen und zur Grundlage des ei-
genen Handelns zu machen, etwa wenn es um Vorsorgeimpfungen gegen Epi-
demien geht oder um emissionsarme Technologien zur Eindämmung des Kli-
mawandels; und sie reichen bis zum vollständigen Vertrauensverlust in
wissenschaftliche Erkenntnis und zur grundsätzlichen Infragestellung des Un-
terschiedszwischenTatsachenundTäuschungen.
Religiöser Fundamentalismus, ein amtierender US-Präsident, der den ge-
fährlichen Klimawandel leugnet und Fake News im Internet sind bedrohliche
PhänomeneundgebengewissGrundzumehralsgelegentlicherBesorgnis.Wis-
senschaftskritische und rationalitätsfeindliche Überzeugungen und Einstellun-
gensindweithinverbreitet, nicht nuruntervermeintlich Ahnungslosenvorden
TorenderWissenschaft,sondernbisindiegeistes-undsozialwissenschaftlichen
FakultätenundInstitutehinein.
Esistallerdingsnichtausgemacht,dassdasVertrauenindieWissenschaftin
Deutschlandundanderswotatsächlichschwindet.Umfrageergebnisseundauch
die steigende Nachfrage nach wissenschaftlicher Politikberatungsprechen eher
dagegen, wie Krista Sager und Gert G.Wagner in ihrem Beitrag herausstellen.